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1. Kapitel

»Wann?«, fragte der Mann leise.

Er sah sie an, sein Lächeln war voller Zärtlichkeit.

»Wann werden wir heiraten?«

Unmerklich versteifte sich Olivias Haltung, sie wandte um eine Winzigkeit den Kopf ab.

»Musst du wieder davon anfangen?«

Es klang nicht schroff, sie sagte das mit weicher Stimme, und ihr Mund, der noch rot war von Pauls Küssen, lächelte auch dabei.

Paul Leitner drückte das schlanke, schöne Mädchen fester an sich.

Er war von kräftiger Statur, und sie fühlte sich schmal in seinen Armen und an der breiten Brust an.

»Ich werde dich das immer wieder fragen, denn es gibt nichts Wichtigeres für mich. Ich will, dass du meine Frau wirst, damit dich mir kein anderer mehr fortnehmen kann!«Ich will.

Diese beiden Worte kamen Paul, ihm selbst sicher unbewusst, oft über die Lippen.
Eine kleine Nachdenklichkeit lag in Olivias Augen, als sie ihn wieder ansah.

Sie kannte jeden Zug in diesem energischen, ausdrucksvollen und sehr männlichen Gesicht.

Sie wusste, dass seine Stimme befehlsgewohnt klang, wenn er Anordnungen traf, dass sein Blick kühl und zwingend wurde, wenn er anderer Meinung war als sein Partner und jenen davon überzeugen wollte, dass diese, seine Ansicht die einzig richtige war.

Aber ohne solch eine Willensstärke hätte Paul es wohl nie so weit gebracht.

In zehn, zwölf Jahren hatte er aus der Schreinerwerkstatt seines Vaters eine Möbelfabrik geschaffen und war jetzt Chef eines blühenden Unternehmens mit mehreren Hundert Angestellten.

Und mit derselben Beharrlichkeit, mit der er seine beruflichen Ziele verfolgt, sprach er nun davon, sie heiraten zu wollen, obwohl er eigentlich merken musste, dass sie innerlich dazu noch nicht bereit war.

»Wie siehst du mich an, Olivia, was denkst du?«

»Ich denke«, antwortete sie langsam, »dass du sehr besitzergreifend bist, Paul.«

Abrupt ließ Paul sie los, seine Stirn rötete sich.

Auch das kannte Olivia an ihm: diesen jähen Stimmungsumschwung, wenn er sich irgendwie kritisiert fühlte - obwohl ihre Bemerkung nicht als Kritik gemeint war.

»Ist es nicht natürlich, dass man die Frau ganz besitzen will, die man liebt?«, fragte er heftig.

»Ich glaube, einen Menschen kann man nie ganz als seinen Besitz betrachten, Paul«, gab Olivia ruhig zurück.

»Er ist schließlich kein Gegenstand, sondern ein Wesen mit eigenen Gefühlen, Ansichten und Gedanken.«

»Das sind Wortklaubereien«, entgegnete Paul Leitner anmutig.

»Oh nein, mein Lieber, so einfach, ist das nicht abzutun -»

Aber Paul ließ sie nicht ausreden.

»Ich kenne den Grund, weshalb du mir ausweichst, wenn es um diese Frage geht. Du kannst den anderen nicht vergessen!«

Sein Blick brannte auf ihrem Gesicht, das plötzlich um einen Schein blasser geworden war.

Olivia wandte sich ab, um diesem durchdringenden Blick zu entgehen.

Sie legte die Arme über der Brust zusammen, eine Geste, als wolle sie sich vor ihm verschließen.

»Ich hätte dir nicht davon erzählen sollen«, sprach sie leise, wie zu sich selbst.

»Er ist tot«, sagte Paul hart.

»David Danken ist tot, vor zwei Jahren abgestürzt über dem afrikanischen Busch. Willst du noch jahrelang mit seinem Schatten leben?«

Sekundenlang blieb es still in dem modern und behaglich zugleich eingerichteten Wohnraum.

Olivia blickte verloren zu dem breiten Fenster hinaus, das auf eine ruhige, mit Lindenbäumen gesäumte Straße ging. Vom tosenden Verkehr der nahen City war hier nichts zu merken.

Das Ticken der Uhr auf dem Wandbord übertönte als einziger Laut diese Stille.

Endlich drehte Olivia ihr Gesicht wieder Paul zu.
Mit beherrschter Miene, nur die Augen waren um einen Schein dunkler als vorher.

»Wenn ich mit einem Schatten lebte, wie du das ausdrückst, dann wäre ich nicht mit dir zusammen«, sagte sie deutlich und setzte sich in den Sessel.

Ihre Hand fuhr über die hölzerne Lehne. Sie trug noch den Smaragdring, den David ihr geschenkt hatte.

Sein materieller Wert war nicht sehr groß, sie hatte wertvolleren Schmuck, und doch kam es ihr manchmal vor, als sei es das Kostbarste, das sie besaß.

Ihr Kopf sank herab.

In gewisser Weise hatte Paul doch recht, aber um nichts in der Welt würde sie es vor ihm zugeben.

Das war etwas, das ihr ganz allein gehörte.

Dem Mann tat es leid, dass er heftig geworden war. Er trat zu ihr und berührte ihr glattes, honigblondes Haar, ließ seine Hand in ihrem gebeugten Nacken liegen.

»Verzeih«, murmelte er.

»Ich bin unduldsam, ich weiß. Geduld war nie meine Stärke.«

Er seufzte.

»Ich bin überhaupt ein ganz unausstehlicher Patron, nicht wahr?!«

»Ach, Paul ...«

Unwillkürlich musste Olivia ein wenig lächeln.

Sie sah zu ihm hoch und rieb ihre Wange an seinem Handgelenk.

»Streu jetzt keine Asche auf dein Haupt. Ich mag dich schon so, wie du bist. Nur bedränge mich bitte nicht.«

»Gut gut, kein Wort mehr über das Thema«, ging Paul auf ihren Ton ein.

»Ich werde weiterhin mein einsames Frühstück in meiner Junggesellenwohnung einnehmen und gehorsam warten, bis meine Liebste einmal Zeit für mich hat.«

Olivia richtete sich auf.

»Deine gute Frau Eigner verwöhnt dich wahrscheinlich mehr, als eine berufstätige Ehefrau es jemals tun könnte«, meinte sie.

»Und du kannst dich auch nicht darüber beklagen, dass ich zu wenig Zeit für dich hätte!«

»Nein.«

Pauls Stimme klang ungewöhnlich sanft.

»Aber mir ist es immer noch nicht genug.«

»Du bist eben ein Unersättlicher«, lächelte Olivia.

»Ich liebe dich, das ist es«, hielt Paul ihr ernst entgegen.

»Ich habe das noch zu keiner Frau gesagt, weil mir die Worte immer zu abgenutzt erschienen. Jedes Schlagersternchen plärrt sie, und oft genug heißt es Liebe, wenn etwas ganz anderes gemeint ist. Aber wenn man es wirklich empfindet, dann gibt es doch keinen anderen Satz dafür als diesen seit Jahrtausenden gültigen ...«

Es war selten, dass Paul so sprach.

Er war ein harter Geschäftsmann geworden, und einem solchen gingen zarte Worte nicht leicht über die Lippen.

Olivia fühlte sich fast beschämt davon. Bei ihr war es längst kein so volles Gefühl, empfand sie dunkel.

Wie um ihre Verwirrung zu verbergen, bot sie ihm ihren Mund.

Der Mann nahm es als eine Antwort, die ihn beglückte, und zog sie voll leidenschaftlichen Verlangens in seine Arme.

Nein, man konnte nicht mit einem Schatten leben, nicht, wenn man vierundzwanzig Jahre jung war und die Liebe kennengelernt hatte.

Und doch - würde sie David jemals vergessen können?
Olivia dachte an ihn, als sie in dieser Nacht aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte.

Paul war gegen Mitternacht gegangen, sie war allein, und doch nicht allein.

Die Erinnerung zauberte Bilder von lebendiger Leuchtkraft vor ihre Augen, die Zeit drehte sich zurück, und alles war wieder wie damals, als David zum ersten Mal vor ihr stand.

Hochgewachsen, schlank und blond, mit hellen, blitzenden Augen und einem sieghaften Lächeln um den Mund.

Dieser schöngeschnittene Mund, der fast zu empfindsam war für das kühne Piratengesicht.

Viel später, als sie ihn näher kannte, wusste sie, dass er verletzlich war.
Zunächst machte er den Eindruck eines Mannes auf sie, der Probleme erst gar nicht aufkommen ließ, sondern sie mit leichter Hand hinwegzauberte.

So stand er damals vor ihr im Büro mit einem Manuskript unter dem Arm.

Es war ein trüber Tag im November, das Rigenius-Verlagsgebäude lag in grauen Nebel gehüllt, und in allen Räumen brannte das Licht.

David Danken schien höchst erstaunt, eine junge Dame hinter dem breiten Schreibtisch zu sehen.

Er hatte wohl ein älteres, bebrilltes Wesen erwartet.

»Jetzt kann ich verstehen, warum dieser Zerberus da draußen Sie so streng bewacht«, sagte er mit einer Kopfbewegung zum Vorzimmer hin, wo Frau Heinrich unnachgiebig jeden unangemeldeten Besucher fortschickte.

Diesem Jung-Siegfried hatte sie aber offenbar nicht widerstehen können.

»Es könnte Sie jemand entführen«, hatte er spitzbübisch hinzugefügt, und sie nicht gerade aufdringlich, aber doch ziemlich ungeniert betrachtet.

»Ich bin Olivia Rigenius«, entgegnete sie knapp, ohne auf seine scherzhafte Bemerkung einzugehen.

»Was wünschen Sie?«

»Ich habe ein Buch über die Tiere in der afrikanischen Wildnis geschrieben, und ich möchte das Manuskript Ihrem Verlag zur Prüfung anbieten«, erklärte er, nun ganz sachlich.

Olivia war überrascht.

»Sie sind Tierforscher?«, fragte sie interessiert.

»Ja. Der Busch ist meine zweite Heimat, sozusagen. Ansonsten bin ich in England zu Hause. Zurzeit habe ich mich allerdings hier in der Wohnung eines Freundes häuslich eingerichtet.«

David lächelte.

»Ich stehe Ihnen also jederzeit zu näherer Besprechung zur Verfügung, Frau Rigenius.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile über den Inhalt seines Buches.
Olivia musste sich Mühe geben, sachlich und unbefangen zu bleiben.

Dies war nämlich gar nicht so einfach, wenn das Herz rascher klopfte, weil Funken zwischen ihnen hin- und herzuspringen schienen, sobald ihre Blicke sich begegneten.

Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben fühlte Olivia sich von der Nähe eines Mannes verwirrt.

Aber es war keineswegs unangenehm ...

Als er dann gegangen war, kam ihr das Büro kalt und trist vor.

Es war, als hätte David Danken für eine knappe halbe Stunde Wärme und Helligkeit hineingebracht und beides mit sich wieder fortgenommen.

Aber ein kleines, selbstvergessenes Lächeln und der raschere Schlag des Herzens blieben. Ja, so hatte es angefangen!

Sie las das Manuskript fast, ohne aufzusehen, und sie hatte noch heiße Wangen davon, als sie es ihrem Vater brachte.

»Lies das, Papa«, sagte sie.

»Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir einen neuen Bestseller-Autor für unseren Verlag gewonnen.«

»Da bin ich aber gespannt«, meinte Jürgen Rigenius, ein schlanker, eleganter Mann mit silberweißen Haaren.

»Meistens kann ich mich ja auf deine Meinung verlassen, denn du hast ein Gespür dafür. Sonst säßest du schließlich auch nicht bei mir im Lektorat!«

Das Buch, das so fesselnd und interessant wie ein Abenteuerroman geschrieben war, wurde tatsächlich ein großer Erfolg.

Es bekam den Titel ›Frei geboren‹, und die erste Auflage war gleich im Handumdrehen vergriffen.

Aber dazwischen lag dieses halbe Jahr, in dem ihre wunderbare Liebe begann.

David und Olivia - hatte es je zwei Menschen gegeben, die sicherer waren, füreinander bestimmt zu sein?

David hatte seine Eltern früh verloren.

Sie verunglückten tödlich in ihrem Wagen, aber er war noch zu klein gewesen, um die ganze Tragik des Geschehens zu begreifen.

Er vermisste sie auch nicht eigentlich, weil liebevolle Verwandte in England sich seiner angenommen hatten und ihm eine neue Heimat gaben.

Der Onkel, Peter Mills, war ein Vetter seines Vaters und Direktor des großen Tierparks Manderley.

So kam es, dass der Junge David statt mit dem Modellbaukasten lieber mit Löwenbabys spielte, und dass er viel mehr Spaß daran fand, auf einem Kamelrücken zu reiten, als mit dem Ketcar zu fahren.

Das Schnattern und Schreien der Affen, das Brüllen der Löwen und Tiger, das Trompeten der Elefanten bei Nacht waren David vertraute Geräusche.

Als er heranwuchs, stand es für ihn fest, dass er Zoologe wie sein Onkel werden wollte.
Peter Mills zeigte viel Verständnis für diesen Wunsch und unterstützte ihn.

David war achtzehn, als er zum ersten Mal mit nach Afrika fliegen durfte, um die Tiere in freier Wildbahn zu beobachten.

Später war er noch oft dort gewesen, manchmal ein paar Wochen, dann wieder für ein paar Monate lang.

Er hatte Aufträge erfüllt, Filme gedreht, darüber geschrieben.

Olivia hörte immer fasziniert seinen Erzählungen zu, eine fremde, phantastisch bunte Welt tat sich für sie auf.

Und Davids Augen leuchteten so blau, wie sie sich den Himmel über Afrika vorstellte.

»Würdest du mich einmal mitnehmen?«, fragte sie ihn.

Und augenzwinkernd fügte sie hinzu:

»Ich könnte dir die Kamera tragen.«

»Dafür sind die Eingeborenen da«, erwiderte David lachend.

»Aber ich glaube«, hier verwandelte sich sein Lachen in lächelnden Ernst, »dass du nicht nur eine bezaubernde Geliebte bist, sondern auch eine echte, gute Kameradin sein könntest.«

»Ja, in allen Gefahren«, versicherte Olivia schlicht.

»Und - gefährlich ist es doch, was du tust?«, fügte sie mit leiser Beklommenheit hinzu.

»Ach«, David zuckte mit den Schultern, »natürlich kannst du im Busch von einem Elefanten totgetrampelt werden, wenn du ihm zu nahe kommst, aber du kannst auch in der zivilisierten Welt im Straßenverkehr umkommen, wenn du nicht aufpasst. Gefahren lauern überall, man muss ihnen zu begegnen wissen.«

Olivia war keine ängstliche Natur, sie wäre mit David überallhin gegangen, aber als er wieder zu einer neuen Expedition rüstete, da hatte sie Angst um ihn, auch wenn sie es tapfer vor ihm zu verbergen versuchte.

War es eine Vorahnung kommenden Unheils?

Er flog zuerst nach London, denn es gab noch vieles, was er mit Onkel Peter besprechen wollte.

Olivia brachte ihn zum Flughafen.

Das Herz war ihr schwer.

Drei Monate wollte er wegbleiben.

Es schien ihr fast undenkbar, ihn drei Monate entbehren zu müssen.

Er tröstete sie, aber dabei war er schon ein wenig abwesend, seine Gedanken eilten ihm voraus, das Jagdfieber, die Spannung, die Freude auf das Abenteuer Wildnis hatten ihn wieder gepackt.

»Peter wird mir seine Privatmaschine zur Verfügung stellen«, sagte er.

»Habe ich dir erzählt, dass ich vor drei Jahren den Pilotenschein gemacht habe?«

»Ja, Liebster, du hast es mir erzählt.«

Das verminderte ihre Ängste nicht gerade, dass er selber fliegen wollte.

Sie dachte: Ich habe nicht einmal ein Bild von ihm.

Aber wozu ein Foto - sie trug sein Bild in ihrem Herzen, und außerdem würde er ja bald wieder bei ihr sein.

»Warte nicht zu sehr auf Post von mir«, bat er nach einem kurzen Schweigen, währenddessen sie nahe beieinander standen.

»Ich werde dir schreiben, wenn es möglich ist, aber manchmal kann es Wochen dauern.«

Olivia nickte nur.

Dazu gab es nichts zu sagen.

»Pass auf dich auf«, flüsterte sie nur.

Sie küssten sich zum Abschied, und der Moment kam, in dem ihre Arme ihn loslassen mussten.

Sie sah ihm nach, wie er mit federnden Schritten zum Flugzeug ging, an der Gangway drehte er sich um und hob grüßend den Arm zu ihr hin, die Sonne lag auf seinem hellen Haar, er lachte, sah fröhlich aus, die Welt gehörte ihm.

Und dann mussten auch ihre Augen ihn loslassen ...

Olivia hatte David nicht wiedergesehen.

Aus der Zeitung erfuhr sie, dass das Privatflugzeug des jungen, in England lebenden Tierforschers David Danken über dem Urwaldgebiet von Kenia abgestürzt war.

Nach zweitägigem Suchen hatte man das Wrack gefunden, aber nicht den Piloten.

Das Flugzeug war weder verbrannt noch restlos zerschellt, aber dennoch bestand kaum Hoffnung, dass Danken sich auf irgendeine Weise gerettet haben könnte.

Die nächste menschliche Ansiedlung war fern, und die Wildnis gab keinen her, der sich einmal darin verlor.

Man fand einige Worte des Bedauerns über das tragische Schicksal des jungen Wissenschaftlers, der sich auch als Schriftsteller schon mit seinem ersten Buch einen Namen gemacht hatte, und dann war sein Unglück über anderen, schlimmeren Katastrophen, wie sie täglich über die Erde hereinbrachen, vergessen.

Für Olivia jedoch, die David überirdisch geliebt hatte, konnte es nichts Schlimmeres geben.
Sie litt unsagbar, wurde von Alpträumen verfolgt, manchmal glaubte sie wahnsinnig werden zu müssen, wenn sie zwanghafte Vorstellungen überkamen, wie sein Leben geendet haben mochte.

Noch jetzt, nach Jahren, jagten ihr solche Gedanken ein Frieren über den Rücken.

Lange klammerte sie sich an die winzige, armselige Hoffnung, dass er sich gerettet haben könnte.

Vielleicht hielten ihn Eingeborene gefangen, man hörte manchmal von solchen Dingen, oder er hatte sein Gedächtnis verloren und wusste nicht mehr, wer er war ...

Ihr Vater Jürgen Rigenius war es, der sie davor bewahrte, den Verstand zu verlieren.

Er war oft bei ihr in jener Zeit, denn sie hatte da schon die eigene Wohnung.

Mit der zweiten Frau des Vaters, die er nach langer Witwerschaft geheiratet hatte, verstand sie sich nicht besonders gut.

Das lag nicht an ihr selbst.

Gisela, zwanzig Jahre jünger als Jürgen Rigenius, betrachtete seltsamerweise die erwachsene Tochter irgendwie als Rivalin, so war es dann zu Spannungen gekommen, denen Olivia lieber aus dem Wege ging, indem sie sich selbständig machte.

Der Vater also hielt sie gewissermaßen fest über dem Abgrund, in den sie in ihrem wilden, heißen Schmerz hinabzustürzen drohte.

Behutsam, aber entschlossen führte er Olivia ins Leben, in den Alltag zurück.

Er gab ihr Arbeit, viel Beschäftigung im Lektorat, besprach alles mit ihr, ließ sie Verantwortung tragen, schickte sie auf Buchmessen und bestand darauf, dass sie wieder unter Menschen ging.

Vor diesen aber musste sie sich beherrschen, sollte plaudern und lächeln können.

Mit äußerlicher Beherrschung lernte die junge Olivia Rigenius zwangsläufig, auch ihre innersten, aufgepeitschten Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Was sie nie für möglich gehalten hatte, was sie verzweifelt von sich gewiesen hatte, wenn ihr Vater es ihr prophezeite, weil dies nun einmal der Lauf der Welt war, das geschah.

Olivia fand wieder zu sich selbst, gewann zunehmend Interesse an vielen Dingen - kurz, sie lebte wieder!

Das Schwerste schien überwunden zu sein.

Nur rühren durfte man nicht daran ...

 

2. Kapitel

Anderthalb Jahre später lernte sie Paul Leitner kennen.

Es lag wohl an den Umständen, dass sie einander rasch näherkamen.

Sie war zum Skilaufen in die Berge gefahren, wo beide in demselben Hotel wohnten.

Sie lagen in ihren Liegestühlen nebeneinander auf der Südterrasse.

Es war ein sonniger Tag, blau-weiß glitzernd, und um sie herum herrschte so viel frohe Ferienstimmung, dass man davon angesteckt wurde.

Sie kamen ins Gespräch.

Paul erzählte ihr, es sei sein erster Urlaub seit Jahren, auch sie gab ein wenig von sich preis.

Dass er sich lebhaft für sie interessierte, spürte sie sofort.

Er gefiel ihr auch, weil er nicht zu jenen Typen gehörte, die in jedem Mädchen ein ›Skihäschen‹ sahen, mit dem man ein Ferienabenteuer haben konnte.

Paul Leitner war durchaus ernstzunehmen, eine starke Persönlichkeit, die auf Frauen Eindruck machte.

Sie waren oft zusammen, tagsüber unternahmen sie Touren, abends tranken sie noch ein Gläschen an der Bar, wo auch getanzt wurde.

Aber Paul tanzte nicht.

»Ich habe nie Zeit für solche Vergnügungen gehabt«, erklärte er offen.

Olivia tanzte dann gelegentlich mit diesem oder jenem jungen Mann, der sie dazu aufforderte.

Aber die oberflächlichen Komplimente, die sie bei solchen Gelegenheiten bekam, langweilten sie.

Die mehr oder weniger plumpen Annäherungsversuche der Herren stießen sie ab.

Sie war immer froh, wenn sie zu Paul zurückkehren konnte, der ihr mit einem liebevollen Lächeln entgegensah.

Bei ihm fühlte sie sich wohl und gut aufgehoben, sie betrachtete ihn als Freund.

Paul verlängerte seinen Urlaub um ein paar Tage, damit sie zusammen heimfahren konnten, denn sie wohnten ja glücklicherweise, wie er sagte, in derselben Stadt.

Am letzten Abend dieses dreiwöchigen Urlaubs ließ Olivia ihre Tür für Paul offen ...

Viel später, in einer vertrauten Stunde, hatte sie ihm einmal von ihrer ersten großen Liebe erzählt, die ein so jähes und schreckliches Ende fand.

Schweigend, unbewegten Gesichtes hatte Paul ihr zugehört.

Aber sie fühlte, dass er dieses Stück der Vergangenheit am liebsten aus ihrem Leben herausgeschnitten hätte, wenn dies möglich gewesen wäre.

Und sie?

Oh nein, dachte Olivia in dieser Nacht, da sie mit offenen Augen dalag, ich möchte es nicht hergeben, auch nicht um den Preis, dass ich nun so glücklich nie mehr werden kann, wie ich es mit David war.

Ein solches Glück gibt es nur einmal.

Es war nur zu kurz, viel zu kurz!

Der Sommer verging.

Im Rigenius-Verlag liefen die Druckereimaschinen, auch in den Büros wurde mit Hochdruck gearbeitet, denn der Buchhandel musste rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft beliefert werden.

Olivia saß neben dem Schreibtisch ihres Vaters und machte sich Notizen.

Er besprach sich gern mit ihr, wenn die Termine drängten.

Sie war so umsichtig und hatte ein gutes Organisationstalent.

»Am Zweiundzwanzigsten könnten wir eine Konferenz mit den Vertriebsleitern ansetzen«, sagte Jürgen Rigenius und blätterte in seinem Terminkalender.

»Halt, nein«, unterbrach er sich, »der Zweiundzwanzigste

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Uta Dierkes
Bildmaterialien: https://pixabay.com/de/mode-frau-sch%C3%B6nheit-freizeit-1636872/
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8425-3

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