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Zugfahrt

 

Zugfahrt

 

 

Sein Name war Lars Meier. Ein junger Mann, Ende zwanzig. Mit seiner korrekten äußerlichen Erscheinung wirkte er wie ein aufstrebender Student.

Doch hässlich war Lars wahrlich nicht – eher das Gegenteil. Er liebte es, mehrmals am Tage in den Spiegel zu schauen. Prüfte stets, ob seine Frisur saß und die Kleidung keine Flecken aufwiesen. Selbstverliebt und eingebildet – ein Narziss eben, so empfanden es seine Mitmenschen.

Zudem war Lars ehrgeizig und äußerst strebsam, was das Erreichen seiner beruflichen Karriere anging.

Daher saß er auch am Heiligabend im Zug. Wie jeden Morgen in einem Abteil, das für sechs Personen ausgerichtet war. Er war wie immer auf dem Weg zur Arbeit.

Abfahrt: 6:41 – Ankunft: 9:53.

Auch am 24. Dezember machte er keine Ausnahme und die Bahnzeiten waren gleichgeblieben.

Er hatte sich extra freiwillig zum Dienst gemeldet. Wo Arbeitskollegen schon zu Hause bei ihren Familien waren, weil sie nicht am Heiligabend arbeiten wollten, war er befleißigt noch mehr zu leisten, das zu erreichen, was ihn innerlich weiterbrachte.

Lars saß an der Fensterseite. Sein Laptop war auf der kleinen Ablage platziert, dort wo sich unter anderem der kleine integrierte, meist mit Essensresten beschmierter Mülleimer befand, den er fürsorglich desinfizierte, bevor er sein edles Teil draufstellte.

Sein Akku war stets komplett aufgeladen, da er es hasste, im Zug verkabelt zu sein. Unvorhergesehenes mochte er nicht und war froh drum im Voraus alles planen zu können und zu wissen, was als Nächstes kommen würde. Der Platz neben ihm blieb stets leer. Manchmal fragte er sich selbst, warum er dennoch reservierte, wenn der Platz immer leer war. Er fragte sich aber nicht, warum sich keiner zu ihm setzte.

War es die ablehnende Haltung gegenüber anderen Gästen?

Das konnte gut möglich sein. Doch überließ er es niemals dem Schicksal.

Unter seinen Füßen vibrierte der Boden. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er hielt den Laptop kurz mit beiden Händen fest, damit der nicht herunterrutschen konnte, bis die Gefahr vorüber war.

Er kannte es zur Genüge. Die üblichen zischenden Geräusche, die der Zug auf den Schienen verursachte. Das immerwährend quietschende Geräusch, wenn die Lok in den Bahnhof einfuhr und die Laute erst dann erstarben, wenn sie endlich stand.

Erste Station erreicht.

Einer von einigen Zwischenstopps.

 

Jeden Morgen, das gleiche Ritual, dieselbe Strecke. Mayonnaise, wo man hinsah. Alles zog sich in die immerwährende Warteschleife - ein Murmeltiertag, wie er im Buche stand.

Einige Leute stiegen aus, mehrere wieder ein.

 

Doch Lars nahm das nicht wirklich wahr. Es interessierte ihn nicht die Bohne, dass sein Leben an ihm gleichgültig vorbeilief. Dass er von den Menschen keine Notiz nahm, oder der ein oder andere gelegentlich einen kurzen Morgennicker durch die Scheibe starten wollte, wenn er mal aufsah. Keine Chance, er ignorierte alles und jeden. Denn Lars saß beständig angestrengt am aufgeschlagenen Laptop und tippte Zahlen ein, stellte Berechnungen auf. Ja, die waren wichtig, sie gehörten zum Leben. Sie waren sein Leben.

Er wollte ziemlich viel erreichen, hatte seine Ziele für dieses Jahr besonders hochgesteckt. Als Chef war er vorgesehen. Nichts sollte sich ihm in den Weg stellen.

Rein gar nichts.

So war er auch nicht sonderlich erstaunt, dass im Zug um diese Zeit nicht viel los war. Einige müde Gesichter, die von der Nachtschicht heimfuhren oder wie er, den Dienst anzutreten hatte, weil sie nicht freibekommen hatten. Auch ein paar Urlauber tummelten sich, um an den nächstgelegenen Flughafen zu gelangen, oder blieben im Landesinneren, um von A nach B quer durch Deutschland zu düsen, nur um ihre ferngelegene Familie oder Freunde, über die Feiertage zu besuchen. Vollbepackt, mit ihrem Gepäck, in denen zum Teil die Geschenke untergebracht waren, suchten sie sich Sitzgelegenheiten. Kinder, die um diese Zeit noch müde waren, quengelten und neben ihren Eltern unruhig Platz nahmen, um von ihren Geschenken zu träumen, sich auf Weihnachten freuten, waren auch hier.

Bei all den Fahrgästen war nur einer darunter, der sich nicht freute, denn eine Weihnachtsstimmung kam bei Lars nicht direkt auf. Er hielt nichts von Weihnachten, war es für ihn nur reine Geldmache. Langweilige Riten in denen man die Geburt Jesu feierte.

Schwachsinn, dachte er. Außerdem, wer glaubte schon an den Weihnachtsmann oder einen Engel, der hereinflog und die Geschenke vorbeibrachte? Egal was für ein Brauchtum jeder für sich beanspruchte, er fand es lächerlich und medienaufreibend.

Ihm war es egal.

 

Er gähnte in die Hand hinein; die Müdigkeit hatte ihn fest im Griff, denn er musste für seinen Job als Lebensmittelchemiker, bei der Firma ASA zeitig aufstehen. Fünf Uhr ging sein Wecker, sechs Uhr war er schon am Bahnhof. Einzig und alleine, dass er in der Nähe vom Bahnhof sein kleines Apartment hatte, machte es etwas erträglicher, aber er hatte es nicht anders gewollt.

Noch war er jung, ledig, mit seinen 28 Jahren konnte er es locker wegstecken. Doch irgendwann, wenn er die vierzig erreicht hatte, würde er nicht mehr jeden Tag diese Strapazen auf sich nehmen wollen. Nein, das würde er bestimmt nicht, dann ließ er Menschen für sich arbeiten – so sein Plan.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Eine warme, keineswegs hellklingende, aber durchaus angenehme Stimme eines Mannes, sprach ihn an.

Eigentlich war er viel zu beschäftigt, darum reagierte er nicht sofort mit einer Antwort, wenn er überhaupt eine geben wollte. Er würdigte ihn keines Blickes.

„Ist der Platz neben ihnen frei?“, fragte die Person ein weiteres Mal. Die Ungeduld in der Stimme war nun kaum zu überhören, doch blieb sie höflich.

Lars schaute denjenigen nun direkt an. Ein Mann, etwas älter, vielleicht auch gleich alt, mit einem schwarzen, nostalgischen Anzug. Irgendwie wirkte er aus einer anderen Zeit, dachte er stirnrunzelnd. Nein, er wirkte nicht nur so, er sah auch so aus.

Der Fremde sah Lars an und lächelte dabei freundlich, während er seinen Hut absetzte und grüßte:

„Seid gegrüßt.“

Lars schüttelte den Kopf. Wie altmodisch?, dachte er zuerst, doch dann schwenkte er um.

Er mochte es, wenn jemand gebildet sprach und vor allem akzentfrei! Nicht so einer aus der Gosse - Hartz 4 Empfänger. Die mochte er gar nicht. Sie waren für ihn Nichtsnutze.

Er wusste, er war im Prinzip ungerecht zu den Familien, die es einfach in den sozialen Abstieg gezogen hatte. Ach nein, schalt er sich, er hatte kein Mitleid. Der kurze Anflug von Mitgefühl war erloschen kaum, dass er darüber nachdenken konnte.

Der Fremde sah ihn mit einem Blick an, der bei ihm merkwürdige Gefühle auslöste. Die Tiefe, die seine Augen ausstrahlten, ließen Lars nicht los, hielten ihn für einen Augenblick länger gefangen, als nötig war. Er musste sich regelrecht davon loslösen, erschienen ihm wie magisch.

Absurd! … Er sieht dich ganz normal an, ermahnte er sich, schüttelte leicht und fast unbemerkt den Kopf.

Lars stutzte dann aber, als er überlegte, warum der Fremde ihn überhaupt wegen eines Sitzplatzes fragte, wenn doch alles hier frei war. Es war auch keiner hinzugekommen, wo man sagen konnte, okay, man fragt dann doch.

Die Menschen gingen alle an dem Abteil vorbei. Komisch, wie er im Nachhinein fand, dass heute kein weiterer Gast reinwollte. Denn der Zug wurde recht gut besucht, wie er draußen durch das Fenster erkennen konnte, stiegen etliche hinzu.

Lars besann sich. Er hatte dem Mann noch keine Antwort gegeben, der noch immer vor ihm stand, mit seinem Hut in der Hand und ihn weiter musterte. Er wusste nicht, ob er lächeln sollte. Zum Lachen war ihm nicht gerade, doch zwang er sich zu einem kurzen Hochziehen seiner Mundwinkel, bevor sie in ihre Verankerung zurückfielen. Unhöflich wollte er nicht erscheinen, also nickte er ihm zu und wies ihm den Platz neben sich, wobei er sich fragte, warum er nicht den Platz gegenüber nahm oder irgendeinen anderen.

Warum fragen?

Lars seufzte, nahm seine Tasche herunter, legte sie auf die gegenüberliegende Seite.

Die Türen schlossen sich, der übliche schrille Pfeifton ertönte. Der Zug fuhr weiter.

Noch eine dreiviertel Stunde, dachte sich Lars, als er auf seinen Laptop schaute, dann war er in Ludwigshafen. Er mochte die Stadt nicht besonders. Weder den Pfälzer Dialekt noch das Flair, der dort herrschte.

Lars, der schon in die Nacht hinausstarrte, da es immer noch dunkel war und man nur von Weitem Lichter sehen konnte, wandte sich nun verstohlen zu dem Mann, der etwas an sich hatte, was er nicht genau definieren konnte. Der Drang ihn anzuschauen, überkam ihn. Daher betrachtete er verstohlen die feinen Gesichtszüge, die markante Stirn, der Haarschnitt, der ihn an das frühe 20. Jahrhundert erinnerte. Korrekt gekämmt und zu einem Seitenscheitel frisiert mit Pomade versehen.

Komisch!

Der Mann saß elegant im Sitz, mit teuer aussehenden, gut verarbeiteten Klamotten.

Was er wohl von Beruf war? Verkäufer für die VIP etwa? Oder er kleidete die Männer selbst ein.

Lars schnaufte.

Er wird einer dieser reichen Fuzzis sein.

Wieso ärgerte ihn gerade dieser Gedanke? Gerade er, der genauso nach Macht strebte. Er verstand sich nicht so ganz.

Du willst doch auch reich sein?, sagte ihm sein Gewissen.

Ja, er wollte so vermögend sein. Nein, noch reicher; er wollte alles.

Wieder schwenkten seine Gedanken zu dem Fremden der ihn, wie er nun trocken feststellte, stets beobachtete.

Warum machte er das, es ließ ihn innerlich unruhig werden. Er wandte den Blick ab.

Lars lehnte sich zurück, versuchte sich nun auf sich selbst zu konzentrieren, blickte angestrengt in seinen Computer, um noch ein paar Aufgaben zu lösen für eine neue chemische Formel.

„Was sind Sie von Beruf?“

Der unbekannte Mann hatte ihn angesprochen.

Er sah zu ihm. Plötzlich raschelte es auf der Sitzbank gegenüber.

Was war das? Sein Blick schnellte dorthin.

Ein kleiner Schuljunge hatte sein Essen ausgepackt und schmatzte laut in die Runde. Lars wurde leicht blass um die Nase herum. Denn der Junge sah so aus wie er damals …

Was geschieht hier, sehe ich mich nun schon selbst?  

Und überhaupt, wie war der Junge reingekommen? Er hatte nicht gehört, wie die verglaste Schiebetüre aufgezogen worden war. Der Knabe saß neben seiner Laptoptasche, was ihm missfiel.

Daher beugte er sich schnell vor und nahm sie an sich. Er wollte nicht, dass der Junge sie mit seinen womöglich fettigen Händen beschmierte.

„Was sind Sie von Beruf?“ Eindringlich, doch einfühlsam drang die erneute Frage an sein Ohr.

Lars hatte total den Mann mit der magischen Aura vergessen. Er riss sich von dem Jungen, der ihm in seiner Kindheit wie aufs Haar glich, los.

„Wie, ich verstehe Sie nicht?“ Warum wollte er denn das wissen?

„Was ist denn daran, nicht zu verstehen?“

„Das ist einer dieser Männer, die nichts mehr um sich herum mitbekommen“, meldete sich der Junge schmatzend zu Wort, schaute zu dem Fremden und lächelte. Dabei raschelte der Junge so laut mit seinem Butterbrotpapier, dass Lars hellhörig wurde.

Das Rascheln?

Verflucht …

Was geschieht hier?

Lars wurde in eine Erinnerung gezogen und um ihn herum begann, sich alles zu drehen. Er fand sich urplötzlich in seiner eigenen Kindheit wieder.

 

Es war einen Tag vor Heiligabend und seine Mutter hatte mal wieder nicht die Zeit, wie es hätte sein sollen. Er war gerade sieben Jahre alt und oft auf sich alleine gestellt.

Seine Mutter hatte ihm ein Butterbrot gemacht und war gerade dabei es in Butterbrotpapier einzuwickeln, was er dann für den letzten Schultag mitnehmen sollte. Danach würde er dann Weihnachten bei seiner Oma verbringen. Lars war viel bei seiner Oma. Er mochte sie, doch störte er sich daran, dass er gerade über die Weihnachtstage bei seiner Großmutter verbringen musste und nicht bei seiner Mutter.

Seine Schultasche war gepackt, denn er würde längere Zeit bei seiner Oma verbringen und konnte von dort aus in die Schule gehen.

Er wusste, dass er den Zug noch erreichen musste, sonst würde er wieder nur Ärger von seiner Mutter bekommen. Seine Mutter war alleine. Seinen Vater kannte er nicht. Sie hatte auch nie viel über ihn erzählt.

Und gerade in dieser Zeit, wo er sie so gebraucht hätte, war ihr Hunger nach Macht zu groß geworden, dass sie ihn viel alleine ließ, oder zu seiner Oma schickte.

Er schwor sich niemals so zu werden wie sie ...

 

Lars wurde geweckt. Jemand hatte ihn am Arm berührt.

Hatte er geschlafen?

Er drehte den Kopf auf die Seite in die Richtung, aus der er berührt worden war. Doch der Platz neben ihm war leer. Er wollte zu dem Jungen rüber schauen, doch da saß nun der Mann.

Verwundert darüber schüttelte Lars den Kopf, machte sich seine Gedanken.

Warum hatte er sich gerade an sich selbst erinnert? Er träumte doch sonst nie. Schon gar nicht im Zug.

Es musste ein Sekundenschlaf gewesen sein, denn draußen war es noch dunkel.

Ihm wurde, warum auch immer, bewusst, dass er dem Fahrgast noch nicht geantwortet hatte. Das Bedürfnis ihm zu antworten überkam ihm.

„Lebensmittelchemiker.“

„Geht es Ihnen gut, sie sahen so blass aus“, ging sein Gegenüber nicht darauf ein.

„Da hat doch noch gerade eben ein Schuljunge gesessen?“, fragte Lars, der immer irritierter wurde.

Der Mann, der seinen Hut nun auf dem Schoss platziert hatte, schüttelte mit dem Kopf.

„Hat es Sie an ihre Kindheit erinnert?“

Lars stutze, rückte sich gerade in den Sitz. Der Laptop war noch aufgeklappt. Er starrte auf den Monitor, der nicht ins Standby gegangen war. Wieder etwas, was ihm eine Gänsehaut verursachte. Normalerweise schaltete er sich nach fünf Minuten in den Stromsparmodus um. Er schaute auf die Zeit. Konnte das sein, dass gerade mal zwei Minuten vergangen waren?

Bestimmt hatte er sich vorhin in der Uhrzeit geirrt.

Ja, genauso musste es gewesen sein, beruhigte er sich und ging in die Offensive. Denn eines hatte ihn an der Frage stutzig werden lassen und sprach es an.

„Wenn es mich an meine Kindheit erinnert hat und Sie noch nicht mal den Jungen gesehen haben, wie können Sie dann solch eine Frage stellen?“

„Sie redeten.“ Der Mann zupfte an seinem Anzug und wirkte nun auf Lars überheblich.

„Im Schlaf?“

„So könnte man das nennen. Im Übrigen heiße ich Michael“, stellte sich der Unbekannte vor.

Warum nur mit Vornamen?

Lars fragte nicht nach und dachte sich: Er würde ihn sowieso niemals mehr wiedersehen, wollte aber nicht unhöflich erscheinen und nannte ihm auch seinen Vornamen.

„Lars.“

„Freut mich sehr, Lars.“

„Sie haben sich zweimal nach meinem Beruf erkundigt? Warum?“ Bohrende Fragen stapelten sich, die vorher noch nicht da waren.

„Weil Sie so fixiert in ihren Laptop tippten.“

„Wie bitte?“

Lars verkniff sich ein Grinsen. Es passte gar nicht zu dem Mann aus dem 20. Jahrhundert, der eher aussah, als ob er einen Daimler noch aus der Zeit fahren würde. Er musste grinsen.

Eigentlich hatte er sich in seiner Fantasie ausgemalt, dass der Fremde nun sagen würde: Was ist das für ein neuzeitliches Gerät.

„Ich bin Lebensmittelchemiker.“

„Und Sie, was machen Sie so, wenn ich fragen darf.“

„Ich berate.“

„Mode?“

„Nein, eher ein Gewerbe für höhere Zwecke.“

Was für ein Freak.

„Und warum sind Sie so angezogen, als ob Sie aus dem letzten Jahrhundert kommen?“

Lars wurde bewusst patzig, denn irgendwas hatte dieser Fremde an sich. Nicht, das er abstoßend war, nein, im Gegenteil. Er fing an, sich für den Fremden zu interessieren.

„Höhere Zwecke also, der Weihnachtsmann werden sie wohl nicht sein ... blödes Weihnachten.“

„Also ich finde Weihnachten was ganz Großartiges.“

Hatte er den letzten Satz aus Versehen herausgemurmelt? Wenn ja, etwa auch noch so laut, dass Michael es hören konnte?

 

„Wenn Sie meinen.“

„Nicht meinen, das ist so … Warum gehen Sie so hart mit sich ins Gericht.“ Er sah Lars tief in die Augen, da merkte der andere, dass er zwei verschiedene Augenfarben hatte.

Warum war Lars das nicht gleich aufgefallen. Sein Magen begann, eigenartige Gefühle in ihm zu wecken. Michael lächelte nur.

Was war das nur für eine verrückte Zugfahrt? Wo war eigentlich der Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte?

Irgendwas stimmte hier überhaupt nicht. Und warum verstrich die Zeit so langsam, während er das Gefühl hatte, Stunden schon im Zug zu sitzen.

Warum hielt der Zug überhaupt nicht an?

Das hätte schon längst passieren müssen. Lars war sich sicher, dass auch die Uhrzeit an seinem Laptop nicht stimmen konnte. Verfluchte Technik. Hatte er sich einen Virus eingefangen?

Wie gut, dass er immer seine Daten gleich abspeicherte.

Ihm fiel sein Handy ein, womit er dann die Uhrzeit hätte vergleichen können. Doch wo war es? Er suchte in seiner Jacke, konnte es nicht finden und fluchte.

Er hatte doch sein Telefon eingesteckt, doch wo war es nur? Angestrengt fuhr er sich über das Gesicht und sah zu seinem Nachbarn.

Bei Michael, wie er sich nannte, hatte er keine Uhr entdecken können. Auch keine Taschenuhr, an der eine silberne oder goldene Kette angebracht war.

Resigniert schaute Lars aus dem Fenster.

Es schneite, und es war stürmisch. Man sah die Silhouetten von Bäumen und Schnee, der gegen die Fensterscheiben peitschte.

Oh, wie er den Winter hasste. Wie er überhaupt alles an Weihnachten und das Ambiente hasste.

Er wollte sich wieder seinen Aufgaben widmen und nicht mehr an der Unterhaltung teilhaben. Ihm war es zudem peinlich, dass er für sich zugeben musste, dass ihn der Mann faszinierte. Doch er verbot sich Gefühle für einen Mann. Er hatte sich seit so vielen Jahren unter Kontrolle. Auch wenn er Männer vorzog.

Nein, er musste heiraten, Kinder bekommen und wollte hoch hinaus. Kinder nur, damit sie später sein Imperium übernehmen konnten. Am besten männliche Nachkommen.

Er hatte so viel in der Firma geleistet. Er musste es schaffen …

Lars bemerkte nicht, wie der andere ihn mit einem Kopfschütteln musterte.

Ein Ruck ging durch den Zug und es wurde kurz Dunkel.

Lichtausfall!

Aber wenige Sekunden später war das Abteil und der übrige Zug hell erleuchtet.

 

Ein älterer Mann stand vor Ihnen hatte aber nur Augen für Lars.

„Können Sie nicht aufstehen, ich brauche den Platz“, schnauzte er ihn unfreundlich an.

Lars sah verwundert zu Michael, doch der zuckte nur amüsiert mit der Schulter.

Was war so amüsant?

„Ich habe reserviert, sehen Sie doch.“ Lars war nicht auf seine Frage eingegangen, sondern verteidigte seinen Platz. Er kramte seine Sitzplatzreservierung heraus und wollte es dem Älteren zeigen. Doch der winkte nur mürrisch ab, setzte sich fluchend neben Michael und schaute unfreundlich aus dem Fenster.

Lars wusste nicht warum, aber ihn störte die unfreundliche Art.

„Wieso sind Sie so unhöflich, es wären genügend andere Plätze gewesen. Warum wollten Sie gerade meinen?“ Er musterte den älteren Herren von oben bis unten.

Der Mann hatte schon graue Haare. Doch wirkte er keinesfalls verarmt - im Gegenteil.

„Ich reise normalerweise erste Klasse. Doch aus irgendeinem Grund hatte man mir ein falsches Ticket reserviert. Und wenn ich schon zweiter Klasse fahren muss, dann werde ich mir wohl die Plätze aussuchen können“, gab er beleidigt von sich.

„Das gibt Ihnen das Recht, einfach die Leute anzupöbeln?“

Der alte Mann lachte nur hämisch, dann zog er ein Taschentuch heraus und schnäuzte hinein.

Lars geriet ins Stocken, als er auf dieses starrte. Es sah aus wie seines, dass er sich gekauft hatte. Gestern, als eigenes Weihnachtsgeschenk. Hatte es sogar signieren lassen. Wie konnte das sein, war es ihm geklaut worden? Schnell fasste er in die Tasche und holte genau dieses Taschentuch heraus, das tatsächlich völlig identisch mit dem übereinstimmte.

„Wir haben das gleiche Taschentuch“, sagte Lars völlig von der Rolle.

Der alte Mann lachte nur.

„Na und, ist es was Besonderes? Vielleicht imitiert man mich gerne.“ Er war nach wie vor sehr unfreundlich.

Nein, dachte sich Lars. So wollte er auf keinen Fall werden.

 

Er wachte auf, sah sich um. Der ältere Mann war verschwunden und nur er und Michael blieben zurück.

„Wie, warum?“

Lars konnte sich das nicht erklären.

„Kein: Warum? Sondern eher: Keines Falls so“, sprach er für ihn in Rätsel und wieder zogen ihn diese Blicke magisch an.

„Wo ist der alte Mann hin?“ Er konnte sich kaum von ihnen loseisen.

„Kein alter Mann … das musst du wohl geträumt haben“, sprach er ihn vertraut an und seine Stimme klang auf einmal süß und verlockend roch einen süßlichen, betörenden Duft, der auf einmal auf ihn niederprasselte.

Der Anblick des Mannes erregte ihn auf eine Art und Weise, obwohl sie sich nicht nahe waren.

Verdammt.

Er schaute an sich herunter. Die Beule in seiner Hose verriet es.

Warum war er erregt?

Bilder tauchten auf, wie Michael aufstand und zu ihm rüber ging, ihn zu sich zog und sie sich dann küssten.

 

Schlief er schon wieder? Er konnte es nicht ausmachen.

„Nein, du schläfst nicht. Ich zeige dir nur deine Gefühle und lege sie offen.“

Lars hörte seinen Klang wie durch einen dichten Vorhang. Er konnte kaum seine Lider offenhalten, die immer schwerer wurden.

Er musste in einer Traumwelt sein, alles andere machte keinen Sinn, waren seine Gedankenfetzen.

Doch unternahm er auch nichts um den Mann von sich fort zu stoßen. Im Gegenteil. Es gefiel ihm, die Hände des Mannes zu spüren,

Sie küssten sich weiter, während Michael Lars langsam auszog. 

Scham hatte er keine, als er nackt vor ihm stand.

„Du bist nur ein Mensch“, sagte Michael, ließ ihn los und musterte ihn. Seine unterschiedlichen Augenfarben begannen zu leuchten.

Bei Lars breitete sich eine Wärme im Inneren aus, die er schon lange nicht mehr hatte.

Alles, was wichtig für ihn war, wurde unwichtig. Und was unwichtig war, wurde wichtig … 

 

Der Nebel um ihn herum verzog sich und er konnte wieder normal sehen.

Er war doch nackt?

Sofort sah er an sich herunter.

Er war vollständig bekleidet. Nichts deutete darauf hin, dass er ausgezogen gewesen war. Vor allem saß er an seinem Platz und der Laptop lag halb auf seinem Schoß und drohte herunter zu fallen.

Wo war Michael?

Um so mehr er sich zu erinnern versuchte, um so undeutlicher wurde das Ganze. Bis er nur noch verwundert über diese seltsame Begegnung den Kopf schüttelte und seinen Computer wieder an seinen Platz stellte.

Was tat er eigentlich im Zug?

Es hatte sich wie sein ganzes Leben angefühlt, stumpf und leer, als ob er nur im Zug leben würde.

Lars Erinnerungen, auch an seine Träume, wurden immer löchriger, verschwammen und nur ein Gesicht stach aus dieser Masse an Gedankengut hervor.

Ein Mann, der aussah wie aus einem anderen Jahrhundert.

Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er fragte sich, was er eigentlich heute an Heiligabend überhaupt hier zu suchen hatte, wo andere zu Hause bei ihren Familien waren und zusammen frühstückten und sich auf eine bevorstehende Weihnacht freuten.

Lars saß völlig irritiert in seinem Abteil, mit einem Ständer in seiner Hose und war froh, dass keiner der Fahrgäste sich einfallen ließ, hier hereinzukommen.

Doch die Erregung flaute schnell ab.

Die Fahrt dauerte ihm schon viel zu lange. Er wollte raus und kam sich so einsam wie noch nie in seinem Leben vor.

Lars stand auf, räumte den Laptop in die Tasche und stieg an der nächsten Haltestelle einfach aus. Dann suchte er sein Handy und fand es dieses Mal.

Hatte er nicht danach gesucht?

Er konnte sich nicht mehr so recht daran erinnern. Aber das spielte keine Rolle. Er rief bei seinem Arbeitgeber zu Hause an, meldete sich krank.

Es kam ihm so leicht über die Lippen. Ein Lächeln fand sich darin, als sein Chef ziemlich sauer darauf reagierte.

Es war ihm so egal.

Lars stand noch eine Weile am Bahnsteig herum. Er stand unter dem Dach, wo kein Schnee ihn erreichen konnte, doch der Wind blies immer noch kräftig. Die Dunkelheit wich dem Morgenlicht. Er fragte sich, was er wohl nun mit der Zeit anstellen würde. Heiligabend hatte er nichts geplant.

Da kam ihm auf einmal, eingemummelt in einen dicken Schal, ein junger Mann entgegen.

Sofort kam er ihm bekannt vor.

War das nicht der gleiche wie im Zug gewesen? Der Mann, der aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schien?

„Ich kenne Sie doch?“, sprach Lars den Mann an und dieser blieb sofort stehen. Der schüttelte nur den Kopf, als er Lars betrachtete.

Lars beäugte ihn ebenfalls. Das gleiche Gesicht, dieselben Augen, die ihn faszinierten, doch war keine Magie in ihnen, sondern sie musterten ihn neugierig von oben bis unten. Die Erinnerung an die Zugfahrt mit dem mysteriösen Mann, sie kehrte so weit zurück, dass er sich wieder genau an ihn und an das schöne Gefühl erinnern konnte. Und noch etwas fiel Lars auf, was sich von dem Mann aus dem Zug unterschied: Dieser hatte moderne und stilistische Sachen an.

Er ist nicht aus diesem Jahrhundert, dachte er. Hitze stieg in seine Wangen.

Gab es Liebe auf den ersten Blick. Wenn ja, traf sie Lars unvorbereitet.

„Nicht, dass ich wüsste“, gab der Mann darauf zurück. Konnte das sein?

Lars meinte, ein Zittern in seiner Stimme zu hören.

Der Schneefall wurde noch einen Tick stärker. Da die beiden nicht länger unter dem Vordach standen, konnten die Schneeflocken sie erreichen und benetzten beide Männer mit einem Teppich.

Doch das juckte keinen von ihnen. Sie starrten sich nur an.

Schweigen war entstanden. Bis der andere die entstandene Stille brach.

„Nein, ich kenne Sie nicht, doch sind Sie mir eigenartigerweise vertraut. Ich weiß nicht warum.“

„Mir geht es genauso.“

„Stehen Sie schon lange hier?“, fragte er weiter und Lars verneinte.

„Nein, ich wollte eigentlich nach Hause.“

„Haben Sie schon was für heute Abend vor, mein Date hat mir einen Korb gegeben, weil er arbeiten muss.“

Lars lächelte und schüttelte den Kopf.

„Nein, aber ich denke jetzt habe ich was vor, oder?“

„Mein Name ist Sven.“

„Lars.“

„Lars, schöner Name.“

„Dann habe ich ja Glück gehabt, dass dein Date abgesagt hat.“

„Ich verstehe sowieso nicht, warum man freiwillig gerade an so einem Tag arbeiten gehen muss.“

 

Lars behielt, dass was ihm auf der Zunge lag für sich. Er war auch so einer - gewesen.

Lars und Sven lächelten sich aufrichtig an, dann gingen sie Seite an Seite und verließen den Bahnhof. Wohin, das spielte keine Rolle, denn dies würde die Zeit mit sich bringen.

 

Ganz im Verborgenen trat ein Mann heraus, den Lars bestimmt erkannt hätte, wenn er sich umgedreht hätte.

Der Mann steckte sich eine Zigarette an. Machte einen tiefen Zug, dann noch einen weiteren. Man sah, dass ihm diese schmeckte. Und so genoss er sie auch.

Es war der Mann mit der Kleidung aus dem 20. Jahrhundert. Irgendwann nahm er den schon fast bis ans Ende gerauchten Glimmstängel aus dem Mund, schnalzte sie auf den Boden. Dann schritt er mit frohem Gesicht davon.

„Ein Gutes hat der Tod ja an sich, man braucht nicht mit dem Rauchen aufzuhören.“

„Und wieder eine gute Tat vollbracht“, erklang eine andere Stimme zu dem man keinen Körper sah.

„Oh ja, dafür bin ich doch hier um den Menschen an solchen Tagen ein wenig Glück zu bringen“, sagte er zu der Stimme, klatschte dann in seine behandschuhten Hände und verschwand in einem Schimmer aus vielen Sternen.

 

Am anderen Ende vom Horizont ging ein anderes Licht auf.

Lars erlebte endlich sein eigenes Glück, das mit Sven.

 

 

Ende

Impressum

Texte: Randy D. Avies
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2017

Alle Rechte vorbehalten

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