Der Junge
mit dem Engelsgesicht
Psychothriller
von
Alfred J. Schindler
VORWORT
Dieser Tag sollte für uns ein besonderer werden. Ein ganz besonderer! Er sollte großes Unglück über unsere kleine Familie bringen. Es war Montag, der 13. Juni, der unser Leben grundlegend verändern sollte.
Um kurz nach halb zwölf Uhr mittags - ich saß gerade auf der Terrasse und las die Tages-zeitung - kam Erna, meine Frau, zu mir heraus und brachte mir eine frische Tasse Kaffee und eine neue Schachtel Rillos. Einen kleinen Aschenbecher stellte sie auch auf den runden Gartentisch.
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„Ich weiß, dass du es niemals schaffen wirst, mit dem Rauchen aufzuhören, Herbert“, sagt sie leicht vorwurfsvoll.
„Danke, Erna. Du bist ein Goldschatz. Stell dir vor, was hier in der Zeitung steht! Fünf junge Männer im Alter zwischen sechzehn und siebzehn Jahren haben kürzlich ein vierzehnjäh-riges Mädchen vergewaltigt. Sie wurden gefasst und gestern von einem Gericht verurteilt. Der Anführer der Bande bekam ein Jahr Jugendarrest und die vier anderen Burschen müs-sen jeweils 100 Stunden Sozialarbeit leisten. Ich frage dich: Dieses Urteil ist doch der blanke Hohn, oder? Es ist eine Herabwürdigung des Opfers, die zum Himmel schreit! Das arme, geschändete Mädchen ist für ihr Leben seelisch gezeichnet. Es ist fraglich, ob sie je-mals ein normales Liebesleben mit einem Mann führen kann. Und sie wird sich bestimmt in psychologische Behandlung begeben müssen. Vielleicht eine sehr lange Zeit! Wenn es sich um die Tochter des Richters, der das Urteil gesprochen hat, gehandelt hätte, wäre es mit Sicherheit ganz anders ausgefallen.“
„Das glaube ich auch, Herbert. Es ist unfassbar. Was würdest du denn tun, wenn irgendein Schwein unsere Enkeltochter vergewaltigen würde?“
„Du kennst meine Einstellung zu solch abartigen Verbrechen, Erna.“
„Würdest du ihn umbringen?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich er käme mir nicht ungeschoren davon. Keine Macht dieser Welt könnte mich aufhalten. Die Justiz könnte ihn nicht vor mir schützen.
Das kann ich dir versichern!“
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Ich blicke auf meine goldene Armbanduhr: Es ist bereits dreizehn Uhr dreißig und Susanne, unsere vierzehnjährige Enkeltochter, ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Norma-lerweise erscheint sie kurz nach dreizehn Uhr auf der Bildfläche, weil der Unterricht um 12:45 Uhr zu Ende ist. Von der Schule bis zu unserem alten Haus sind es nur etwa drei Kilometer. Das Essen steht schon eine knappe halbe Stunde auf dem Tisch, als ich be-schließe, Susanne auf ihrem Handy anzurufen. Sie geht sofort ran und erzählt mir heulend, dass sie gerade vorhin
... von einem jungen Mann vergewaltigt wurde.
Ich denke, mein Herz bleibt stehen.
Ich fasse es nicht.
Ich glaube es nicht!
Sie erzählt mir mit tränenerstickter Stimme, dass die letzte Unterrichtsstunde ausgefallen und sie deshalb noch zu unserem Baggersee gefahren sei, der etwas abseits von Hirten-stein liegt. Dort habe sie sich am Kiosk ein Fruchteis gekauft. Ein junger Mann habe sich an ihren Tisch gesetzt und sie seien ins Gespräch gekommen, berichtet sie. Er habe ihr sehr gut gefallen. Als sie eine halbe Stunde später auf ihr Fahrrad gestiegen sei, habe sie der junge Mann auf seinem auffälligen Fahrrad begleitet. Auf einem Waldweg, den die benutzen musste, um nach Hause fahren zu können, habe sie der junge Mann dann vom Fahrrad gestoßen, sie in ein Gebüsch gezerrt und sie dort brutal vergewaltigt. Es war niemand in ihrer Nähe.
Ich bin fix und fertig.
Das kann doch nicht sein!
Ein Albtraum ist wahr geworden.
Der Albtraum aller Albträume!
„Susanne, wie geht es dir denn? Wo bist du? Im Krankenhaus?“
„Nein, ich sitze hier am Straßenrand in der Nähe des Sees.“
„Der Dreckskerl ist natürlich mit seinem Fahrrad verschwunden?“
„Ja.“
„Ich bin sofort bei dir und hole dich!“
„Opa, bitte komme zu mir. Ich glaube, ich kann nicht mit dem Fahrrad fahren.“
„Hast du starke Schmerzen?“
„Ja, Opa.“
„Dann musst du ins Krankenhaus. Sie müssen dich untersuchen!“
„Nein, ich gehe nicht ins Krankenhaus. So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
Ich überlege: Wenn ich die Polizei einschalte, wird man unsere kleine Enkeltochter stunden-lang vernehmen, sie bis ins letzte Detail ausquetschen und sie dann körperlich gründlichst untersuchen. Das wird ihr, wie ich sie kenne, unendlich peinlich sein. Es wird ihr genauso ergehen wie dem Mädchen, das von den fünf jungen Burschen vergewaltigt wurde. Es wird – vorausgesetzt, der Täter wird gefasst werden – ein mildes Urteil geben und ich werde im Gerichtssaal explodieren.
Wie eine Granate!
Nein, meine Herrschaften, so haben wir nicht gewettet!
Ich komme zu dem Ergebnis, dass ich die Sache selbst in die Hand nehmen werde. Diese Entscheidung ist, so würde ich wohl sagen, auf den Zeitungsbericht bzw. auf das läppische Urteil dieses Richters zurückzuführen. Mein Glaube an die Gerechtigkeit ist zutiefst er-schüttert.
Susanne erklärt mir noch am Telefon ganz genau, wo ich sie finden werde. Ich berichte Erna in knappen Worten von dem furchtbaren Ereignis und sehe, wie entsetzt sie ist. Ja, sie ist völlig erstarrt und atmet stoßweise. Ihr Gesicht ist dunkelrot, und ihre braunen Augen sind weit geöffnet. Sie steht unter Schock, und ich kann ihr nicht helfen.
„Wir müssen sofort die Polizei einschalten, Herbert!“, klagt sie, sich die Tränen aus den Augen wischend.
„Nein, Erna, ich hole jetzt Susanne nach Hause, und du wirst dich um ihren körperlichen Zustand kümmern. Glücklicherweise warst du früher Krankenschwester! Und ich werde mich um die Sache persönlich kümmern.“
„Das kannst du doch nicht machen!“, schreit sie mich an.
„Sei still, Erna. Ich werde den Dreckskerl finden, und dann gnade ihm Gott.“
Resigniert steht sie vor mir, meine kleine Frau, und ich fasse sie an den schmalen Schultern: Ihr langes Haar ist zu einem Knoten fest zusammengebunden. Ratlos blickt sie mich an.
„Erna, wenn wir es der Justiz überlassen, ergeht es Susanne genau wie dem Mädchen, von dem ich dir erzählt habe.“
„Ja, das befürchte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8428-4
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