Eiskinder I
- DIE VERWANDLUNG -
Mysterythriller
von
Alfred J. Schindler
Waldhütte, unsere winzig kleine Ortschaft, die in den Chiemgauer Alpen liegt, befindet sich direkt an der Deutschen Alpenstraße. Sie besteht seit etwa einhundertzwanzig Jahren. Die Ur- und Ururenkel der eigentlichen Gründer, die heute unsere Dorfältesten darstellen, sind sehr stolz auf das gepflegte, schmucke Dörfchen. Ihre Ahnen waren arme Bauern, die sich Ziegen hielten und davon auch hauptsächlich lebten. Man kann die Chronik von Waldhütte in der kleinen Bibliothek, die sich in unserem Gemeindehäuschen befindet, nachlesen.
Und vor genau fünfzig Jahren wurde unser wunderschöner Groschensee, der etwas versteckt zwischen dichten Wäldern in einer Mulde liegt, künstlich angelegt. Er grenzt direkt an einige alte Häuser, die am Rande unserer Ortschaft liegen. Am hinteren, westlichen Ende des Sees ergießt sich ein kleiner Wasserfall in ihn, und am anderen Ende, in östlicher Richtung, liegt der Abfluss des Gewässers, das sich in einem kleinen Bach fortsetzt. Schon damals gab es findige Ingenieure, die sich den Wasserfall zunutze machten. Von den Touristen, die besonders im Hochsommer zu uns kommen, ahnt niemand, dass es sich bei unserem Groschensee um keinen natürlichen See handelt.
Jedenfalls sind wir, meine Frau Brunhilde und ich, der festen Überzeugung, dass nicht nur die Ortschaft Waldhütte, sondern vielmehr der See der eigentliche Anziehungspunkt für die Urlauber ist. Die Dorfältesten wollen davon aber nichts hören. Für sie ist der Ort - ihr Schmuckstück - das Vorrangige. Versteht sich. Aber das würde sich in nächster Zeit...
... ganz gewaltig ändern...
Die Meteorologen haben einen harten, unbarmherzigen Winter prophezeit. Mir persönlich macht diese Eiseskälte nicht viel aus, aber es soll ja Leute geben, die sich vor der klirrenden Kälte fürchten. Das Weihnachtsfest steht vor der Türe, und Sabine, unsere kleine Tochter, die erst kürzlich ihren siebten Geburtstag feierte, hat sich vom Christkind Schlittschuhe gewünscht. All ihre Freundinnen und Freunde besitzen neue Schlittschuhe, wie sie beharrlich behauptet, und so kommt es, dass ihr Wunsch sicherlich in Erfüllung gehen wird.
„Günter, weißt du zufällig, wo meine gefütterten Winterstiefel sind?“
Sie ist unten im Flur, und ich befinde mich gerade an meinem Schreibtisch im Obergeschoss und arbeite an einem neuen Werbeentwurf.
„Woher soll ich das denn wissen?“, schreie ich zurück.
Ich fühle mich in meiner Arbeit gestört und stehe von meinem Stuhl auf. Langsam gehe ich die Treppe hinunter.
„Weißt du, wann Sabine heute von der Schule zurückkommt, Brunhilde?“
„Um dreizehn Uhr dreißig. Vorausgesetzt, der Bus ist pünktlich. Hoffentlich knallt diese alte Karre nicht irgendwann gegen einen Felsen, wenn sie die engen Straßen zwischen Ruhpolding und Waldhütte hinauf- und hinunterfährt.“
Ich versuche, sie zu beruhigen: „Der Wagen ist sicherlich gut gewartet, Brunhilde.“
„Mütter machen sich nun mal mehr Sorgen als die Väter“, antwortet sie.
„Was du dir immer einbildest! Natürlich mache ich mir um Sabine genauso Sorgen wie du! Hast du deine Schuhe gefunden?“
„Ja“, erklärt sie gedämpft.
„Wo waren sie denn?“
„Hier, beim Ofen“, antwortet sie kleinlaut.
Sabine erscheint endlich. Es ist schon kurz vor vierzehn Uhr. Übermütig kommt sie zur Türe herein. Sie ist gut drauf und erzählt sofort die brandaktuellen Neuigkeiten von der Schule:
„Papa, unsere Lehrerin ist krank geworden!“ (Wie sie sich freut!)
„Was fehlt ihr denn, Sabine?“, frage ich neugierig.
„Sie hat eine starke Erkältung, und deswegen fällt der Unterricht morgen und am Freitag aus.“
Leise sage ich zu ihr: „Wie schön für dich! Somit hast du die nächsten zwei Tage schulfrei!“
Brunhilde mischt sich ein: „Was, die Schule fällt aus?“
„Ja, Mama.“ Sabine blinzelt mich verschwörerisch an. Und bevor Brunhilde noch etwas sagen kann, fragt mich unsere Tochter:
„Papa, gehen wir heute zum See?“
„Denkst du denn, dass er schon zugefroren ist?“
„Wir können es ja probieren!“
„Ihr wollt zum See hinunter? Da komme ich mit!“ Sagt Brunhilde.
„Sollen wir unsere Schlittschuhe mitnehmen, Papa?“
„Ja, sicher. Ohne sie können wir ja auf dem Eis schlecht fahren!“
„Kriege ich die neuen Schlittschuhe schon heute?“ Fragt mich unser Goldstück lauernd.
Ich antworte unverfänglich: „Was fragst du mich? Das Christkind ist dafür zuständig!“
Sie schmollt: „Blödsinn. Von wegen Christkind. Du hast sie doch letztens in Bad Reichenhall gekauft, als wir zusammen einkaufen waren.“
Ich stelle mich dumm: „Nicht, dass ich wüsste!“
Wir lachen. Aber Sabine versucht trotzdem, uns weich zu klopfen. Zuerst bittet sie, doch dann fordert sie:
„Ich will sie aber jetzt sofort!“
Brunhilde antwortet: „Hör endlich auf, uns zu nerven! Du kriegst die Schlittschuhe erst am Heiligen Abend!“
Sabine motzt noch ein wenig und resigniert schließlich.
Nachdem wir gegessen und uns warm eingepackt haben, geht es auch schon los. Unseren Jeep brauchen wir für dieses kurze Stück nicht, denn es sind höchstens sechs- bis siebenhundert Meter bis zum See.
Zu unserem Groschensee!
Als wir ins Freie treten, schlägt uns eine eisige Kälte entgegen, allerdings schneit es noch nicht. Durch den starken Wind, der momentan vorherrscht, empfinden wir die Minustemperaturen noch stärker, als sie wirklich sind. Am liebsten würde ich gleich wieder umkehren und mich an meinen Schreibtisch setzen, aber versprochen ist versprochen. Sabine kennt da keine Gnade. Die Schlittschuhe baumeln über unseren Schultern, und wir marschieren sportlich drauf los.
„Ich finde es gar nicht kalt, Papa!“ Sie lächelt mich von unten an.
„Kinder frieren prinzipiell nicht so sehr wie Erwachsene“, antworte ich ihr.
„Und wieso nicht?“, will sie wissen.
„Es hängt mit der Fettschicht zusammen.“
Sie begehrt auf: „Willst du damit sagen, dass ich fett bin?“
„Aber nein.“
„Das hast du aber gesagt.“
Unsere kleine Diskussion verebbt, als wir auf dem Waldweg zwei pubertierende Jungen aus dem Dorf treffen, die auch Richtung Groschensee unterwegs sind. Der eine sieht aus wie ein Streuselkuchen, mit all seinen Pickeln im Gesicht. Der andere ist ein großer, schlaksiger Bursche. Auch sie wollen Schlittschuh-laufen, und wir gehen den Rest des Weges zusammen. Die Kinder kennen sich offensichtlich gut. Einer der jungen Burschen erklärt gerade Sabine, die ihm erzählt hat, dass sie in diesem Jahr zum ersten Mal zum Schlittschuhlaufen gehen werde, dass der See bereits vollständig zugefroren sei. Es würde diesbezüglich also keinerlei Probleme geben.
Als wir an unserem herrlichen See ankommen, der eine wunderbare, spiegelglatte Fläche zeigt und etwa siebenhundert Meter lang und dreihundert Meter breit ist, (das Spiegelbild des seitlich daneben liegenden Felsmassivs kann man im See deutlich erkennen), sehen wir, dass etliche kleine Schilder von der Gemeindever-waltung angebracht wurden. Auf ihnen steht mit dicken Lettern, dass der See ab heute zum Betreten freigegeben ist.
Wir ziehen unsere Schlittschuhe an und Sabine mosert, dass sie immer noch mit diesen alten „Mistdingern“, wie sie sie nennt, herumfahren muss. Unsere Stiefel legen wir am Rande des Sees, direkt unter einem kleinen Gebüsch, ab. Sie zischt mit den beiden Jungen los, als ob sie das gesamte Jahr über gefahren wäre. Sie nehmen sie in die Mitte. Brunhilde und ich stehen mit wackeligen Beinen auf dem fürchterlich glatten Eis und wagen zaghaft die ersten Schritte.
„Es ist doch seltsam, Brunhilde, dass man es nach acht, neun Monaten wieder fast verlernt hat.“
„Da hast du Recht.“ Sie dreht die erste, unsichere Runde. Es ist ein Bild für Götter...
Ganz hinten, am westlichen Seeufer, laufen noch etwa zehn, fünfzehn weitere Personen Schlittschuh. Sicherlich sind es Kinder, die so ausgelassen herumtollen, überlege ich. Man kann es von hier aus nicht erkennen. Die Erwachsenen müssen schließlich um diese Uhrzeit arbeiten.
Nach einer halben Stunde habe ich persönlich fürs erste Mal genug. Ich schwitze innerlich und friere zugleich. Ich laufe auf immer noch staksigen Beinen über den gesamten See ostwärts, hin zu unseren Stiefeln. Brunhilde folgt mir. Sabine kann ja noch eine Zeitlang mit den anderen Kindern herumlaufen, sage ich mir. Am Ufer angekommen, holen wir unsere Stiefel aus dem Gebüsch und setzen uns an den Rand des Sees, um die Schuhe zu wechseln. Aber es bleibt bei dem Versuch.
Plötzlich kommen die beiden jungen Burschen, die Sabine in ihre Mitte genommen hatten, auf ihren Schlittschuhen zu Brunhilde und mir. Sie haben es offensichtlich sehr eilig. Der eine Junge - er ist völlig außer Atem - steht irgendwie unschlüssig am Rande des Sees auf dem Eis und sagt schüchtern zu mir:
„Herr Münster, Sabine ist verschwunden.“
Ich schaue ihn überrascht von unten an und sage: „Wie, verschwunden?“
„Sie war plötzlich weg.“
Brunhilde, die ungefähr zehn Meter von uns entfernt ist, kommt hinzu und fragt neugierig: „Wo ist denn Sabine, Jungs?“
„Frau Münster, ihre Tochter ist plötzlich verschwunden“, erklärt der Knabe ohne Pickel.
Sie ist sofort in Hektik: „Aber sie kann doch nicht einfach so verschwunden sein!“
Ihr Blick ist entsetzt. Sie hält sich die Hand über die Augen und schaut angestrengt über den See. Der andere Junge, der mit den Pickeln, stottert:
„Sie war auf einmal weg. Einfach so.“
„Musste sie austreten, Junge?“, will Brunhilde von ihm wissen.
„Nein, das hätten wir gemerkt.“
„Ist das Eis gebrochen?“, frage ich ihn.
„Nein, das Eis ist absolut stabil, Herr Münster.“
Brunhilde ist panisch: „Wir müssen sofort nach ihr suchen!“
Ohne auf uns zu warten, läuft sie los. Wir müssen den gesamten Weg zurück über den See, in westliche Richtung. Genau dort befinden sich, wie gesagt, die restlichen Kinder. Brunhilde rudert wild mit den Armen, aber sie verliert trotzdem das Gleichgewicht und knallt auf das harte Eis. Dabei flucht sie laut und ausgiebig. Sie ist aber sofort wieder auf den Beinen und schreit uns zu:
„Kommt!“
Schnell schließe ich wieder die Bänder meiner Schlittschuhe und eile Brunhilde und den beiden Jungen, soweit es mir möglich ist, hinterher. Wir durchqueren die gesamte Fläche, links und rechts, vor und wieder zurück, rufen nach Sabine, und schließlich rennt Brunhilde (mit ihren Schlittschuhen) über die anliegenden, gefrorenen Wiesen. Dabei brüllt sie wie besessen nach Sabine. Sie verschwindet zwischen Tannen und dürrem Gestrüpp und versucht, ihr einziges Kind zu finden.
Jedoch ohne Erfolg.
Sabine bleibt verschwunden.
Ich fahre den gesamten See noch einmal ab. Völlig aufgelöst und körperlich als auch nervlich ziemlich am Ende, kommt Brunhilde schließlich nach einer knappen Viertelstunde zurück zu uns auf die Eisfläche. Sie starrt mich mit roten, verheulten Augen an und sagt:
„Günter, wir müssen sofort die Polizei verständigen!“
Ich nicke und ahne, dass das Verschwinden unseres Kindes sehr beunruhigend ist. Schon seit der üblen Nachricht von den beiden Jungen habe ich mich gefragt, wie es möglich sein kann, dass ein Kind - inmitten von etlichen anderen Kindern - so einfach abhanden kommen kann. Normalerweise kann es ja so etwas überhaupt nicht geben. Außer, sie wäre ins Eis eingebrochen. Aber dem ist ja nicht so.
Wir hatten sie eigentlich immer im Auge.
Aber eben nur eigentlich.
Hin- und her gerissen überlegen wir Beide: Sollen wir zur Polizeistation ins Dorf laufen, oder wollen wir doch weitersuchen? Wir starren uns unschlüssig an. Unsere Handys liegen zu Hause - eben dort, wo sie nicht hingehören. Es ist zum aus der Haut fahren! Wir kommen in der allgemeinen Hektik auch nicht auf die Idee, irgendein Schlittschuh laufendes Kind zu fragen, ob es ein Handy bei sich hat. Die beiden Jungen erklären uns (auch sie sind völlig überfordert), dass sie zusammen mit den anderen Kindern weiter nach Sabine suchen werden. Wir überlegen und überlegen, kommen aber zu keiner Lösung des Falles. Nirgends in der Nähe des Sees befindet sich ein Toilettenhäuschen, eine Grillbude oder sonst etwas, was nach einem Anhaltspunkt aussehen würde.
Rings um den See ist - nichts.
Einfach nichts.
Zu sehen ist nur der düstere, nackte Wald, Unmengen von kahlen Gebüschen und einige kleine, private Zufahrtswege, sowie ein alter Jägersteig. Aber auf diesem wird sie ja wohl nicht sitzen.
„Komm, Brunhilde. Lass uns zur Polizei gehen!“
Sie schaut mich völlig verwirrt an und antwortet: „Ja. Das dürfte wohl das Beste sein.“
„Wir müssen sie noch heute finden!“
Ich hätte es besser nicht gesagt, denn jetzt ist sie natürlich noch mehr in Sorge: „Ja, es stimmt. Sie würde in der kommenden Nacht unweigerlich erfrieren.“
Wir stehen immer noch am Rande des Sees und schlottern entsetzlich. Wahrscheinlich ist es der Schock, der unsere Herzen zusammenkrampfen lässt. Plötzlich höre ich ein leises, sirrendes Geräusch.
„Hörst du das auch, Brunhilde?“
„Was denn?“
„Dieses hohe, pfeifende Geräusch!“
Angestrengt schaut sie sich um: „Ich höre nichts.“
„Da ist es wieder! Hör doch!“
„Ich höre nichts! Verflucht noch mal! Wir müssen zur Polizei!“
Schnell entledigen wir uns der Schlittschuhe und schlüpfen in unsere Stiefel. Sabines Schuhe lassen wir dort liegen. Dann laufen wir los. Die Polizeistation liegt inmitten des Ortes. Wir nehmen eine Abkürzung über einen der Zufahrtswege zum See in nordöstliche Richtung, und laufen gehetzt nebeneinander her. Furchtbare Gedanken durchrasen unsere Gehirne. Natürlich muss man von allem Möglichen ausgehen. Aber es ist uns trotzdem unerklärlich, wie sie plötzlich verschwinden konnte.
Einfach so.
Nach etwa zehn Minuten erreichen wir völlig außer Atem die Station. Unser Dorfpolizist, Anton Hintergruber, sitzt gerade - sichtlich gemütlich - an seinem neuen Computer und versucht verzweifelt, damit zurechtzukommen. Er blickt uns völlig überrascht an, als wir - ohne anzuklopfen, wie das normalerweise so üblich ist - in sein Büro hineinplatzen. Brunhilde überschüttet ihn ohne Vorwarnung mit den wichtigsten Daten:
„Herr Hintergruber! Sabine ist beim Schlittschuhlaufen verschwunden! Sie war inmitten einiger Kinder, und wir waren ja auch dabei! Sie ist von einer Sekunde auf die andere weg gewesen!“ Sie holt tief Luft und redet weiter: „Es ist jetzt genau eine Stunde her!“
Behäbig schaut er auf seine Armbanduhr und sagt: „Es ist also jetzt eine Stunde her. Machen Sie sich mal keine Sorgen, nicht wahr?“
Sie schreit ihn an: „Wenn es Ihr Kind wäre, würden Sie ganz anders reden!“
Er versucht zwar, sie zu beruhigen und faselt etwas, was sich so ähnlich anhört wie: „So kenne ich Sie ja gar nicht!“ Aber es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu beruhigen, zu erreichen. Ich versuche, ein wenig zu vermitteln, aber Brunhilde führt sich auf wie eine Furie.
„Sofort unternehmen Sie jetzt etwas!“, keift sie ihn an.
„Frau Münster, wenn ich wegen jedem Kind, das gerade mal eine Stunde verschwunden ist, eine Suchaktion einleiten würde, wäre die Polizei nur noch am Rotieren, nicht wahr? Hatten Sie einen Streit mit ihr, bevor sie verschwand?“
„Nein! Wir hatten keinen Streit! Sie leiten jetzt sofort eine Suchaktion ein, oder ich mache Sie für alle Zeiten fertig!“, kreischt Brunhilde.
Mir ist klar, dass der junge Beamte in gewisser Weise Recht hat, aber er muss auch uns verstehen! Wo soll Sabine denn sein? Ich schäme mich aber trotzdem fast für Brunhilde. Der Ton macht die Musik! Sabine ist noch nie von uns weggelaufen, denn es gab überhaupt keinen Grund dafür. Sie hat ein gutes Elternhaus, und es fehlt ihr an nichts. Da sind wir uns sicher.
Absolut sicher!
Der Beamte stellt uns noch einige blödsinnige Fragen (zumindest empfinden wir sie als solche), und am Schluss seiner Vernehmung will er auch noch wissen, wie viel Geld Sabine dabei hatte.
Er sagt: Hatte!
Nicht hat!
Brunhilde starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an: „Denken sie denn, dass unser Kind verreisen wollte? Was seid ihr Beamten doch für ein hirnrissiges Pack!“
„Noch so eine Beleidigung, und Sie bekommen große Schwierigkeiten, nicht wahr?“, knurrt er ungehalten.
Sie verändert ihre Tonlage ein wenig und fängt nun an, zu bitten: „Helfen Sie uns. Bitte, helfen Sie uns. Wenn wir das Kind heute nicht finden...“
„Ja, ich verstehe Sie doch. Ich leite eine Suchaktion ein.“
Er macht sich endlich ans Telefon und schildert einem seiner Vorgesetzten in Bad Reichenhall die etwas brenzlige Lage. Nach einem langen, langen Gespräch strahlt er uns an und sagt:
„Die Aktion wird sofort gestartet.“
„Wie viele Beamte werden suchen?“, frage ich ihn ungeduldig.
„Das kann ich nicht genau sagen. Ich schätze aber schon, dass der Einsatzwagen voll ist. Es werden so ungefähr zehn bis zwölf Leute sein.“
„Zehn bis zwölf Leute“, wiederhole ich. „Auch Hunde?“
„Moment.“
Er ruft seinen Vorgesetzten noch einmal an und lacht uns an: „Zwei Schäferhunde sind auch im Einsatz.“
„Gut. Zwei Hunde. Die bringen bestimmt mehr als zwölf Beamte“, sage ich und schaue ihn zweideutig an.
Brunhilde klagt: „Wie kannst du in dieser Situation Witze machen?“
„Ich mache keine Witze. Das ist mein völliger Ernst!“
Der Beamte ist frustriert. Jedenfalls scheint es so: „Das ist also Ihr Ernst, Herr Münster, nicht wahr?“ Seine Stirn liegt in Falten, während er vor uns in seinem bequemen Stuhl sitzt und raucht.
„Ja. Das ist es.“
Hintergruber geht auf meine Feststellung nicht weiter ein und sagt zu Brunhilde: „Jetzt beruhigen Sie sich mal. Sie werden sehen, dass unsere Leute Sabine finden werden.“
„Ich hoffe, dass Sie uns im Nachhinein keine Rechnung schicken werden!“, frotzele ich ihn noch an, bevor wir die Station verlassen. Im selben Moment überlege ich, ob ich nicht ein bisschen zu weit gegangen bin.
„Sie meinen, wegen der Suchaktion?“
„Ja. Es sollte nur ein Scherz sein.“
Er meint: „Die Hunde brauchen ein Kleidungsstück oder etwas, was Sabine gehörte“ (er spricht schon wieder in der Vergangenheit, dieser Affe!), „damit sie Witterung aufnehmen können, nicht wahr?“
„Ja, Herr Hintergruber. Sabines Stiefel liegen ja noch am See.“
Plötzlich starrt uns Hintergruber an und sagt: „Es könnte sich natürlich auch um eine Entführung handeln, nicht wahr?“
Völlig perplex antworte ich: „Eine Entführung? Aber wir sind doch keine reichen Leute!“
„Wer weiß, wer weiß“, antwortet der kleine, untersetzte Beamte.
Brunhilde flüstert: „Vielleicht denkt irgendein Irrer, dass wir Geld haben.“
„Das ist doch lächerlich“, gebe ich zurück.
Als wir endlich draußen stehen, zünde ich mir eine Zigarette an, und Brunhilde will auch eine haben. Ich sage zu ihr:
„Dieser Typ sitzt das ganze Jahr in diesem Häuschen und tut nichts. Hier passiert ja auch nie etwas. Und wenn man ihn mal braucht, wird er anmaßend.“
„War ich etwa zu anmaßend?“
„Nun ja. Es hat genügt.“
„Ich könnte ihn...“ Und sie fährt fort: „Die Polizei wird also für den Fall, dass Sabine heute Nacht nicht gefunden wird, auch eine Entführung in Betracht ziehen.“ Sie sieht sehr unglücklich aus.
Da wir innerlich mehr als beunruhigt sind, beschließen wir, zum See zurückzulaufen. Es ist inzwischen schon fast sechzehn Uhr. Um siebzehn Uhr wird es dunkel. Auf dem Weg dorthin jammert Brunhilde:
„Es kann ja sein, dass sie mittlerweile schon wieder aufgetaucht ist!“
Entsetzt schaue ich sie an, da ich ganz in Gedanken war, und sage: „Aufgetaucht?“
„Ich meine natürlich: Zum Vorschein gekommen!“
„Ja, ja, natürlich“, antworte ich geistesabwesend. Wie hatte sie das mit dem „auftauchen“ wohl gemeint? Ich frage sie lieber nicht...
Zu viele Dinge gehen durch meinen Kopf. Wo könnte sie wohl sein? Sie muss doch irgendwo sein! Auf dem See ist sie nicht. Das steht schon einmal fest. Es gab aber keinerlei Risse im Eis, oder gar ein Loch! Sie muss also logischerweise irgendwo am See sein.
Oder ist sie im Wald?
Oder am Wasserfall!
Aber was würde sie am Wasserfall wollen? Oder ist sie in den kleinen Bach gefallen? Nein. Unmöglich. Denn der liegt genau auf der anderen, östlichen Seite des Sees. Und als sie verschwand, war sie auf der westlichen Seite!
„Komm, Brunhilde. Wenn sie noch nicht da ist, schauen wir am Wasserfall.“
„Ja, das wäre noch eine Möglichkeit.“
Zuvor jedoch laufen wir zu der Stelle, an der ihre Stiefel liegen. Als ich mich über das Gebüsch beuge, stelle ich erstaunt fest, dass sie verschwunden sind. Sie muss in unserer Abwesenheit hier gewesen sein und die Schlittschuhe gegen die Schuhe getauscht haben! Ist sie etwa...
„Brunhilde, die Schuhe sind weg. Sie muss nach Hause gelaufen sein.“ Ich atme tief durch.
Und ich spüre, wie sehr Brunhilde nach dem Strohhalm greift, den ich ihr zugeworfen habe. Sie antwortet: „Natürlich! Sie ist nach Hause gegangen! So einfach ist das!“
„Du gehst jetzt heim und schaust, ob sie da ist. Wenn du sie dort antriffst, kommst du aber bitte trotzdem wieder zurück, damit wir die Suchaktion abblasen können. Und rufe die Polizei an! Wenn sie nicht zu Hause ist, bringst du bitte eines ihrer Stofftiere mit. Ich gehe alleine zum Wasserfall, und suche sie dort. Einverstanden?“
„Ja. Ich bin mir fast sicher, dass sie zu Hause ist. Dass wir nicht schon früher darauf gekommen sind?“ Ich sehe, wie ihre Augen flackern.
Sie hofft...
Brunhilde macht sich umgehend auf den Rückweg. Ich rufe ihr noch nach, dass sie darauf gefasst sein muss, Sabine daheim nicht anzutreffen. Aber sie hört mich nicht mehr. Sie ist schon zu weit entfernt. Ich überlege: Falls Sabine nicht zu Hause ist, dann spielt sie am Wasserfall. Aber so recht kann ich nicht daran glauben. Schließlich ist unsere Kleine nicht schwachsinnig! Außerdem habe ich ein ganz fürchterliches Gefühl bei dieser Sache. Eine gewisse Vorahnung treibt mir trotz der Eiseskälte dicke Schweißperlen auf die Stirn.
Ich mache mich auf den Weg und betrachte die Szene: Die Kinder laufen völlig normal und ohne Hektik herum. Suchen sie denn nicht nach Sabine? Aber man kann es ihnen nicht verdenken: Wo sollen sie denn suchen?
Ja, wo?
Es sind inzwischen sicherlich zwanzig oder mehr Kinder auf dem Eis. Die beiden Jungen, die uns, zusammen mit Sabine, zum See begleitet hatten, kommen auf ihren Schlittschuhen auf mich zu. Der Schlaksige sagt:
„Wir haben sie nicht gefunden.“
Der andere steht betreten daneben und schweigt.
Mein Gesichtsausdruck entgleist: „Ihr habt sie also nicht gefunden?“
„Nein, Herr Münster.“
„Wie heißt du eigentlich, Junge?“, frage ich ihn.
„Ich bin der Dieter. Und das ist mein Freund Ludwig.“
„So, so“, antworte ich.
Ich frage: „Kennt ihr Sabine gut?“
„Ja, wir sind zwar einige Klassen über ihr, aber wir treffen uns immer auf dem Schulhof.“
Mir geht plötzlich folgender Gedanke durch den Kopf: Ist es nicht komisch, dass sich vierzehnjährige Buben für ein siebenjähriges Mädchen interessieren? Ich fahre mir mit der klammen Hand übers Gesicht und sage:
„Habt ihr auch dieses seltsame Geräusch gehört?“
Der Pickelige meint: „Welches Geräusch denn?“
„Es kam vom See her. Vorher, als sich meine Frau und ich auf den Weg zur Polizei machten.“
Ludwig schaut seinen Freund Dieter an (dieser hat furchtbar abstehende Ohren) und fragt ihn: „Hast du ein Geräusch gehört?“
„Nein. Habe ich nicht.“
Ich erkläre: „Es war ein sehr hoher Ton. Irgendwie pfeifend und schrill.“
Sie schütteln die Köpfe.
„Aber ich habe es ganz deutlich vernommen!“ Fahre ich beharrlich fort. „Man konnte es sehr gut hören!“
Genau in der Sekunde, als ich versuchen möchte, den beiden klar zu machen, dass ich mir die Sache mit dem Ton nicht eingebildet hatte, hört man plötzlich diesen schrillen, singenden Klang. Überrascht schauen wir uns an. Sie haben es also jetzt doch gehört! Fährt es mir durch den Kopf. Ich habe es mir nicht eingebildet. Was ist das für ein ungewöhnliches Geräusch? Ich kann es bei aller Einbildungskraft nirgends zuordnen.
„Hört ihr es?“
Ein einstimmiges „Ja“ ist die Folge. Sie hören es also auch. (Wie gesagt.) Und sie schauen völlig verblüfft.
„Was kann das sein, Jungs?“
„Keine Ahnung.“
Und plötzlich sagt der Pickelmann Ludwig: „Es hört sich an, als ob es aus dem See käme.“
„... aus dem See“, wiederhole ich fast andächtig.
Ja, es stimmt, was er sagt. Es klingt ganz so, als ob es von unten kommen würde.
Von unten!
Ich verabschiede mich von den beiden Jungen, die sofort zu ihren anderen Freunden zurückkehren, und laufe quer über den See Richtung Wasserfall. Dieser liegt sehr versteckt am Felsmassiv. Jedoch, wenn man dem plätschernden Geräusch nachgeht, kann man ihn sehr leicht finden. Ich rufe und brülle nach Sabine, jedoch ohne Erfolg. In dem kleinen Gewässer, das der Wasserfall am Ende seines steilen Weges bildet, liegt sie sicherlich auch nicht. Die Wasserhöhe beträgt dort höchstens fünfzehn Zentimeter. Ertrunken kann sie also nicht sein, außer, sie liegt mit dem Gesicht nach unten. Was für ein furchtbarer Gedanke! Ich durchsuche das klare Gebirgswasser aufs Genaueste und mache mir schließlich die Mühe, an dem eiskalten, zum Teil nassen Gestein etwa fünfzehn Meter hochzuklettern B direkt am Wasserfall entlang. Ich brülle mir die Seele aus dem Leib, aber es kommt keine Antwort. Und ich werde von Minute zu Minute verzweifelter. Von hier oben kann ich den gesamten See überblicken. Wenn ich jetzt nur mein Fernglas bei mir hätte! Aber trotz all meiner Bemühungen gibt es keine Erfolgsmeldung! Sabine ist nicht zu finden.
Ob sie schon...
Ich darf gar nicht daran denken.
Nein.
Sie ist irgendwo in der Nähe.
Da bin ich mir sicher.
Fast sicher.
Und ich ahne gar nicht, wie recht ich behalten soll...
Bevor ich wieder hinabsteigen kann, höre ich den Einsatzwagen schon von weiter Ferne: Sie kommen! Ja, endlich! Sie werden unsere Sabine finden. Am meisten erhoffe ich mir natürlich von den Hunden. Aber werden sie Sabines Witterung aufnehmen können? Wo bleibt denn Brunhilde so lange? Verflucht!
Jede Minute zählt...
Gerade als ich den kurzen, aber äußerst gefährlichen Abstieg wage, sehe ich in weiter Ferne Brunhilde über den See laufen. Ich erkenne sie an ihrem langen, rot-schwarzen Haar, das bei jedem ihrer Schritte wild hin- und herflattert. Sie hält etwas Großes, Unförmiges in ihrer Hand. Ist das etwa Sabines Plüschbär? Sie ist also nicht zu Hause. Und ich spüre einen stechenden Schmerz in der Magengegend. Ich werfe einen Blick nach oben und bin regelrecht entsetzt: Dort zeichnen sich die ersten Schneewolken ab. Außerdem wird es langsam dunkel. Ein Blick auf meine Armbanduhr sagt mir: Es ist siebzehn Uhr fünfzehn.
Sabine ist seit mehr als zwei Stunden verschollen.
Endlich bin ich wieder unten am See. Ich habe es geschafft, auf dem Stein nicht auszurutschen. Und ich winke Brunhilde zu, die gerade näher kommt. Jetzt kann ich bereits erkennen, was sie mit anschleppt: Es ist tatsächlich der braune Teddybär, den wir Sabine zu ihrem dritten Geburtstag geschenkt hatten. Ihn liebte - nein, liebt sie - über alles.
Brunhilde erzählt mir keuchend, dass Sabine nicht zu Hause war, und ich teile ihr mit, dass mein Suchen am Wasserfall ebenfalls ohne Erfolg geblieben ist.
Das Sondereinsatzfahrzeug erscheint mit knirschenden Reifen. Nun steht es am Rande des Sees, und die Beamten springen sportlich aus dem Fahrzeug. Wir melden uns sofort bei dem Einsatzleiter, einem ruhig wirkenden, sympathischen Mann um die Vierzig, der den großen Kastenwagen steuerte, und stellen uns bei ihm vor. Er hört uns schweigend zu, und seine ganze Art drückt absolutes Interesse und Konzentration aus. Dieser Mann ist dem ersten Eindruck nach ein Vollprofi. Es sind zwar insgesamt nur sechs Leute, die nun neben uns stehen und auf den Einsatzbefehl ihres Chefs warten, und es ist auch nur ein Schäferhund vorhanden, aber diese Crew erscheint uns doch als sehr kompetent.
Herr Müller, der Chef des Trupps, nimmt Brunhilde den riesigen Bären aus der Hand (er trägt Handschuhe) und legt ihn vor „Benno“, den Schäferhund, auf den gefrorenen Boden. Dieser bewegt sich nervös hin und her. Ein prächtiges Tier! Ich frage mich, warum es so unruhig ist. Ich betrachte die Männer und denke: Sicherlich sind diese seltsamen Anzüge, die sie tragen, gegen die Kälte. Auch verfügen sie alle über Funksprechgeräte und einiges andere mehr. Benno schnüffelt sofort höchst interessiert an dem Bären herum. Ich warte regelrecht darauf, dass er in das Vieh hineinbeißt. Aber er tut es natürlich nicht. Sein Herrchen, Herr Müller, lässt seinem treuen Hund alle Zeit der Welt. Ich sehe, wie Brunhilde immer nervöser wird. Mit einem kurzen Blick gebe ich ihr zu verstehen, dass sie sich zurückhalten soll. Auf eine Minute mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Herr Müller erklärt uns mit ruhiger Stimme, dass er bereits alle Einzelheiten von seinem Kollegen Hintergruber wisse, und schließlich beginnt die...
... große Suchaktion.
Wir beobachten, wie die Leute nach allen Richtungen ausschwärmen. Müller hat Benno an der Leine (bzw. umgekehrt), der unschlüssig dasteht und leise knurrt.
„Warum knurrt er denn?“, will Brunhilde von dem Beamten wissen. Sie ist sehr aufgeregt und weicht nicht von seiner Seite.
„Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, Frau Münster. Aber bitte lassen Sie uns jetzt alleine. Sie verstehen. Der Hund darf nicht abgelenkt werden.“
Ich antworte ruhig: „Aber natürlich. Selbstverständlich. Wir warten dort hinten am Wagen auf Sie.“
„Ja, tun Sie das“, meint er höflich. Er hat seine Sache voll im Griff, wie es aussieht.
Als sich Müller mit Benno etwas von uns entfernt, möchte Brunhilde hinterherlaufen. Doch ich halte sie zurück:
„Du hast gehört, was er gesagt hat. Wir würden nur seine Arbeit behindern. Und das wollen wir doch nicht, oder? Außerdem hat der Bär nun auch etwas von deinem Geruch an sich.“
Sie blickt mich an und ihr Blick ist voll tiefer Trauer: „Ja, ich verstehe.“
Und plötzlich beginnt es zu schneien. Der Wind hat sich etwas gelegt. Die Männer sind nicht mehr zu sehen. Sie verwenden sicherlich ihre Hochleistungstaschenlampen in dem dichten Unterholz, überlege ich.
Durch den plötzlichen Einbruch der Dunkelheit lichtet sich auch der See. Die Kinder müssen nach Hause.
An oder auf dem Gewässer befindet sich ja keinerlei Beleuchtung. Nur Dieter mit den abstehenden Ohren und Ludwig lassen sich nicht davon abhalten, den Werdegang der Suchaktion mit neugierigen Blicken zu verfolgen. Sie tun natürlich so, als ob sie völlig neutral auf dem Eis umherlaufen würden. Die beiden Schlitzohren wollen verständlicherweise auch wissen, wo Sabine ist.
Müller folgt nun seinem Prachtexemplar von Hund. Wir sind aufs Äußerste gespannt, wohin ihn der Hund wohl ziehen wird. Einmal sehen wir ihn in zweihundert Metern Entfernung zwischen Gebüschen und Wald verschwinden, doch dann taucht er wieder ganz woanders auf. Das endgültige Eintreten der Dunkelheit verhindert schließlich das weitere Beobachten unsererseits. Wir bleiben aber am Einsatzwagen stehen und harren der Dinge, die da kommen werden. Und wir frieren entsetzlich.
Nun haben die beiden Jungen aber auch genug. Sie kommen noch kurz zu uns her und wünschen uns viel Glück. Ich sehe ihnen deutlich an, wie traurig und aufgeregt sie über Sabines Abhandenkommen sind. Und Brunhilde weint bitterlich. Sie hat eine panische Angst um unser Kind. Mir fällt es auf einmal schwer, richtig durchzuatmen. Ein Kloß sitzt in meiner Kehle. Eine unsichtbare Pranke greift nach meinem Hals, je mehr ich nachdenke.
Plötzlich sehen wir auf dem See etwas blinken. Es ist sicherlich eine Taschenlampe, überlege ich. Brunhilde ist ganz aufgeregt und will von mir wissen, was das wohl sei. Und dann hören wir Müller von weitem rufen:
„Benno sucht auf dem Eis! Hören Sie mich?“
„Ja!“, schreie ich zurück.
Und Brunhilde ist total überfordert.
Sie möchte von mir wissen, was das bedeuten soll.
„Ich weiß es auch nicht!“, sage ich zu ihr. Ich versuche, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Jedoch gelingt es mir nicht.
„Warum sucht der Hund auf dem Eis, Günter?“
„Ich weiß es nicht.“
„Er kann doch nicht auf dem Eis suchen!“, jammert sie.
Und ich schweige.
Auch mir ist das Verhalten des Hundes unerklärlich.
Einige Minuten lang wandert Müller mit Benno über den See, um dann endlich zu uns zurückzukommen. Noch bevor wir uns unterhalten können, erscheinen die anderen Beamten nach und nach auf der Bildfläche. Sie haben sich bestimmt über Funk abgesprochen, überlege ich. Aus ihrer Unterhaltung hören wir sofort heraus, dass ihre Suche erfolglos war.
„Herr Münster, ich kann mir Bennos Verhalten auch nicht so recht erklären. Nachdem er den Rand des Waldes abgesucht hatte, zog er mich vehement aufs Eis hinaus. Aber dort kann Ihre kleine Tochter ja schließlich nicht sein!“
Ich schaue ihn an und sage: „Nein. Das kann sie wohl nicht.“
Mein Hals hat sich nach dieser Erklärung dermaßen zusammengeschnürt, dass ich glaube, keine Luft mehr zu kriegen. Mir wird in diesem Moment klar, dass Sabine etwas Ernsthaftes zugestoßen sein muss. Etwas Furchtbares, das wahrscheinlich unser gesamtes, weiteres Leben total verändern wird. Brunhilde schweigt und starrt mich an. Es ist zwar inzwischen schon dunkel, aber ich kann ihr Gesicht doch so einigermaßen erkennen. Es ist eine einzige Maske. Und ihre Augen sind verschleiert. Aber ich kann ihr nicht helfen.
Ich beobachte den Schäferhund, der trotz bestimmter Anweisungen seines Herrchens, sich ruhig zu verhalten, immer wieder über den See blickt. Er wittert und lechzt, und es kommt mir fast so vor, als ob er noch einmal auf die Eisfläche hinaus möchte. Die Männer stehen geduldig um uns herum und warten auf weitere Anordnungen ihres Vorgesetzten.
Jedoch es folgen keine.
Herr Müller sagt: „Liebe Familie Münster! Wenn Sie jetzt gleich anschließend nach Hause kommen, rufen Sie bitte alle Verwandte, Freunde und Bekannten an, und erkundigen sich ganz unverfänglich nach ihrer Tochter. Aber machen Sie die Leute möglichst nicht kopfscheu. Außerdem bitte ich Sie, Herr Münster, dass Sie so schnell wie möglich, also in der nächsten Stunde, Herrn Hintergruber ein aktuelles Photo Ihrer Tochter vorbeibringen. Er wird es vervielfältigen, und wir werden sowohl in Waldhütte als auch in der weiteren Umgebung dieses Bild der Vermissten aushängen. Dies ist das, was wir vorerst für Sie tun können. Sollte sich Sabine aber wieder bei Ihnen einfinden, so sagen Sie dem Kollegen Hintergruber umgehend Bescheid. Er kann dann die Suchaktion sofort abblasen. Haben Sie alles verstanden?“
Brunhilde schaut ihn von unten an und sagt: „Ja, Herr Müller.“
„Wir bedanken uns im Voraus für Ihre Hilfe!“, vervollständige ich, und meine damit die gesamte Mannschaft.
„Ach, und noch etwas: Ich weiß nicht, ob es Ihnen Hintergruber schon gesagt hat: Es könnte sich auch um eine Entführung handeln!“
Ich antworte: „Aber wir sind doch ganz einfache Leute!“
„Nun, angenommen, irgendwer erzählte im Dorf, dass Sie Geld haben. Und schon haben wir das Motiv.“
Wir beide sind sprachlos.
Er fährt fort: „Wenn sich bei Ihnen diesbezüglich jemand melden sollte, rufen Sie uns sofort an. Hier ist meine Karte. (Er reicht sie mir.) Ich bin für Sie durchgehend erreichbar. Falls ein etwaiger Entführer von Ihnen verlangen sollte, uns nicht zu verständigen, so rufen Sie uns bitte trotzdem an. Wenn Sie das nicht tun, können wir Ihnen leider nicht weiterhelfen.“ Er lächelt verbindlich, dieser große, stattliche Mann. Wir nicken.
Wir nehmen den Bären, und unsere Wege trennen sich. Mein Bild von der Polizei im Allgemeinen hat sich schlagartig verbessert. Man kann sagen, was man will, aber sie helfen doch sehr professionell, wenn Not am Mann - bzw. am Kind - ist.
Zuhause angekommen, rufe ich zuerst unsere Eltern, dann die Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten unserer Familien an. Alle sind sehr besorgt um Sabine. Danach kommen alle Freunde und Bekannte dran, während Brunhilde ein neues Photo von unserer Tochter holt. Sie geht sich duschen, denn sie friert entsetzlich, wie sie sagt.
All meine Anrufe bei der Verwandtschaft und im Freundeskreis verlaufen leider ohne Erfolg, und so kommt es, dass ich mich noch einmal auf den Weg mache, um dem Dienststellenleiter das Bild zu bringen. Er wartet bereits darauf, und ich staune, wie schnell er das Photo in einem seiner Geräte vergrößert und dann vervielfältigt.
„Entschuldigen Sie, dass wir vorhin zu Ihnen so garstig waren.“
„Vergessen Sie es, Herr Münster. Ich kann mich in Ihre momentane Situation sehr gut hineinversetzen.“
„Danke.“
„Ist Ihnen zu der ganzen Sache noch irgendetwas eingefallen?“ Er blickt mich erwartungsvoll an.
Ich stehe unschlüssig da und sage: „Ja, das ist es. Ich hörte ein seltsam pfeifendes, sirrendes Geräusch.“
„Waren das vielleicht die Kufen der Schlittschuhe?“, will er wissen.
„Nein. In dem Moment, als ich diese Geräusche hörte, fuhr von uns gerade keiner, und die Kinder waren von uns sehr weit entfernt, also an der westlichen Seite des Sees.“
„Komisch. Ein sirrendes Geräusch.“
„Ja, ich konnte es nirgends einordnen.“
„Wir hatten doch heute Nachmittag einen starken Wind, nicht wahr? Vielleicht waren es die Leitungen der Telefonmasten!“
„Sind denn da welche?“
„Ja, ganz in der Nähe verlaufen diese Masten, deren Weg sich durch das ganze Land zieht.“
„Nun, vielleicht waren es ja Leitungen, die das Sirren verursachten. Aber dieses Geräusch wäre mir doch schon in den letzten Jahren aufgefallen. Oder gab es damals die Leitungen noch nicht?“
„Aber natürlich gab es sie.“ Er blickt mich verwundert an. So, als ob bei mir eine Schraube locker wäre.
„Dann waren sie es auch nicht.“
„Wir werden der Sache nachgehen. Und machen Sie sich jetzt mal noch nicht verrückt wegen Sabine. Es verschwanden schon viele, kleine Mädchen, weil sie z. B. etwas, was sie unbedingt haben wollten, von ihren Eltern nicht gekriegt hatten, nicht wahr?“
Ich glotze ihn an und sage: „Sie wollte unbedingt schon heute die neuen Schlittschuhe, die sie übernächste Woche zu Weihnachten kriegen sollte.“
Hellhörig geworden, meint er: „Das wäre ein Anhaltspunkt, nicht wahr? Vielleicht will sie Ihnen nur ihre Macht beweisen!“
„Mein Gott, wenn das der Grund wäre...“
„Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Gar nichts. Aber kleine Mädchen sind nun mal ab und zu recht bockig.“
„Unseres ist aber nie bockig...“
„Jetzt gehen Sie mal schnell nach Hause zu Ihrer Frau und richten Sie beste Grüße an Sie aus! Trösten sie Brunhilde ein wenig, und warten Sie ab. Ich kümmere mich jetzt sofort um die Photo-Aktion.“
„Danke. Kriegen wir von Ihnen Bescheid, wenn sich etwas tut?“
„Ja. Selbstverständlich. Gute Nacht.“
Als ich kurze Zeit später nach Hause komme, sitzt Brunhilde, zusammengerollt wie eine kleine Katze, auf unserem Sofa im Wohnzimmer und starrt vor sich hin. Ihr nasses Haar hat sie in ein Handtuch eingewickelt. Ich erzähle ihr von dem angenehmen Gespräch mit Hintergruber und versuche, ihr zu erklären, dass die Photo-Aktion gerade jetzt anlaufen würde, aber sie antwortet nicht. Apathisch blickt sie an die Schrankwand.
Ich sage zu ihr: „Wir dürfen jetzt nicht den Kopf hängen lassen.“
„Findest du nicht auch, dass sich der Hund sehr merkwürdig benommen hat?“
„Ehrlich gesagt, ja.“
„Er suchte auf dem See nach ihr, Günter.“
„Vielleicht war es kein richtiger Fährtenhund?“
Sie blickt hoch und meint: „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, oder? Dieser Hund war der einzige Profi unter der gesamten Crew!“
„Abgesehen, von Herrn Müller“, ergänze ich.
„Ja, und Herr Müller.“
Und plötzlich - wie aus heiterem Himmel - sagt sie leise:
„Mit dem See stimmt etwas nicht.“
„Wie - stimmt nicht?“
„Du hast doch als Erster dieses unerklärliche Geräusch gehört.“
„Ja, ja, das habe ich. Aber Hintergruber meinte, dass dies die Windgeräusche der Telefonleitungen waren, die zwischen den hohen Masten hängen.“
„Masten, Masten. Der spinnt doch.“
„Meinst du?“
„Ja. Meine ich. Dann wäre es uns doch schon letztes oder vorletztes Jahr aufgefallen.“
„Vielleicht waren wir damals beim Schlittschuhlaufen, als kein Wind war?“
„Sag mal, glaubst du denn diesen Unsinn?“
„Nein.“
„Na, siehst du.“
„Und was soll es sonst gewesen sein, Brunhilde?“
Sie blickt mich durchdringend an und zischt:
„Dieses Geräusch kam aus dem See.“
Es ist sehr ruhig in unserem Haus. Ja, das kann man wohl behaupten. Der Fernseher läuft, aber keiner von uns beiden versteht den Inhalt des Filmes, der gerade gezeigt wird. Brunhilde steht auf, blickt auf ihre Uhr und sagt:
„Es ist schon zweiundzwanzig Uhr.“
Ich weiß, was sie damit ausdrücken will: Die Überlebenschancen unseres Kindes schwinden.
Von Stunde zu Stunde.
Von Minute zu Minute.
Sie geht nach oben, wo sowohl Sabines Zimmer, unser Schlafzimmer, als auch mein Arbeitszimmer (wie erwähnt) liegen. Und plötzlich höre ich einen spitzen Schrei. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und rufe:
„Was ist los, Brunhilde?“ Meine Nerven sind aufs Äußerste angespannt.
„Komm schnell!“ Höre ich sie rufen.
Ich renne die Treppe hoch und stürme in Sabines Zimmer. Brunhilde steht inmitten des Raumes und deutet mit dem ausgestreckten Arm auf den Fußboden:
„Da!“
Ich blicke an die Stelle, die sie mir zeigt und sehe lange Wasserspuren. Was soll das denn sein? Überlege ich.
„Brunhilde, was ist das?“
Sie flüstert: „Das sind die Spuren von nassen Schlittschuhen.“
„... Schlittschuhen?“
„Günter, sie war hier.“
„Sie war hier?“
„Ja.“
„Aber wir waren doch andauernd im Haus! Zumindest du!“
„Sie war hier. Der Bär ist verschwunden.“
„Der Bär ist...“
„Ich habe ihn, als wir nach Hause kamen, auf ihr Bett gesetzt.“
„Sabine spielt mit uns ein böses Spiel.“
„Das glaube ich nicht.“
Ich verliere die Nerven und schreie sie an: „Aber sie war doch hier! Und sie hat den Bären mitgenommen!“
„Brülle mich nie mehr so an. Hörst du? Nie mehr.“
„Bitte verzeih mir. Meine Nerven rotieren.“
„Meine auch, aber deswegen schreie ich nicht.“
Ich fasse mir an den Kopf und frage sie leise: „Was denkst du denn, was sie mit uns macht?“
„Sie würde so etwas Gemeines niemals tun. Niemals. Außerdem wusste sie doch, dass die neuen Schlittschuhe ihr Weihnachtsgeschenk sein würden. Und außerdem ist sie ein liebes, bescheidenes Mädchen, wie du weißt. Oder ist dir das nicht klar?“
„Aber natürlich ist es mir das, Liebling.“
„Und was tun wir jetzt?“
„Ich würde vorschlagen, dass wir der Polizei noch nichts von den Wasserspuren sagen. Denn dann zählen sie Eins und Eins zusammen und blasen die gesamte Suchaktion ab.“
„Du hast völlig Recht. Wir halten uns vorerst zurück. Die Sache mit dem Verschwinden des Bären können wir ja immer noch sagen.“
„Brunhilde, sie muss also definitiv hier gewesen sein, ohne dass wir es gemerkt haben.“
„Sie muss sich durch die Haustüre über den Flur, die Treppe nach oben, in ihr Zimmer geschlichen haben.“
Ich schaue sie intensiv an und frage: „Aber, was denkt sie sich denn dabei?“
„Vielleicht braucht sie noch mehr Liebe.“
„Sie kriegt die Zuneigung der gesamten Erde. Was sollen wir denn sonst noch alles tun, um ihr zu zeigen, wie sehr wir sie lieben?“
„Kinder empfinden gewisse Dinge etwas anders, als wir Erwachsenen. Ich sehe das tagtäglich in unserer Kindertagesstätte.“
„Ja, aber das sind doch fast durchwegs Schlüsselkinder! Wenn Sabine von der Schule heimkommt, bin ich doch meistens oben in meinem Büro! Sie muss sich nicht einmal ihr Mittagessen aufkochen, weil ich das für sie tue!“
„Die Seele des Menschen ist unergründlich. Wer weiß, was so alles in ihr vor sich geht.“
„Aber sie würde es uns doch sagen, wenn es ihr an irgendetwas fehlen würde!“
„Das ist ja das Problem: Nicht jedes Kind kann so einfach über alles sprechen, was es bedrückt. Das kann die verschiedensten Gründe haben.“
„Welche Gründe denn?“
„Nerve mich jetzt nicht länger mit deinen ewigen Fragen!“
Ich gehe zu ihr und nehme sie in den Arm. Sie erwidert meine zärtliche Geste, und dann verlassen wir Sabines Zimmer wieder. Als wir unten im Wohnzimmer sind, sage ich:
„Ich schätze, dass sie die nächsten zwei Stunden zu uns zurückkommt.“
Brunhilde schweigt.
„Was meinst du?“, frage ich sie.
„Ich befürchte, dass ihr etwas ganz Schreckliches zugestoßen ist.“
„Aber dann hätte sie doch nicht klammheimlich nach Hause gehen und sich den Bären holen können!“
„Da steckt etwas Anderes dahinter. Etwas ganz Anderes.“
„Ja, was denn?“
„Ich weiß es nicht.“
Nach einer kurzen Pause sage ich zu ihr: „Ich gehe jetzt noch einmal zum See hinunter.“
„Ja?“
„Ja.“
„Und was machst du da?“
„Ich suche.“
„Nimm die große Taschenlampe aus der Garage mit.“
„Ja.“
Genau in diesem Moment klingelt unser Telefon. Ich gehe ran. Es meldet sich ein Reporter, und er will wissen, ob es stimmt, dass unser Mädchen verschwunden ist. Wir bejahen, und er bittet uns um einen persönlichen Termin. Ich werfe einen kurzen Blick zu Brunhil-
de, und mir ist klar, dass sie es strikt ablehnen würde, jetzt mit irgendeinem Reporter zu reden. Also tue ich das, was ich für richtig halte: Ich mache ihm klar, dass wir nicht in der Lage sind, ein Interview zu geben. Er wirkt verärgert, aber das ist mir völlig egal. Abschließend bitte ich ihn eindringlich, uns in Zukunft nicht mehr zu belästigen.
„Haben Sie etwas zu verbergen?“ Fragt er mich abschließend provozierend.
Ich lege auf. Es ist schon seltsam, wie schnell die Medien von manchen Ereignissen Wind bekommen. Normal ist das sicherlich nicht!
„Brunhilde, ich frage mich ernsthaft, wie dieser Reporter an diese Information gelangt ist!“
„Nun, es kann eines der Kinder gewesen sein, das seinen Eltern etwas über das Verschwinden von Sabine erzählt hat.“
„Oder der Polizeiapparat ist undicht.“
Sie legt den Kopf zur Seite und sagt: „Das glaube ich nicht.“
„Aber, es ist doch noch gar kein offizieller Fall! Oder?“
„Für die Presse anscheinend schon!“
„Die sollen uns bloß in Ruhe lassen!“
„Ja, ich befürchte, dass es bei diesem einen Anruf nicht bleiben wird!“
Ich ziehe mich an und verlasse unser Haus. Mit weit ausholenden Schritten marschiere ich Richtung See. In mir brodelt es. Die Lampe mit ihrem starken Lichtschein verhilft mir, nicht über armdicke Baumwurzeln und sonstige Hindernisse zu stürzen, denn der Weg ist unbeleuchtet. Stockfinstere Nacht umgibt mich. Als ich von unserem Groschensee noch ungefähr zwanzig, fünfundzwanzig Meter entfernt bin, höre ich plötzlich wieder diesen schrillen, leicht aufdringlichen Ton. Ich bleibe stehen und lausche, kann aber nicht eruieren, woher der Ton kommt. Vorsichtig betrete ich das Eis und laufe langsam zur Mitte des Sees. Der Ton lässt nach und schwillt dann wieder an.
Auf - ab, auf - ab...
Es hört sich äußerst unheimlich an.
Es ist (wie gesagt) stockdunkel um mich herum, und auf dem See liegen etwa fünf bis zehn Zentimeter hoher Neuschnee. Ich stelle mir vor, dass Sabine dort irgendwo liegt und erfroren ist. Ihr letzter Gedanke war vielleicht der Wunsch, die neuen Schlittschuhe bekommen zu haben. Es schüttelt mich innerlich und ich fange an zu weinen. Diese furchtbare Machtlosigkeit bringt mich fast um. Andererseits tröste ich mich mit dem Gedanken, dass unsere Kleine ja erst vor einer Stunde bei uns im Haus war.
Gewesen sein muss!
Denn der Bär konnte nicht von alleine weglaufen! Und die Wasserspuren sprachen Bände... - Verflucht! Was geht denn in ihrem (netten) Köpfchen vor sich? Wieso hat sie sich den Bären geholt? War es ein Zeichen, uns zu sagen:
„Seht ihr, der Bär ist mir viel lieber als ihr!“
Ja, so könnte es wohl gewesen sein. Könnte - muss es aber nicht...
Ich blicke zögerlich um mich und plötzlich spüre ich, wie überaus bedrohlich der See, ganz unabhängig von diesem schrecklich nervigen Sirren, und dem düster herumliegenden Wald, auf mich wirkt. Ich komme mir dem Gewässer irgendwie ausgeliefert vor. Schwach und zerbrechlich. Gut, ich verfüge über ein großes Maß an Phantasie, die ich in meinem Beruf auch haben muss, um erfolgreich zu sein, aber ich weiß nicht, wie ich es erklären soll:
Der See zeigt mir seine Macht.
Seine unbändige Kraft.
Schwarz und abwartend.
Obwohl es nun wieder mucksmäuschenstill ist und kein Windchen weht, empfinde ich es so. Dieses Ausgeliefertsein ist ein schreckliches Gefühl. Ich fühle mich so hilflos und so unendlich klein. Ich ziehe mein Fahrtenmesser aus der Hosentasche und beginne, hier in der Mitte des Sees, ein kleines Loch zu bohren. Dies war eigentlich der Hauptgrund, noch einmal hierher zu laufen. Ich möchte unbedingt wissen, wie dick das Eis ist. Obwohl mir klar ist, dass die Gemeindeverwaltung den gesamten See überprüft hatte, bevor sie ihn freigab, möchte ich es noch genauer wissen. Und ich beginne, mit dem schweren Messer ins Eis zu schlagen. Ich hatte zwar nachmittags den gesamten See nach einem Loch abgesucht, aber ich möchte nun doch Gewissheit über die Dicke des Eises.
Peng! Peng!
Das Eis ist wahnsinnig hart.
Es ist unnatürlich hart.
Das merke ich schon bei den ersten Schlägen. Wie kann dieses elende Eis in seiner Substanz so fest gefroren sein? Jedenfalls entspricht die Härte des Eises nicht der Norm. Das dürfte wohl klar sein.
Urplötzlich, nach etwa dreißig Sekunden, habe ich das Gefühl, dass der See nicht will, dass ich dies tue. Ich fasse mir an den Kopf. Was habe ich für merkwürdige Anwandlungen? Der See möchte nicht, dass ich ihn... verletze. Jetzt schlägt es aber Dreizehn.
Günter, was ist los mit dir?
Ich bohre trotzdem weiter, obwohl dieses seltsame Gefühl bleibt. Das Loch wird im Durchmesser automatisch immer größer, je tiefer ich in das (wahnsinnig) harte Eis eindringe. Ist es richtig von mir, den See zu verletzen? Nein. Es ist nicht richtig. Aber ich tue es trotzdem. Will ich ihm beweisen, dass ich stärker bin, als er? Ich beginne, laut zu lachen. Ich bin stärker als der See. Ich - Günter Münster, der große Bohrer. Gut, dass mich niemand sehen oder hören kann!
Ich bohre und schlage, schlage und bohre, und ich beginne, zu schwitzen. Was ist denn mit diesem Eis los? So dick kann es doch gar nicht sein! Mein kleines Rollmaß sagt mir: Achtzehn Zentimeter. Achtzehn Zentimeter! Und ich bohre weiter. Das Eis ist knochenhart, ja, es wird, je tiefer ich schlage, immer härter, und ich wechsle das Messer von der Rechten in die Linke. Dann wieder nach rechts. Ich bereue, keine Handschuhe mitgenommen zu haben. Mein Oberkörper ist nun schon recht nahe an der Oberfläche, wenn ich das Eis am tiefsten Punkt des Lochs bearbeite. Und mein Arm wird immer länger. Und länger... Nein. Das kann nicht sein. Ich messe erneut: Siebenundzwanzig Zentimeter Eisstärke. Ja, sind wir denn in Alaska?
Ich stehe auf, weil ich inzwischen jeden Knochen spüre und dehne und strecke mich. Nun höre ich wieder bewusst sehr deutlich dieses unheimliche Geräusch. Und plötzlich wird mir klar, dass es stimmt: Dieses Geräusch kommt aus dem See. Tief unten muss etwas sein, das diese Töne erzeugt.
Es klingt wie ein Singen.
Ein Singen?
Nein.
Kein Singen.
Oder?
Ich zünde mir eine Zigarette an und bete, dass Sabine mittlerweile wieder zu Hause ist. Natürlich. Sie ist wieder daheim. Wenn ich nach Hause komme, wird sie mir um den Hals fallen und mir sagen, wie lieb sie mich hat. Meine Sabine. Mein kleiner Goldschatz.
Was wären wir ohne sie?
Nichts.
Gar nichts.
Meine Neugier hinsichtlich der Eisdicke ist so stark, dass ich meine Aktion nicht abbreche. Ich kann jetzt nicht einfach aufhören und Brunhilde erklären, dass ich meine Aktivität (die eigentlich völlig unsinnig ist!) bei siebenundzwanzig Zentimetern abgebrochen habe. Sie würde es mir ja sowieso nicht glauben. Egal, wie weit ich noch bohren werde. Soll ich es ihr überhaupt sagen, dass ich gebohrt habe? Ich weiß es noch nicht...
Ich packe mein Messer, und die harte Arbeit geht weiter. Etwa zwanzig Minuten später kann ich nicht mehr: Ich bin körperlich völlig am Ende. Ausgepumpt. Und der See triumphiert: Ich habe es nicht geschafft, bis zum Wasser vorzudringen. Ich bin genau fünfundfünfzig Zentimeter (!) tief im Eis, aber es ist kein Ende der Schicht zu sehen. Keines. Jedoch eine Genugtuung habe ich doch: Ich werde es morgen Brunhilde und wenn es sein muss, auch der Polizei
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8372-0
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