Marlenes
Vermächtnis
Horrorthriller
von
Alfred J. Schindler
Wir haben das Jahr 1951. Es ist Ende Juni und die Sonne prallt auf die Menschen mit all ihrer Kraft hernieder. Ich blättere lustlos in der Zeitung, die auf dem kleinen Tischchen, hier in diesem verschwiegenen Cafehaus um die Ecke, vor mir liegt. Da ich schon einige Wochen ohne eigene Einkünfte bin, schlage ich (wie in den letzten Wochen schon so oft) die Stellenanzeigen im hinteren Teil der Tageszeitung auf.
Was steht da?
Gesucht wird: Butler bis 40 J., absolut loyal und zuverlässig, gute Umgangsformen, mit Führerschein, in private Villa. Bezahlung nach Vereinbarung. Eintritts-termin sofort. Tel...
Ich werfe einen kurzen Blick auf das schmutzige Fenster, überprüfe mein Äußeres und flüstere:
„Gustav, das ist dein Job!“
„Herr Ober!“
„Was wünschen der Herr?“
“Kann ich bei Ihnen mal kurz telefonieren?“
„Aber natürlich! Bitte, hier hinter der Theke!“
Ich stehe langsam auf und überprüfe meine Körperhaltung. Ja, genau so muss ein Butler stehen. Ich gehe drei Schritte und überlege weiter: Ja, so hat ein Butler zu gehen, und nicht anders: Aufrecht, gerade, den Kopf zurück, die Schultern stramm. Exakt so habe ich es gelernt. Und nicht anders. Wie sagte mein Lehrer immer:
„Sie müssen gehen, als ob Sie einen Spazierstock verschluckt hätten, Gustav! So wollen die Herrschaften ihren Butler sehen!
Ihren Butler!“
Im Grunde genommen kann ich mein Äußeres akzeptieren: Sportlich, 188 cm groß, energisches Kinn, nicht gerade schön, aber ausdrucksvolle Augen. So beschreiben mich zumindest die jungen Damen, die mit mir bisher näheren Kontakt hatten.
Mit mir selbst so einigermaßen zufrieden (ein Butler darf mit sich selbst nie ganz zufrieden sein!) und voller Hoffnung, marschiere ich quer durch das Cafehaus Richtung Theke. Die Anzeige habe ich klammheimlich aus der Zeitung herausgerissen, was ein echter Butler normalerweise niemals tut! Ich fühle mich gut. Auf zu neuen Taten! Meine innere Stimme sagt mir, dass ich den Job bekommen werde...
Ich wähle die angegebene Nummer und am anderen Ende der Leitung meldet sich eine helle, zaghafte Stimme:
„Villa Frick. Marlene Schütt am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Sie hat die Stimme eines Engels.
Ich räuspere mich und erkläre mit fester, männlicher Stimme: „Mein Name ist Gustav Held. Ich rufe wegen Ihrer Stellenanzeige an!“
Leise ist ihre Antwort: „Ja, sicher. Die Butlerstelle. Bitte kommen Sie heute Abend um sechs Uhr zu uns in die Villa Frick. Frau Frick wird Sie dann persönlich empfangen!“ Sie beschreibt mir genauen Weg und schließlich verabschiedet Sie sich mit den Worten: „Ich hoffe, Sie kriegen die Stelle!“
Ich bin etwas überrascht, denn sie kennt mich ja noch gar nicht, und ich antworte: „Ja, Frau Schütt, das hoffe ich auch!“
„Nennen Sie mich einfach Marlene.“
Marlene!
Ein wunderschöner Name!
Butler haben die Angewohnheit, sich sehr mit sich selbst zu beschäftigen: Mit ihrem Aussehen, ihrer Erscheinung, ja, ihrer gesamten Persönlichkeit. Ein Butler muss perfekt sein. Ja, absolut perfekt. Zumindest sollte er es. Er darf sich keinerlei Schwächen erlauben. Er hat zu dienen und zu gehorchen, ohne zu überlegen, warum und wieso dem so ist. Ein Butler darf auch selbstredend nichts hinterfragen! Das dürfte wohl klar sein. Denn genau so hat er es gelernt. Die Herrschaften haben immer recht!
Egal, was auch immer geschieht.
Ich bezahle bei dem freundlichen Ober meine Tasse Kaffee, steige in meinen schwarzen VW Käfer und fahre zu dem Haus, in dem ich seit kurzem ein Zimmer gemietet habe. Dort mache ich mich frisch, ziehe ein weißes Hemd, eine graue Krawatte, meinen schwarzen Frack und dazu die schwarzen, hochglänzenden Halbschuhe an, die ich mir erst kürzlich gekauft habe und verlasse das Haus. Da ich noch mehr als zwei Stunden Zeit habe, unternehme ich einen Spaziergang durch das kleine Städtchen, in dem ich seit kurzem lebe.
Fürstenwald ist sein Name.
Ein schöner Name!
Butler sollten immer positiv denken. Sie sollten zu jeder Zeit eine positive Ausstrahlung zeigen. Denn ein Butler hat keine persönlichen Sorgen oder Nöte zu haben.
Natürlich bin ich trotz meines absolut ruhig wirkenden Äußeren innerlich ein wenig aufgeregt. Dieser Job wäre sehr wichtig für mich! Meine Barschaft wird von Woche zu Woche geringer, und das Geld, das ich von staatlicher Seite beziehe, reicht weder hinten, noch vorne. Aber ich bin mir fast sicher, dass ich diese Butlerstelle bekommen werde. Nichts spricht dagegen. Außerdem ist das Angebot an guten Butlers sicherlich nicht besonders groß.
Das hoffe ich zumindest!
Der erste Eindruck entscheidet. Der erste Blick, der erste Händedruck ist ausschlaggebend. Aber ich werde das Kind schon schaukeln.
Ich laufe bedächtig durch ein kleines Kaufhaus, und plötzlich fällt mir wieder diese Marlene ein: Ist sie die Sekretärin der Familie Frick? Sicherlich nicht, denn ihre Stimme war zu introvertiert. Eine richtige Sekretärin spricht anders: ausdrucksstark, etwas lauter, gezielter. Sie stellt vorab Fragen. Wer wird diese Marlene wohl sein? Das Hausmädchen? Ja, genau so klang sie am Telefon. Aber sicherlich ist sie ein sehr gutes Hausmädchen, überlege ich.
Familie Frick? Den Namen kenne ich doch! Frick! Frick. Wer sind die Fricks? Und urplötzlich schießt es durch meinen Kopf: Aber natürlich! Der Großindustrielle Frick! Ich glaube, Bernhard ist sein Vorname! Dieser Mann verdient Millionen! Na klar! Er ist in der Eisenindustrie tätig. Aha. So ist das also. Diese superreiche Familie sucht einen neuen Butler. Was wohl aus dem alten geworden ist? Haben sie ihn entlassen? Ist er verstorben? Mannomann. Das kann ja heiter werden. Natürlich bin ich es gewöhnt, nur bei wohlbetuchten Leuten zu arbeiten, aber bei einer solch immens einflussreichen Familie war ich bisher noch nicht beschäftigt.
Jedoch: meine Referenzen sind hervorragend!
Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr: Es ist fünf Uhr. Auf die Minute. Ich beschließe, mich langsam, aber sicher, auf den Weg zu machen. Hin zu dieser ungewöhnlichen Familie...
... Frick.
Ich hole aus meinem ärmlichen, etwas dunklen Zimmerchen die notwendigen, ja, alles entscheidenden, schriftlichen Referenzen und steige in mein kleines Auto. Die Fahrt dorthin führt mich durch eine wunderschöne Gegend. Überall sind die herrlichsten Wälder, vereinzelte Seen und kleinere Berge auszumachen. Auch einen herrlichen Wasserfall sehe ich rechter Hand.
Hier war ich noch nie.
Nach einer guten halben Stunde erreiche ich eine Straßengabelung. Ein Schild, auf dem mit großen, goldenen Buchstaben...
„Villa Frick – Privatstrasse“
(dazu ein Pfeil nach rechts)
... steht, führt mich auf die richtige Straße. Sie ist nicht geteert und die Stoßdämpfer meines Käfers ächzen gequält. Egal. Gleich bin ich hier. Die Strasse endet nach etwa dreihundert Metern abrupt. Ein riesiges Eisentor, das mit zwei sitzenden Löwen verziert ist, die sich gegenseitig in die Augen schauen, verhindert meine Weiterfahrt. Ich steige aus und betätige den schweren, gusseisernen Klöppel. Der Weg vom Tor bis zur Villa ist schlecht einsehbar.
Wie von Geisterhand öffnet sich das große Tor nach links und nach rechts. Langsam schwingen die Türen auf und ich fahre los. Die beiden Löwen sehen sich jetzt nicht mehr in die Augen. Nachdem ich etwa dreißig, vierzig Meter Baumbestand umrundet habe, bietet sich mir ein imposantes Bild: die Villa liegt, eingebettet zwischen hohen Tannen, vor meinen erstaunten Augen. Gut, ich war ja auf einiges gefasst, aber einen solchen Reichtum hatte ich nicht erwartet. Diese weiße Villa ist riesig! Egal, wohin das Auge blickt: Alles wirkt teuer. Sehr teuer. Und vor dem Haus steht ein neuer, silberner Rolls Royce.
Wahnsinn!
Plötzlich wird mir bewusst, was für ein armer Schlucker ich doch bin. Jedoch halt! Solche niederen Gedanken darf ein Butler natürlich auch nicht hegen! Schließlich wird er für seine Arbeit sehr gut bezahlt! Und das, was seinen Herrschaften gehört, ist für ihn tabu!
Mit geübter Routine steige ich aus meinem lächerlichen Fahrzeug, das ich etwas abseits von dem englischen Luxusschlitten parke. Ich schäme mich fast für meine Unvollkommenheit, versuche jedoch mit aller Kraft, diese zu überspielen. Sicherlich beobachtet man mich schon! Wahrscheinlich stehen sie alle, die Eigentümer und die Bediensteten, hinter diesen, mit sündteueren Vorhängen versehenen Fenstern und betrachten ihren neuen Butler
... mit Argusaugen!
Gustav! Denke daran! Der erste Eindruck ist der alles Entscheidende! Du weißt es sehr genau! Nicht der Hauch von Unsicherheit darf herüberkommen! Souverän und selbstsicher muss dein Auftritt sein! Denn ein solcher ist hier schon angebracht!
Mit würdevollem Schritt nähere ich mich der schweren, eichenen Haustüre. Gerade, als ich an die Türe klopfen will (ein kleiner Löwe stellt die Glocke dar!), öffnet sich diese und eine junge, bildhübsche Frau mit schwarzem Kostüm und weißem Lätzchen steht mir gegenüber. Mein Gott! Diese Augen! Diese Haare! Und diese Fesseln!
Eine Traumfrau!
Ich versuche, meinem Blick einen höflichen, ernsthaften Ausdruck zu verleihen und verbeuge mich kurz vor ihr, wie sich das für einen guten Butler gehört. Ein Flirt wäre jetzt völlig unangebracht. Und überhaupt! Persönliche Gefühle sind nicht erwünscht. Nur eine kurze, knappe Verbeugung darf es sein, denn sie ist offensichtlich eine Bedienstete!
„Guten Abend, mein Name ist Gustav Held, der neue Butler!“
Sie lächelt mich mit ihren Perlen von Zähnen an und sagt: „Marlene. Sehr angenehm. Ich bin das Mädchen für alles.“
Für alles? Wirklich für alles? Aber, aber, Gustav! Sie führt mich in das Innere der Traumvilla. Bei jedem Schritt werden meine Augen größer. Nicht nur wegen ihrer Gangart! Nein! Schwere Perserteppiche, glitzernde Lüster und englische Möbel, soweit das Auge reicht, füllen das prächtige Haus. Glänzende, gut duftende Holzböden, wunderschöne Spiegel und unbezahlbare Bilder in dicken, goldenen Rahmen verschönern den Gesamteindruck, der sich mir bietet. Der Reichtum dieser Familie muss ungeheuer groß sein. Dort sehe ich einen weißen Steinway-Flügel, und auf der anderen Seite erblicke ich eine riesige Bücherwand, deren Wert sicherlich ausreichen würde, um davon einige Rolls-Royce zu kaufen. Oder ein paar hundert VW Käfer.
Wir bleiben stehen und ich frage: „Marlene, wo ist denn Herr oder Frau Frick?“
Gerade, als sie mir antworten will, erscheint die Dame des Hauses. Mir bleibt die Luft weg. Sie ist sehr groß, schlank, blond und ungemein arrogant. Jedenfalls ist dies mein erster, persönlicher Eindruck. Sie steht im Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Speiseraum. Sie trägt ein langes Ballkleid mit hohen, goldenen Schuhen, und ihr Kopf ist seitlich nach oben geneigt. Es würde mich nicht wundern, wenn sie plötzlich eine Arie loslassen würde. Ja, sie ist eine Diva. Das sieht man auf den ersten Blick. In ihrer rechten Hand, die sie graziös nach oben hält, befindet sie eine Zigarettenspitze. Sie blickt mich von der Seite an und flötet:
„Sind Sie der neue Butler?“
Dabei blickt sie mich ungeniert von oben bis unten an. Ich befinde mich ungefähr drei Meter von ihr entfernt. Und ich fühle mich etwas verloren. Ausgezogen. Nackt. Ich verbeuge mich vor Frau Frick und antworte mit sonorer Stimme:
„Held. Gustav Held. Seines Zeichens Butler.“
„Sehr erfreut. Theresa Frick. Ehefrau des weltbekannten Bernhard Frick.“
Sie kommt mit wiegendem Schritt auf mich zu und reicht mir ihre mit Ringen übersäte Hand. Ich deute galant einen Handkuss an. Dabei schaue ich ihr ungeniert in die Augen, obwohl genau dies ein Butler nicht tun sollte. Aber diese Art von Frau kenne ich.
„Möchten Sie meine Referenzen sehen, gnädige Frau?“
„Vergessen Sie es. Wann können Sie anfangen?“ Ihre schönen Augen glitzern.
„Sofort.“
„Haben Sie Ihre persönlichen Dinge im Auto?“
„Zum Teil, Gnädigste. Den Rest hole ich noch.“
Sie lächelt: „Wir müssen uns noch über die Bezahlung unterhalten. Und natürlich über Ihre...
... Aufgaben.“
„Sehr wohl. Selbstverständlich, Frau Frick.“
Im folgenden Gespräch, das etwas einseitig ist, erklärt sie mir mein Aufgabengebiet:
„Sie sind für die Leitung des Hauses zuständig. Ihnen untergeben sind Marlene (sie verzieht dabei, sicherlich unbewusst ihr wirklich nicht hässliches Gesicht), Ferdinand, der Koch und Adolf, der Gärtner. Letzterer ist auch für die Pferde zuständig. Sie sind selbstverständlich auch für den Rolls Royce verantwortlich, Gustav. Bitte pflegen Sie ihn, kontrollieren Sie regelmäßig alle wichtigen Dinge und lassen Sie ihn von Adolf zweimal die Woche innen und außen gründlich reinigen.“
„Sehr wohl, Frau Frick.“
„Ihre Arbeitszeiten teilen Sie selbst ein. Ich verlange nicht, dass Sie täglich um sieben Uhr aufstehen. Sie sind persönlich für den Einkauf von Lebensmitteln und Getränken zuständig. Diese Dinge besorgen Sie dreimal pro
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8306-5
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