Xavers Rache
Psychothriller
von
Alfred J. Schindler
01 Rückblick
02 im Knast
03 zurück in Himmelstein
04 das „Kennen lernen“
05 neue Bekanntschaften
06 großer Besuch
07 die kleine Vernissage
08 Helmut kommt...
09 tiefgreifende Differenzen
10 der PLAN nimmt seinen Verlauf
11 das kleine Gerücht
12 das absolute Chaos
13 das Ablenkungsmanöver
14 Maria
15 Katz und Maus
16 es wird eng
17 der Rückschlag
18 die Vorführung
19 das Ende der Geschichte...
Die wichtigsten Personen, die in diesem Roman mitspielen:
Xaver Grimm - alias Andreas Bauer
Sylvia Belona, das Mordopfer
Xavers Tante Trude (Gertrud Vogl)
Xavers Blutsbruder Dr. Helmut Schnitt
Wirt 1: Markus Huber
Wirt 2: Fred Kranz
Hamburger Familie Müller (imaginär)
Möbelhändler: Horst Holz aus Rattenberg
Kriminalkommissar Wucht
Rechtsanwalt Dr. Erich Kern
Bürgermeister Dr. Johann Klein und...
dessen Ehefrau Maria und...
dessen Freundin Gunda
Dorfarzt Dr. Michael Stock und...
dessen Ehefrau Luise
Dorflehrer Martin Stumpf und...
dessen Ehefrau Sybille
Feinkosthändler Richard Lang und
dessen Ehefrau Annemarie und...
deren Freund
Makler Franz Götz und...
dessen Ehefrau Marianne und...
dessen Freundin
Apotheker Dr. Erich Kropf und...
dessen Ehefrau Bettina
Juwelier Georg Faust und...
dessen Ehefrau Liselotte und...
dessen Freundin Barbara
Gegenwart:
Ruhig, besonnen und leicht amüsiert wandert mein Blick über das geliebte Städtchen, in das ich nach einer (für mich) wahnsinnig langen Zeit zurückgefunden habe. Inzwischen sind schon wieder drei Monate vergangen, dass ich hier, in diesem kleinen, gemütlichen Paradies lebe, und in dem auch meine Wiege stand. Von hier oben, etwa sechzig, siebzig Meter über unserem verträumten Nest, direkt an meinem Häuschen, habe ich einen wunderbaren Überblick über unser Himmelstein, das von viel sattem Grün umrahmt ist. Wie hat es sich doch in all den Jahren meiner Abwesenheit vergrößert!
Dort, etwa in der Mitte des Städtchens, das an einem sehr steil abfallenden Bergmassiv klebt, steht unsere Kirche, die vor einigen Jahrhunderten im gotischen Stil erbaut wurde. Ringsherum sieht man gepflegte, zum Großteil schmucke Häuser, wie zum Beispiel unser Gasthaus „Zur Kutsche“, oder das wunderschöne, mit allerlei Blumen geschmückte Rathaus, in dem unser geschätzter Bürgermeister Dr. Johann Klein normalerweise seinen überaus wichtigen, amtlichen Tätigkeiten nachkommt. Jedoch heute tut er das nicht, wie ich hörte. Ob er wohl momentan verhindert ist?
Ja, und dort kann ich genau in das bunt ausstaffierte Schaufenster des Feinkosthändlers Richard Lang sehen! Die Auslage ist zurzeit etwas leer, wie es scheint! Was macht er denn, der Gute? Hat er etwa Urlaub?
Ich stelle mein altes Fernglas in seiner Schärfe noch etwas nach und kann nun sehr deutlich erkennen, dass sich um diese Uhrzeit (es ist gerade zehn Uhr vormittags und wir haben einen prächtigen Augusttag) einige Schulkinder am Marktplatz tummeln. Wie fröhlich und ausgelassen sie dort unten herumspringen! Wie kleine, muntere Rehlein! Wieso sind sie denn um diese Zeit nicht in der Schule? Ja, wieso nur? Wo ist er denn, der liebenswerte und grundehrliche Schullehrer Martin Stumpf, den die Kinder und deren Eltern so überaus mögen? Er wird doch nicht etwa krank sein?
Ich überlege, ob vielleicht auch noch unser allseits äußerst beliebter Dorfarzt Dr. med. Michael Stock gerade verhindert ist. Es könnte ja sein! Ob er wohl momentan, bei diesem herrlichen Wetter, in seiner blitzsauberen Praxis ein paar Leute behandelt? Oder ist seine Praxis leer, weil er gerade nicht da ist?
Georg Faust, unser jetziger, hochgeschätzter Juwelier, hat offensichtlich auch ein Schildchen an seiner Türe hängen! Was lese ich da? Heißt das etwa: Vorübergehend geschlossen? Na, so was! Was wird er wohl gerade tun, der sympathische Mann? Etwa faulenzen? Aber, aber, Herr Juwelierladenbesitzer! Sicherlich braucht auch er etwas Ruhe! Das ist doch selbstverständlich!
Halt! Ob wohl wenigstens unser Makler Franz Götz in seinem meist belebten Büro arbeitet? Ich bezweifle es nun doch etwas! Wie ich ihn kenne, wird auch er im Augenblick seine Angebote und Anfragen etwas zur Seite gelegt haben, um sich ein wenig zu entspannen! Ja, ich nehme es an...
Dr. Erich Kropf, unser freundlicher und zuvorkommender Apotheker ist momentan sicherlich auch nicht in seinem Laden anwesend, wie ich durch mein Fernglas sehen kann, denn auch hier hängt ein kleines Schild mit der Aufschrift: Momentan geschlossen!
Ja, was ist denn nur los, dort unten in dem netten Städtchen, frage ich mich und lächle süffisant vor mich hin. Warum sind sie wohl im Augenblick verhindert? Was machen sie denn?
Sei es, wie es wolle: Es wird schon seinen Grund haben. Sie, die fleißigen, ehrlichen, völlig unbeschol-tenen und überaus geschäftstüchtigen Männer haben es sich sicherlich verdient...
Oder etwa nicht?
Wie gesagt: Seit einiger Zeit befinde ich mich nun schon wieder hier in meinem Heimatort Himmelstein, den ich so sehr vermisst hatte. Man hatte mich im Mai dieses Jahres in der Dorfgemeinschaft gut aufgenommen. Ja, ich kann mich wirklich nicht beschweren! Ich könnte mir, wenn ich es mir so recht überlege, gar nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben!
Denn ich gehöre hierher.
Hier ist mein Platz.
Leider gab es jedoch in meinem Leben Zeiten, in denen ich mich nicht hier befand. Dort, wo ich die letzten Jahre war, dachte ich nur immerzu an dieses kleine, abseits gelegene Nest und seine lieben und überaus freundlichen Einwohner. Insbesondere dachte ich natürlich an meine guten Freunde - sieben an der Zahl! Sie gingen mir sehr ab, in all den vielen, langen Jahren!
Als man mich damals (mittlerweile sind fast sechzehn Jahre vergangen) mit Handschellen und blutig geschlagenen Augen von hier wegzerrte, war mir noch gar nicht bewusst, welch grausame Jahre vor mir liegen würden. Wenn ich damals geahnt hätte, was auf mich zukommen würde, hätte ich mich sicherlich umgebracht. Rechtskräftig verurteilt als Mörder in einem total überfüllten Schwurgerichtssaal! Genau dies war mein Schicksal.
Auch war mir damals in keiner Weise bewusst, wie sehr mich dieses harte Wiener Staatsgefängnis verändern würde:
Meine Psyche,
meine Persönlichkeit,
mein gesamtes Ego.
Tante Trude, die etwas Mollige mit ihrem gutmütigen Blick, die ich über alles liebte, war die Einzige, die mir damals glaubte. Sie besuchte mich fast fünfzehn Jahre lang im Gefängnis im Abstand von vier Wochen und brachte mir immer feinen Kuchen und Zigaretten mit. Sie hielt zu mir, wie gesagt, und gerade ihre Besuche hielten mich moralisch etwas über Wasser. Denn sonst kam niemand. Nicht einmal meine Eltern. Sie dachten, dass ich es war. Ich - ihr einziger Sohn - ein Frauenmörder. Wie voreingenommen sie doch waren!
Etwas enttäuscht war ich dann aber schon, als sich meine wirklich guten Freunde, mit denen ich doch solch wunderschöne und lustige Abende verbracht hatte, nicht ein einziges Mal in meinem Gefängnistrakt sehen ließen!
Hatten sie etwa keine Zeit?
Oder was war los mit ihnen?
Wie oft hatte sie, meine herzallerliebste Tante Trude, zu mir gesagt, bevor dieser furchtbare Vorfall passierte und ich noch so jung war:
„Trink nicht so viel, Junge! Stell dir vor, du fährst mit deinem Auto einen Menschen an, oder gar tot? Oder du gerätst in eine wüste Schlägerei und tötest Jemanden? Und hinterher weißt du von nichts mehr?“ - Recht hatte sie, die Gute, aber zum großen Glück verursachte ich mit meinem uralten Opel Kadett, meinem ersten eigenen Auto, keinen einzigen Unfall. Nicht einen. Und in eine Schlägerei geriet ich auch nicht. Aber es sollte etwas ganz anderes passieren, wobei der Alkohol eine große Rolle spielen würde...
Finanziell ging es mir, trotz meines jugendlichen Alters, ganz hervorragend. Ich war knapp vierundzwanzig Jahre alt und wir schrieben das Jahr 1984. Ich übernahm damals das Juweliergeschäft meines Vaters, das er einige Jahre zuvor hier in Himmelstein eröffnet hatte. Er hatte seinen Reibach gemacht, wie er immer leise zu mir sagte (und er hielt sich dabei die Hand vor den Mund, damit Mutter es nicht hören konnte) Er war damals achtundfünfzig Jahre alt und es leid, mit seiner kaputten Hüfte und seinem damals angehenden Raucherbein Tag für Tag im Geschäft stehen zu müssen und teure Klunker anzubieten. Nun gut, ich setzte mich also ins gemachte Nest.
Ich hatte in Rattenberg, das in Österreich am Wiedersberger Horn, etwa dreißig Kilometer von Himmelstein entfernt liegt, Goldschmied gelernt, und schon bald fuhr ich einen gebrauchten, aber sehr gepflegten, schwarzen Porsche. Ich übernahm dann auch, als das Geschäft florierte und mir die Arbeit zu viel wurde, den früheren Angestellten meines Vaters. Er arbeitete fortan in unserer kleinen Werkstatt. Georg Faust war sein Name, und genau dieser Herr ist heute der Eigentümer meines ehemaligen Ladens. Wie das kam? - Etwas später.
Ich hatte beim weiblichen Geschlecht die allerbesten Chancen, denn ich achtete sehr auf mein Äußeres. Fast jeden Abend führte ich ein anderes, junges Mädchen aus und schon bald war ich in unserem Ort bekannt wie ein bunter Hund. Eintausendsieben-hundert Einwohner zählt das Städtchen heute. Damals, im September des Jahres 1987, als ich so unverhofft in den Knast einwanderte, waren es gerade einmal neunhundert Einwohner gewesen. Ja, die Zeiten ändern sich eben...
Als ich an einem verregneten Tag mit meinem Wagen nach Rattenberg fuhr, um ein wenig einkaufen zu gehen (ich ließ Faust alleine im Geschäft), kam ich an einem Taatoo-Studio vorbei. Ich ging hinein und unterhielt mich mit dem Inhaber des Geschäfts. Dabei blätterte ich neugierig in seinen verschiedenen Katalogen, in denen die unglaublichsten Motive zu bewundern waren. Mein Blick blieb an einem einzigartigen Adler hängen: Die phantastische Abbildung dieses herrlichen Vogels war in blauer Farbe gezeichnet. Ich entschloss mich kurzfristig, mir diese Tätowierung von dem Künstler anfertigen zu lassen. Er platzierte das Taatoo in einer Größe von etwa 10 x 15 Zentimeter auf meine Brust. Jedem, der daran interessiert war, zeigte ich dieses einzigartige Prachtwerk. Natürlich waren es meistens junge Damen, die mit ihren schmalen Händen über meine tätowierte Brust strichen. Aber auch meine Tante Trude war von diesem Kunstwerk freiweg fasziniert.
„Junge“, sagte sie verständnisvoll zu mir, „dieser Adler versinnbildlicht das absolute Gefühl der Freiheit. Behalte sie dir, so lange zu nur kannst!“
Wahrscheinlich spielte sie damit auf die unzähligen jungen Damen an, die versuchten, mich fest an sich zu binden. Jedenfalls fasste ich Tante Trudes Äußerungen damals so auf.
Ans Heiraten dachte ich nicht. Ich wollte meinen Spaß haben, und nichts Anderes. Mein Ruf in der Damenwelt wurde von Mal zu Mal miserabler. Ja, und wie gesagt, trank ich des Öfteren auch gerne einen über den Durst. Tante Trude, die mich zusammen mit ihren fünf Katzen in ihrem kleinen, aber bildhübschen Häuschen am Hang aufgezogen hatte, (meine Eltern waren von meinem zweiten bis hin zum achtzehnten Lebensjahr im Ausland beruflich fest etabliert) machte sich immer wieder berechtigte Sorgen, wenn ich nachts mit meinem Sportwagen betrunken den schmalen und ungeteerten Weg nach oben schoss. Aber: Wenn man jung ist und genügend Kleingeld in der Tasche hat, lässt man die Puppen eben gerne tanzen. Jedenfalls erging es mir so!
Mir war schon vor längerer Zeit zu Ohren gekommen, dass sich gewisse Herren unseres Städtchens fast täglich in unserem Vorzeigelokal „Zur Kutsche“ trafen, um sich dort bei einem Glas sündteuren Weines über Geschäfte und sonstige Schweinereien zu unterhalten. Diese „Herrenrunde“ bestand aus folgenden Personen:
Bürgermeister Dr. Johann Klein,
Dorfarzt Dr. Michael Stock,
Dorflehrer Martin Stumpf,
Feinkosthändler Richard Lang,
Makler Franz Götz und
Apotheker Dr. Erich Kropf.
Sechs Männer, die die Fäden in Himmelstein zogen.
Nach etlichen Besuchen und Dutzenden von Freirunden nahmen sie mich dann doch tatsächlich mit in ihre erlesene Runde auf. Unser Reigen bestand nun aus sieben Männern, die alle etwas zu sagen hatten. Mir kam zugute, dass sich mein Vater einige Jahre zuvor, als er noch nicht im Rollstuhl saß, in diesem einflussreichen Kreis gelegentlich bewegt hatte.
Ja, und mein geschätzter Mitarbeiter Georg Faust wurde langsam, aber konstant, auch immer mehr in diesen kleinen Kreis mit integriert. Zwar nicht vollständig (er kam ja auch nur gelegentlich mit!), aber trotzdem. Er konnte also im Laufe der Zeit von sich behaupten, in diesem verhältnismäßig hochrangigen Kreis mit dabei zu sein.
Man akzeptierte mich als geschäftstüchtigen Juwelier, und es war mir eine große Freude, mit einem Bürgermeister, mit Doktoren und weiteren hoch angesehenen Männern verkehren zu dürfen. Ob ich damals unter einem Minderwertigkeitskomplex litt? Ich denke schon.
Wie ich schon sehr schnell feststellen konnte, beneideten sie mich darum, noch nicht verheiratet und somit frei und ungebunden zu sein. Sie Alle waren schon damals gut situiert „unter der Haube“ und sie mussten jeweils eines oder sogar mehrere kleine Kinder ernähren. Sich an ihrer Stelle, in diesem kleinen Nest, ein Abenteuer zu leisten, war schier unmöglich, weil es auf dem Land so üblich war, dass man nichts verheimlichen konnte.
Als ich ihnen eines Abends meine wunderbare Tätowierung zeigte, lachten sie alle hellauf: „ Sie passt haargenau zu dir, Xaver!“, alberten sie einstimmig.
Sicherlich dachten sie dabei genau das, was sie zu mir sagten. Frei wie ein Vogel! Unabhängig und niemandem Rechenschaft schuldig! Damals war mir natürlich noch nicht klar, wie gerne sie mit mir getauscht hätten...
Ich war also allgemein als ein freundlicher, etwas naiver, gutmütiger, jedoch sehr erfolgreicher, junger Mann bekannt, dem die Welt zu Füßen lag.
Eines schönen Abends öffnete sich die schwere Gasthaustüre, und ein Mädchen mit einem kleinen, roten Köfferchen trat ein. Nein! Sie trat nicht ein! Sie schwebte herein! Uns blieb allen die Luft weg. Wie die Hummeln umschwärmten wir sie, noch bevor sie sich irgendwo hinsetzen konnte.
Ihr Name war Sylvia.
Sylvia Belona.
Ein Traum von einer jungen Frau.
Sie kam aus Spanien, sprach hervorragend deutsch und war ein lebenslustiges und aufgeschlossenes Ding von gerade mal zweiundzwanzig Jahren. Keiner von uns wusste, woher sie genau kam, aber jedem von meinen Freunden war klar (außer mir natürlich, denn ich war damals, wie gesagt, noch sehr gutgläubig), dass sie nur darauf aus war, sich einen angesehenen, gut aussehenden Mann zu angeln. Ihre großen, schwarzen Augen blitzten wie kleine Feuerwerke, wenn sie lachte, und ihre gleichmäßigen Zähne waren unbeschreiblich weiß.
Schon am ersten Abend nahm ich sie mit in Tante Trudis Häuschen. Diese war über meine etwas voreilige und unüberlegte Handlung nicht gerade begeistert. Jedoch sie akzeptierte sie. Sylvia blieb nicht nur diese Nacht bei mir. Wir beide bewohnten das Obergeschoss, und meine neue Freundin half Trude bei den Hausarbeiten, da sie in Himmelstein keine entsprechende Arbeit fand. Ich konnte und wollte Sylvia nicht mit in mein Geschäft nehmen, da mein damaliger Mitarbeiter Georg Faust und ich gerade ausgelastet waren. Es wäre eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gewesen, und davon hielt ich nicht das Geringste.
Sylvia verfügte seltsamerweise immer über genügend Bargeld. Natürlich fragte ich sie nicht, woher sie diese Geldbündel hatte, denn ich nahm an, dass es ihr Erspartes war.
Im Laufe der nächsten Wochen ging ich viel mit Sylvia aus. Abends fuhren wir in meinem Schlitten durch die Gebirgsgegend, und ich zeigte ihr meine Heimat. Auch Sylvia trank gerne ein Gläschen über den Durst. Wenn ich ihr erklärte, dass ich mich heute mit meinen Freunden, den Geschäftsleuten von Himmelstein im Gasthaus „Zur Kutsche“ treffen würde, wollte sie natürlich unbedingt mit. Ich tat ihr den Gefallen, und so war ich schließlich der Einzige, der in weiblicher Begleitung kam. Meine Freunde hielten sich ihr gegenüber etwas zurück, wie es mir schien, um mich nicht zu verärgern, aber es entging mir nicht, dass sie allesamt von ihrer natürlichen Schönheit fasziniert waren. Wieso auch nicht, fragte ich mich ohne irgendwelchen Argwohn. Ich fasste es als Kompliment auf und nahm sie immer wieder mit zu meinen gepflegten Herrenabenden.
Die Zeit verging und sie lebte nun schon ein knappes halbes Jahr bei mir und Tante Trude. Dann, an einem Dienstag im September, geschah folgendes: Sylvia und ich fuhren hinunter ins Dörfchen, um in der Kutsche wie üblich ein Gläschen zu trinken. Unser Makler, Franz Götz, feierte an diesem Tag seinen dreiunddreißigsten Geburtstag und es hagelte Bier, Wein und Schnäpse. Aus der anfangs harmlosen und lustigen Feier wurde schon sehr bald ein wahres Besäufnis. Irgendwann verlor ich den Faden und sah, dass sich Sylvia, ebenfalls schwer angetrunken, den Herren deutlich anbiederte. Jedenfalls kam es mir so vor. Ihre offene, weiße Bluse, unter der sich ein schwarzer Rüschenbüstenhalter nach außen drängte, war sehr tief nach unten gerutscht und ich bekam mit, dass sich meine Freunde mit ihr intensiver beschäftigten, als dies sonst der Fall war. Der Wirt hatte schon Stunden zuvor vorausschauend ein Schild an die Türe gehängt, auf dem mit großen Lettern „Private Gesellschaft!“ stand.
Im Laufe des Abends wurde ich, bedingt durch den starken Alkoholgenuss, immer eifersüchtiger und unbeherrschter, und schließlich packte ich Sylvia etwas grob am Arm. Fester, als ich es eigentlich wollte. Sie schrie auf. Ich gab ihr eine saftige Ohrfeige. Zugleich erwischte ich links und rechts einige Schläge, die aus dem Nichts kamen. Meine Freunde spielten die Helden. Und dann...
... kam der Filmriss.
Als ich morgens um fünf Uhr in meinem Wagen erwachte, war Sylvia verschwunden und ich musste mich zuerst einmal fürchterlich übergeben. Ich warf einen Blick in den kleinen Innenspiegel und sah, dass zwei dicke Veilchen meine geschwollenen Augen schmückten. Die Haare standen mir zu Berge und ich fühlte mich wie ausgekotzt. Ich wusste beim besten Willen nicht mehr, was am Abend zuvor passiert war.
Wo ist Sylvia, hä, fuhr es mir durch den Kopf. Liegt sie etwa in ihrem Bett, oben in unserem Häuschen, hä? (Ich hatte mir dieses idiotische „hä“ irgendwann angewöhnt und konnte es beim besten Willen nicht mehr ablegen) Habe ich sie letzte Nacht vielleicht doch nach Hause gefahren? Irgendwie konnte ich mich daran erinnern, dass sie mit den Anderen ein wenig herumgemacht hatte, ich ihr in meiner Wut eine Ohrfeige verpasst hatte, und dann...
Ende.
Finito!
Die totale Finsternis.
Ich fuhr mit dem Porsche, der erfreulicherweise vollkommen unversehrt war, den kurzen Weg nach Hause und suchte sie im gesamten Haus. Tante Trude schlief noch tief und fest. Von Sylvia keine Spur. Jedoch ihre Kleidung und die persönlichen Sachen waren vollständig vorhanden.
Ob sie wohl bei einem meiner Freunde übernachtete, überlegte ich. Das kann aber normalerweise nicht der Fall sein, hä, sagte ich mir. Die Ehefrau desjenigen hätte sich für dieses kleine Mitbringsel wohl sehr bedankt!
Ob sie einfach davongelaufen ist? Weg von mir, weil sie die Ohrfeige, die aber in meinen Augen angebracht war, nicht hinnehmen wollte? Eventuell. Aber ohne ihre persönlichen Sachen? Einfach so abhauen? Daran konnte ich mit Bestimmtheit nicht glauben.
Als ich Tante Trude beim Frühstück fragte, ob sie zufällig wüsste, wo sich Sylvia befinden könnte, antwortete sie nur:
„Sei froh, Xaver, wenn sie weg ist!“
Dabei schaute sie mich mütterlich und sehr wissend von der Seite an. Blöde, wie ich war, fragte ich sie nicht, wie sie das denn meine und zog mich um. Ich duschte und rasierte mich und um kurz vor acht Uhr sah ich fast wieder wie ein halbwegs normaler Mensch aus. Also, abgesehen von meinen zugeschwollenen Augen, die mir meine lieben Freunde verpasst hatten.
„Ich fahre jetzt hinunter ins Geschäft, Tante Trude!“
„Ja, mach das Mal, Junge.“
„Falls Sylvia kommt, sage ihr bitte, dass es mir wegen gestern Abend leid tut, hä!“
Tante Trude wusste zwar nicht, was mir so leid tat, aber sie konnte es sich sicherlich denken. Eifersucht, was sonst.
Ich parkte meinen Wagen wie üblich direkt vor meinem Juwelierladen Ich deaktivierte die Alarmanlage, die nachts mit der Polizei gekoppelt war, und sperrte die Eingangstür auf. Danach sperrte ich alle Vitrinen auf. Georg Faust, mein Goldschmied, kam ja immer erst um acht Uhr fünfzehn.
Im hinteren Teil meines Ladens befand sich die kleine Goldschmiede und direkt daneben die Toilette. Ich ging langsam in letztere hinein, weil ich mal dringend pinkeln musste, und lief dann wieder zurück in den Verkaufsraum. In die Goldschmiede selbst ging ich nicht. Was sollte ich dort auch?
Die Eingangstür öffnete sich, und Georg Faust trat ein. Es war exakt acht Uhr fünfzehn. Eben wie immer.
„Guten Morgen, Xaver!“
„Guten Morgen, Georg! Wie geht es dir, hä?“, fragte ich ihn.
„Danke, gut.“
Er schaute mich etwas sonderbar an, aber ich reagierte nicht darauf. Ich überlegte, ob er mir letzte Nacht wohl auch eine verpasst hatte, kam aber nicht dahinter. Er zog seine Jacke aus, hängte sie an unsere Garderobe und ging ganz locker Richtung Goldschmiede. Plötzlich hörte ich einen unterdrückten Schrei:
„Um Gotteswillen, Xaver!“
Ich rannte zu ihm hin und sah sie, Sylvia, auf dem Boden liegend. Eine riesige Blutlache befand sich rings um ihren Kopf, der etwas grotesk, zur Seite geneigt lag. Man konnte deutlich erkennen, dass ihre Kehle fast von Ohr zu Ohr durchgeschnitten war.
Ein Geschworenengericht verurteilte mich, wie bereits erwähnt, zu lebenslänglich.
Meine erlesenen Freunde hatten bei den Zeugenver-nehmungen bestätigt, dass ich gerne trank und chronisch eifersüchtig war. Diese Aussagen stimmten natürlich. Leider. Sie hatten außerdem den Geschworenen einstimmig bestätigt, dass ich Sylvia in der Tatnacht im Gasthaus „Zur Kutsche“ vor allen Anwesen-den geschlagen hatte. Etwas später hätten wir, also Sylvia und ich, als wir das Lokal verließen, weiter gestritten, erklärten sie mit ruhigem Tonfall.
Einstimmig.
Sicherlich war auch das richtig! Ich konnte natürlich nicht erwarten, dass sie für mich lügen oder mich in Schutz nehmen würden, denn dies hätten der Staatsanwalt und auch der Richter bei der Festlegung der Strafe sowieso nicht berücksichtigt.
In meiner ersten Vernehmung hatte ich angegeben, dass ich etwas ausgerastet war, als ich gesehen hatte, wie Sylvia sich gegenüber meinen Freunden benommen hatte.
„Wie eine kleine Hure benahm sie sich!“, hatte ich zu den Kriminalbeamten gesagt.
Auf ihre alles entscheidende Frage, wie der restliche Abend bzw. die Nacht noch mit Sylvia verlaufen war, wusste ich leider keine Antwort. Und irgendeine Geschichte erfinden wollte ich auch nicht. Meine sieben Freunde bestätigten dem Gericht zwar noch, dass ich normalerweise auch im berauschten Zustand nicht brutal oder angriffslustig gewesen wäre, aber dies half mir nun auch nicht mehr weiter.
Ja, das war es dann auch schon! Ich hatte mir mein eigenes Grab geschaufelt! Aber eines wusste ich trotz des alkoholischen Filmrisses, und da war ich mir so ziemlich sicher:
Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, Sylvia zu töten. Jedoch die Beweise sprachen gegen mich. Und mein Filmriss, den ich in besagter Nacht hatte, sprach ebenfalls gegen mich.
Das Gerichtsurteil war innerhalb von zwei Minuten gesprochen und mir wurde eines klar: fünfzehn Jahre meines Lebens waren dahin. Einfach so. Was aber das Schlimmste daran war:
Ich wusste nicht, wie mir geschah.
„Alkoholische Eifersucht“, sagte der Richter.
„Mord im Vollrausch“, meinte der Staatsanwalt.
xxx
Die erste Zeit im Wiener Staatsgefängnis war fürchterlich. Einfach unbeschreiblich. Ich dachte, ich würde tatsächlich wahnsinnig werden. Tante Trude brachte mir bei ihrem ersten Besuch zwei Schachteln Reval und einen selbst gemachten Kirschkuchen mit. Eine Schachtel klaute mir mein Zellenkollege (er saß wegen vorsätzlichen Mordes) und den Kuchen teilte ich dann auch noch mit ihm, weil er so fürchterlich jammerte. Meine ausgeprägte Gutmütigkeit war noch immer vorhanden. Doch diese Wesensart verlor sich dann natürlich im Laufe der Jahre...
Immer wieder fragte ich mich, wieso meine besten Freunde, meine Halbbrüder, so einstimmig gegen mich gesprochen hatten. Sie hätten sich doch auch neutral verhalten können! Aber nein: Einstimmig hatten sie der Jury bestätigt, dass ich mich an diesem Abend so fürchterlich benommen hatte. Natürlich hatten sie außerdem erwähnt, dass sich Sylvia leicht anbiedernd dargestellt hatte, aber dies wäre doch wirklich kein Grund gewesen, sie zu ermorden, erklärten sie. Wie hätte ich mich an ihrer Stelle verhalten, überlegte ich tausend Mal. Hätte ich einen meiner Freunde gedeckt, wenn er in eine völlig aussichtslose Lage gekommen wäre? Hätte ich ihm vielleicht sogar ein Alibi verschafft? Je länger ich im Gefängnis saß, umso klarer wurde meine Antwort:
„Ich hätte mich neutral verhalten.“
Aber andererseits wäre auch ich gezwungen gewesen, die Wahrheit über diesen furchtbaren Abend zu sagen. Dies hatte das Gericht natürlich von ihnen verlangt, und ich hatte einsehen müssen, dass es sich keiner meiner Freunde hätte leisten können, eine Falschaussage zu meinen Gunsten zu machen.
„Junge“, sagte Trude bei ihrem zweiten Besuch mit Tränen in den Augen, „ich weiß, dass du es nicht warst!“
Natürlich hatte man damals schon sehr bald, besser gesagt, gleich einen Tag nach dem Mord, auch die Tatwaffe gefunden. Sie hatte, versteckt hinter Tante Trudis Haus, halb eingegraben in der nassen Wiese gelegen. Selbstverständlich hatte man mir dieses lange, glatte Messer mit seiner ungeheuer scharfen Schneide und dem dunkelroten Griff gezeigt, ...
... jedoch: Ich kannte es nicht. Ich hatte es in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Und die Waffe hatte zudem einen kleinen Fehler: Meine Fingerab-drücke waren darauf. Eindeutig und völlig klar.
„Fragen Sie mich nicht, meine Herren“, hatte ich nach dem Fund der Mordwaffe zu den Kripobeamten gesagt, als sie mich darauf angesprochen hatten, „wie meine Fingerabdrücke auf diese Waffe gekommen sind.“
Sie hatten nur milde gelächelt.
Um in meiner Doppelzelle nicht völlig durchzudrehen, (mein damaliger Kollege, der Schwiegermutter-mörder Heinz Haspel wurde nach etwa zwei Jahren trauten Zusammenseins in ein anderes Gefängnis verlegt) bat ich den Gefängnisdirektor, mir doch Pinsel und Farben sowie Leinwand zu genehmigen. Aufgrund meines guten Benehmens gestattete er mir dann endlich, mit dem Malen beginnen zu dürfen. Zuerst erhielt ich nur Papier und einen Bleistift, aber dann, als die Gefängnisleistung sah, wie gut ich zeichnete, bekam ich auch Leinwand und Ölfarben. Tagsüber arbeitete ich in der Wäscherei und wenn es Abend wurde, begann ich, Phantasiezeichnungen zu entwerfen: Gesichter, die ich nicht kannte, Gebäude, die ich nicht kannte, Landschaften, die ich nicht kannte und gelegentlich furchtbare Fratzen, die ich aus meinen Albträumen kannte. Außerdem zeichnete ich Messer verschiedenster Art:
Kleine,
große,
dicke,
dünne,
lange,
kurze,
saubere,
dreckige,
stumpfe,
scharfe,
gezackte,
geriffelte,
gebogene,
gerade und natürlich...
... blutverschmierte.
Seit einigen Wochen war ich nun schon seit Haspels Verlegung alleine in diesem engen und etwas feuchten Raum. Dieses Luxuszimmer beinhaltete folgende Gegenstände: Zwei Eisenbetten (übereinander gebaut), ein stumpfes, abgegriffenes Waschbecken, eine dreckige Plumpstoilette, einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher, der auf einem winzigen Tischchen stand, und natürlich dieses furchtbare, winzige, quadratische, mit dicken Gitterstäben versehene Fensterchen, das sich im Laufe meines weiteren, doch sehr langen Aufenthaltes unauslöschbar in mein Gehirn brannte.
7 Eisenstäbe!
Meine Bilder musste ich kniend, auf dem kalten, nackten Steinboden malen, weil auf dem Tischchen kein Platz vorhanden war. Der Fernseher war darauf fixiert. Es war nicht leicht, auf dem tristen Boden zu arbeiten, aber es ging so. Wie gesagt: 7 Gitter besaß dieses Fenster. Jeder einzelne Stab stellte symbolisch einen meiner guten Freunde dar.
Ein Stab für Johann,
ein Stab für Michael,
ein Stab für Martin,
ein Stab für Richard,
ein Stab für Franz,
ein Stab für Erich und
ein Stab für Georg.
Endlich, nach langem, monatelangem Warten, wurde mir ein neuer Zellenkollege zugeteilt. Sein Name war Dr. Helmut Schnitt. Meine furchtbare Einsamkeit in diesem Loch, mit der ich nur sehr schlecht zurechtgekommen war, war endlich zu Ende. Ich saß inzwischen schon eine recht lange Zeit in diesem düsteren, äußerst ungemütlichen Gefängnistrakt und ich zwang mich, nicht vorwärts zu denken.
Noch läppische zwölfeinhalb Jährchen...
Helmut und ich verstanden uns von Anfang an prächtig. Man hatte ihn wegen mehrfacher, fahrlässiger Tötung zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Einige kleinere, unwesentliche Vorstrafen waren vorausgegangen, die dann zu dieser hohen Strafe geführt hatten. Wie er mir schon bald erzählte, war er mit seinem schweren Wagen in volltrunkenem Zustand in eine Fußgängergruppe gerast, hatte dabei fünf Menschenleben ausgelöscht und obendrein Fahrerflucht begangen.
„Vorsätzlicher Vollrausch!“, hatte der Richter gesagt.
Auch Helmut hatte am Tag nach dem furchtbaren Unfall nicht mehr gewusst, wie ihm geschah...
Filmriss!
Scheiß Alkohol!
Ich schwor mir damals, nie mehr in meinem Leben einen Tropfen Alkohol zu trinken, denn ich hatte immer wieder den grauenhaften Albtraum, nach fünfzehn Jahren entlassen zu werden, vor Freude etwas zu trinken und dann einen Menschen zu töten, um es dann am nächsten Tag nicht mehr zu wissen. Klitschnass wachte ich Hunderte Male nachts auf und war heilfroh, dass es nur ein Traum war. Ein weiterer Albtraum, den ich immer wieder hatte und der mich einfach nicht losließ, beinhaltete meinen eigenen Tod in dieser grausamen Zelle...
Die Zeit verging.
Sehr, sehr langsam, aber sie verging.
Ich fing an, zu boxen. Tom, ein ehemaliger Boxprofi, der im Suff seinen Hausnachbarn mit einem einzigen Aufwärtshaken getötet hatte, lernte mir diese hohe Kunst der Selbstverteidigung. Er trainierte natürlich noch etliche andere Gefängnisinsassen, die ihre bestehenden Aggressionen auf diese Art auslebten.
Die Tage, die Wochen, die Monate und die Jahre tropften dahin. Manche Tage kamen mir wie Monate vor. Der Aufenthalt in diesem harten Gefängnis wurde zur Ewigkeit...
Tante Trudi kam, wie gesagt, sehr regelmäßig. Sie liebte mich wie ihren eigenen Sohn und immer wieder erklärte sie mir, dass sie nicht daran glaube, dass ich Sylvia damals ermordet hatte.
Ich selbst war mir bei meiner Verhaftung absolut sicher gewesen, dass ich es nicht war, der Sylvia getötet hatte, aber im Laufe der Jahre im Knast wurde ich von Mal zu Mal unsicherer. Meine Gedanken und Gefühle veränderten sich. Mein anfänglicher Zorn auf meine Freunde verblasste. Es kam soweit, dass sich dieses letztere Gefühl irgendwann neutralisierte.
Nun war ich also ein Mörder unter vielen, anderen Mördern. Ich hatte die harte Strafe angenommen, aber akzeptieren konnte ich sie trotzdem nicht.
Viel später...
Inzwischen war ich schon über dreizehn Jahre Gast im Wiener Staatsgefängnis und es ging mir seelisch besser, als zehn Jahre zuvor. Wieso? Weil ich diese furchtbare Strafe dann doch akzeptiert hatte. Genau wie den Mord an Sylvia. Diese bittere Schuld. Ich ärgerte mich insgeheim, dass ich sie nicht schon von Anfang an für mich akzeptiert hatte. Aber vorbei ist vorbei, sagte ich mir. Jedoch konnte ich mich zu keiner Zeit dazu überwinden, ein Geständnis abzulegen, weil ich mir eben nicht zu hundert Prozent sicher sein konnte, dass ich Sylvia die Kehle tatsächlich durchgeschnitten hatte.
Dr. Schnitt, mein langjähriger Zimmergenosse, war inzwischen zu meinem Ersatzbruder geworden. Er hatte mir natürlich sehr viel über sein früheres Leben erzählt und ich muss zugeben, dass er ein hochinteressanter Mann war. Helmut war früher ein angesehener, selbständiger Arzt gewesen, bis ihm irgendwann dieser furchtbare Fehler unterlaufen war. Ein tödlicher Fehler. Er war rechtskräftig verurteilt worden, und er musste seine Strafe absitzen. Genau wie ich. Helmut war als Schönheitschirurg tätig gewesen, und er hatte hauptsächlich in Unterweltkreisen operiert. Einmal fragte ich ihn, was er denn nach seiner Entlassung vorhabe, und er antwortete:
„Ich werde wieder genau das tun, was ich gelernt habe.“
„Recht so, Helmut!“, sagte ich zu ihm.
Kurzer Rückblick:
Damals bei meiner Verhaftung bzw. nach meiner offiziellen Verurteilung, hatte mein ehemaliger Mitarbeiter Georg Faust mein wunderbares Geschäft übernommen. Tante Trude hatte das Finanzielle mit ihm geregelt. Das Geld, das ich für den Schmuck und die sehr wertvolle Einrichtung von Faust erhalten hatte, hatte Trude auf ein spezielles Konto gelegt, das zugunsten meines Namens ausgestellt war. Er, Georg Faust, musste sich damals ziemlich verschulden, aber mir war klar, dass er diesen hohen Betrag im Laufe der Zeit problemlos hatte zurückzahlen können. Denn das Geschäft lief ganz hervorragend...
Mir war natürlich auch klar, dass ich nach meiner Entlassung im September 2002 nicht gerade mittellos sein würde. Trudchen hatte für mich alles geregelt.
Ich war mittlerweile ein Häftling, der sich weder gegen die Zeit noch gegen das Personal auflehnte. Geschweige denn gegen seine Mithäftlinge. Meine Bilder wurden bekannt und bekannter. Man mochte sie, und man mochte auch mich. Nach einer Haftzeit von knapp vierzehn Jahren, also 2001, kam Tante Trude wieder einmal zu mir. Sie war an diesem Tag anders, als sonst. Ja, sie schien mir furchtbar aufgeregt:
„Grüß dich, Xaver. Ich habe dir etwas mitgebracht!“ Ihre Augen leuchteten.
„Was denn, Trude? Einen Kirschkuchen?“
„Nein, mein Lieber. Jetzt höre mal ganz genau zu, mein Junge: Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe unter einem losen Brett, auf dem ein Fuß des Bettes stand, in dem Sylvia geschlafen hatte, ein Tagebuch gefunden.“
„Ein Tagebuch?“ Mir wurde heiß.
„Es ist von Sylvia, Xaver. Stell dir das mal vor.“
„Und? Hast du es gelesen?“
„Aber natürlich! Junge. Halte dich jetzt bitte fest, und versprich mir eines: Mache mir keinen Vorwurf, dass ich dieses Büchlein dir, und nicht dem Staatsanwalt, gebe.“
Ich ahnte in diesem Moment Schlimmes, aber ich hatte im Laufe der vielen Jahre gelernt, mich zu beherrschen. Mich konnte sozusagen nichts mehr erschüttern. Auch das chronische „hä“ hatte ich mir endgültig abgewöhnt, nachdem mich viele Mithäftlinge nachgeäfft hatten.
„Gib es mir.“
„Bitte, mein Junge.“
Ich nahm es vorsichtig und schlug es auf. Auf der linken Seite waren wunderschöne, unschuldige Blümchen gemalt, deren Farben etwas verblasst waren. Es folgten zwei Seiten, in denen Sylvia ihre große Freude ausdrückte, mich kennengelernt zu haben. Freude! Von Liebe kein Wort. Ich musste erst einmal mächtig schlucken. Dann schlug ich Seite 4 auf:
„Wenn Xaver wüsste, wie ich mir mein Taschengeld verdiene, würde er mit mir sicherlich sofort Schluss machen. Aber da ich ihn recht gerne mag, und ich nicht von ihm weg möchte, sage ich ihm natürlich nichts davon. Er wird es auch nie erfahren.“
(Urplötzlich fiel mir Sylvias gewaltsamer Tod ein wenig leichter.)
Ich blätterte um - Seite 5: „Michael hat wieder nicht bezahlt, obwohl er es mir versprochen hatte. Aber ich werde es ihm nicht schenken. Wo käme ich denn da hin? Wenn ich es ihm durchgehen lasse, dann wollen es die Anderen natürlich auch umsonst!“ (Was umsonst?)
Seite 6: „Ich habe große Angst, dass mir Xaver dahinterkommt. Wie würde er wohl reagieren? Ob er mich sogar schlagen würde? Ach, was soll’ s. Irgend-wie muss man ja zu Geld kommen.“
Seite 7: „Sie Alle sagen, dass ich im Bett phantastisch bin. Wenn das ihre Frauen wüssten! Da wäre was los! Aber halt: Ich werde es ab sofort anders machen! Keinen Sex mehr, und trotzdem Geld! Sie werden bezahlen, diese Schweine, oder ich werde es ihren Frauen erzählen.“ (Nun fiel mir Sylvias Tod noch etwas leichter!)
Seite 8: „Ich fühle mich so fürchterlich elend. Diese ewigen Lügen machen mich ganz nervös. Xaver fragt mich immer wieder, ob ich ihn wohl lieben würde, und ich lüge ihn immer aufs Neue an. Aber was soll ich ihm denn erzählen? Er würde mich sofort hinauswerfen, wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde!“
Seite 9: „Ein verdammter Teufelskreis ist das mit diesen geilen Burschen! Es wird mir langsam zu viel. Jetzt vögele ich pro Tag schon mit zwei bis drei Männern! Aber am besten ist und bleibt doch mein... (Meine Gedanken überschlagen sich!) ...Georg. Ach! Wie dieser Mann zugreift! Einfach unvergleichbar! Aber leider ist auch er verheiratet.“
Seite 10: „Georg erzählt mir Märchen! Er will sich scheiden lassen! Dass ich nicht lache! Es geht ihm doch nur um den guten Sex mit mir! Um sonst gar nichts! Dieser elende Scheißkerl!“
Seite 11: „Heute habe ich Georg vor die Alternative gestellt: Entweder sie, oder ich. Seine drei Kinder kann sie gerne behalten! Wenn mich nur dieser Schmiersack von Johann endlich in Frieden lassen würde! Jetzt will er es sogar schon in seinem Büro! Auf dem Schreibtisch! Na ja, Hauptsache, er bezahlt.“ (Ihr verfluchten Hunde, durchfährt es mich!)
Seite 12: „Keiner von ihnen will weiterhin für den Sex bezahlen. Sie wollen es Xaver stecken! Diese Arschlöcher! Ich werde sie alle vor die Alternative stellen: Geld, oder ich packe aus. Dann gibt es in Himmelstein auf einen Schlag sieben Scheidungen. Das würde mir gefallen...“
Seite 13: „Ich sagte ihnen heute, dass ich die Sache platzen lassen würde. Ab sofort kein Sex mehr. Daraufhin forderten sie mich auf, Himmelstein zu verlassen. Ich lehnte ab. Sie drohten mir, mich umzubringen. Ja, einen Schuldigen hätten sie auch schon parat! Xaver! Dass ich nicht lache! Sie wollen mich umbringen! Ich erklärte ihnen, dass ich es ihren Frauen sagen werde, falls sie mir nicht das geben würden, was ich von ihnen verlange: Geld...“
Zitat Ende.
Das Büchlein fällt mir aus der Hand.
Tante Trude starrt mich an und ihre Blicke fragen mich: War es richtig, dir, Xaver, dieses Büchlein zu zeigen? Oder war es falsch?
„Es war richtig, Trude. Lass es mir, bitte.“
„Wir müssen es dem Staatsanwalt zeigen, Junge!“
„Nein, Tante. Diese Sache nehme ich jetzt selbst in die Hand.“
„Was willst du tun? Du hast noch ein ganzes Jahr vor dir! Wenn der Richter dieses Büchlein liest, wird ihm doch sofort klar, dass... du es nicht warst!“
„Vergiss es. Ich werde dieses Jährchen auch noch absitzen. Aber eines ist mir natürlich klar geworden, Tantchen: Ich war es mit tödlicher Sicherheit nicht!“
„Es war ja auch nicht dein Messer! Jedenfalls kannte ich es nicht.“
„Ja, Trude, ich kannte es auch nicht.“
Sie sitzt mit gebeugten Schultern vor mir und heult Rotz und Wasser. Sie tut mir furchtbar leid. Was habe ich ihr nur angetan? Alleine diese verfluchte Sauferei war schuld daran, dass dies alles geschah!
„Sie machten mich zu ihrem Sündenbock, Tantchen. Sie schnitten ihr die Kehle durch, Georg entsicherte die Alarmanlage und sperrte den Juwelierladen auf, sie brachten sie hinein, mich legten sie in den Porsche, als ich eingeschlafen war und somit waren sie alle aus dem Schneider. Ja, genauso war es. Nicht anders.“
„Ja, Xaver. So wird es gewesen sein. Aber noch wahrscheinlicher ist es, dass sie Sylvia erst in deinem Laden umgebracht haben.“
„Du hast recht. So, und nicht anders, wird es abgelaufen sein.“
„Warum willst du noch weiterhin hier bleiben, Junge? Du könntest vielleicht schon morgen dieses furchtbare Gefängnis als freier und rehabilitierter Mann verlassen!“
„Darauf lege ich keinen Wert mehr, Tante. Ich werde das auf meine eigene, ganz persönliche Art regeln. Du kennst mich doch inzwischen, oder? Außerdem bin ich rechtskräftig verurteilt.“
Ich schaue sie sehr ernst an, und sie blickt mich todtraurig an.
„Diese Bestien! Sie haben dein Leben zerstört, Xaver.“
„Ja, Tante - aber nur fast!“
Ich erzählte natürlich Helmut von meiner Geschichte. Tantchen überließ mir das Büchlein nur sehr widerwillig. Am liebsten wäre sie sofort zum Gefängnisdirektor gelaufen und hätte einen Riesenaufstand um mich gemacht! Aber Helmut verstand mich, als ich ihm meinen Plan darlegte:
Es war der Plan aller Pläne.
Nichts konnte mich davon abhalten.
xxx
Helmut, dieser absolute Profi, hatte nun noch etwa sechs Monate vor sich. Dann würde er seine Strafe komplett abgesessen haben. Ich musste noch weitere sechs Monate in dieser Zelle verbringen. Verständlicherweise waren die letzten vierzehn Jahre nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich sah nun nicht wie zweiundvierzig, sondern mindestens wie vier- oder fünfundfünfzig aus. Mein Körper hingegen war so fit und durchtrainiert wie der eines Fünfundzwanzigjährigen. Mein nahezu tägliches Boxtraining hatte ich natürlich beibehalten. Inzwischen konnte ich mich mit meinem ehemaligen Trainer Tom, dem Berufsboxer, der zwanzig Kilogramm mehr als ich auf die Waage brachte, ohne Weiteres messen. Ihn sogar besiegen!
„Ich werde dir ein komplett neues Gesicht verpassen, Xaver.“
„Ja, Helmut.“
„Es werden drei Operationen notwendig sein, wenn ich dein Gesicht so gestalten soll, wie du es wünschst.“
„Ich werde es überleben, denke ich.“
„Es bleibt also dabei: Wenn du entlassen wirst, kommst du direkt zu mir nach Wien.“
„Klar, Helmut. Mache ich.“
„Man muss ja schließlich und endlich zusammenhalten, oder?“ Er grinste dabei, der alte Freund.
Helmut wurde mittlerweile sechzig Jahre alt, aber komischerweise sah er höchstens wie fünfzig aus. Ich kannte natürlich sein Erfolgsrezept: Es war seine innere Einstellung zum Leben. Er war Halbitaliener, und er nahm seine Schicksalsschläge nicht so ernst, wie manch Andere hier in diesem grauenhaften Bau. Der Großteil der „Lebenslänglichen“ alterte jedoch, genau wie ich, vorzeitig.
Zumindest im Gesicht.
xxx
Jetzt, ein Jahr vor meiner Entlassung, begann ich, ernsthaft an meiner Persönlichkeit zu arbeiten. Dies war die Voraussetzung, die Basis, für meinen Plan, den ich in die Tat umsetzen wollte. Ich begann in unserer Zelle (und natürlich nur hier drinnen!), mir eine völlig andere Gehweise anzutrainieren. Ich hinkte etwas. Stundenlang lief ich in der vier Meter langen Zelle hin und her. Dabei berücksichtigte ich selbstverständlich auch meine Körperhaltung. Helmut beobachtete mich dabei höchst interessiert und gab mir immer wieder den einen oder anderen Tipp.
Schließlich begannen wir gemeinsam, und hierzu brauchte ich ihn unbedingt, mir eine andere Sprechweise anzugewöhnen. Auch die Veränderung meiner Stimme war in diese äußerliche Veränderung meiner Person mit integriert. Von Tag zu Tag machte ich gute Fortschritte und Helmut führte mich durch gezielte Kritik (und kleine Anerkennungen) genau dorthin, wohin ich gelangen wollte:
Zur totalen, äußeren Veränderung.
Niemand, der mich von früher her kannte, dürfte mich an gewissen Gesten, Sätzen, Verhaltensweisen, an der Sprache oder Stimme (die sich im Laufe der langen Jahre zum Glück automatisch etwas veränderte) oder an sonstigen Kleinigkeiten erkennen, sagte ich mir immer wieder. Ich legte in monatelanger, mühseliger Übung meinen österreichischen Dialekt ab und sprach irgendwann, natürlich klammheimlich, perfekt hochdeutsch. Es war eine sehr anstrengende Prozedur, aber sie klappte. Und die Wärter kriegten nichts mit.
Im Laufe der Monate wurde ich nun tatsächlich zu einem etwas gebeugten, alten Mann. Helmut würde mein Gesicht durch seine Operationen noch um einige Jahre älter erscheinen lassen, versicherte er mir. Außerdem würde er sich um neue Papiere für mich kümmern. Seine Verbindungen zu gewissen Kreisen waren trotz seines kurzen Zwischenstopp von etwa zwölf Jahren im Staatsgefängnis nicht abgebrochen, denn Leute wie Dr. Helmut Schnitt sind sehr gefragt! Weltweit! Helmut war sozusagen bis auf Weiteres voll ausgebucht. Einige Stammgäste waren schon jetzt bei ihm fest vorgemerkt, wie er mir schlitzohrig erzählte. Tante Trude weihte ich in meinen Plan ein. Sie hatte immer zu mir gehalten, sie glaubte nun erst recht an meine Unschuld, und nun konnte sie auch meine innersten Gefühle verstehen.
„Wie hart du geworden bist, Xaver!“
„Ja, Tantchen, das wärst du hier drinnen auch geworden!“ Ich lächelte sie dabei liebevoll an.
„Du bist und bleibst mein kleiner, einziger Xaver.“ Sie tätschelte meine raue, unrasierte Wange.
„Das Leben spielt manchen Menschen ganz schöne Streiche, was Tantchen?“
„Es war nicht dein Leben, Junge! Es waren diese Bastarde!“
„Du kennst meinen Plan, Trude. Ich werde ihn durchführen. Es ist mir egal, was letztendlich dabei herauskommen wird.“
„Natürlich wäre es mir lieber, Junge, wenn du ganz von vorne anfangen würdest. Geld hast du ja genügend. Aber ich kann dich doch sehr gut verstehen.“
Sie war am bevorstehenden, schon fast fühlbaren Ende meiner langjährigen Haft, die einzige lebende Verwandte, die ich noch hatte. Mein Vater war bereits im Jahr 1990 an seiner chronischen Raucherei verstorben und meine Mutter war ebenfalls ein Jahr zuvor einem Krebsleiden erlegen. Geschwister hatte ich keine.
Helmut verabschiedete sich im Frühjahr 2002 von mir und ich bekam einen neuen Zellengenossen. Walter, ein Doppelmörder, hatte genau wie ich fünfzehn Jahre vor sich, und er fragte mich im Laufe meiner letzten Zeit im Gefängnis immer wieder, wie es denn sei, wenn man fünfzehn Jahre hinter sich habe. Ich antwortete darauf nur ausweichend, denn ich konnte und wollte ihm nicht ins Gesicht sagen, was er noch vor sich hatte.
Etwa drei Monate vor meiner Entlassung, (es war im Juni 2002) steckte mir der Sekretär des Gefängnisdirektors Gerhard Stein, dass sich einige Leute bei ihm nach mir erkundigt hätten. Es hatte sich hierbei um den Bürgermeister von Himmelstein, Herrn Dr. Johann Klein, und dessen Sekretär gehandelt. Man habe wissen wollen, ob ich nach meiner Entlassung in den Ort Himmelstein zurückkommen würde...
... oder nicht.
Er, der Gefängnissekretär, hatte den Leuten eine etwas undurchsichtige Antwort gegeben, da er selbst nicht exakt wusste, wie meine weiteren Pläne aussehen würden. Er hatte ihnen erklärt, dass sich der Häftling Xaver Grimm aller Voraussicht nach seiner Entlassung nicht mehr in Himmelstein niederlassen würde. Ich bestätigte ihm diese, seine an den Haaren herbeigezogene Auskunft, und somit war ich also vorgewarnt:
Die Herren hatten Angst!
Wer weiß, überlegte ich damals, in meiner Zelle hin- und herlaufend, ob sie sich nicht schon die nächste Gemeinheit ausgedacht haben! Vorausschauend, gezielt und hinterhältig! „Aber wartet, ihr Burschen!“, sagte ich mir. Ich werde euch schon einheizen! Ihr werdet euch allesamt wünschen, Sylvia nie kennengelernt zu haben! Ganz zu schweigen von mir!
Zwei Monate, bevor ich mein zweites Zuhause verlassen durfte, also im Juli 2002, traf mich noch ein furchtbarer Schlag: Tante Trude starb einsam und allein in ihrem kleinen Häuschen. Ihre Katzen wurden ins Tierheim gebracht und das Haus wurde, wahrscheinlich von einem Gemeindediener, verschlossen. Sie hatte es mir vermacht.
Die Gefängnisleitung ließ mich nicht zur Beerdigung fahren, aber so hart es auch klingen mag: Es hätte auch gar nicht in meinen Plan gepasst. Er wäre zerstört gewesen, bevor er überhaupt begonnen hätte, eben weil man mich wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit, in Himmelstein erkannt hätte. Noch hatte ich mein altes Gesicht, zwar unheimlich gealtert, jedoch immer noch gut erkennbar...
Im September 2002 war es dann endlich soweit: Ich wurde nach insgesamt 180 Monaten entlassen. Das waren genau 5479 kurzweilige Tage...
Fünftausend... vierhundert... neunundsiebzig...
Als ich an meinem Entlassungstag am Schreibtisch unseres Gefängnisdirektors stand und seine Hand schüttelte (er wünschte mir das Beste!), überschlugen sich in meinem Kopf tausend Dinge. Jedoch geriet ich nicht in Panik, da ich ja mein nunmehr freies, neues Leben auf das Genaueste geplant hatte.
Ich fuhr mit dem Taxi (für mich war dieser neue Mercedes, in dem ich saß, geradezu ungeheuerlich!) in die Innenstadt von Wien und kaufte mir dort zuerst einmal in einem wunderschönen Lokal eine gegrillte Schweinshaxe und einen großen Überkinger. Den Gedanken, mir ein frisches Bier zu bestellen, hatte ich aus meinem Gehirn für alle Zeiten gebannt. Die Preise waren zwischenzeitlich dermaßen in die Höhe geschnellt, dass mir fast die Luft wegblieb. Gut, dass ich nicht arm bin, sinnierte ich.
Ich musste feststellen, dass sich alleine von dem, was ich hier sehen konnte, wahnsinnig viel verändert hatte. Die Mode der Frauen und der Jugend, die Autos, die Computer, die Kassen in den Geschäften, die Busse, viele, viele Kleinigkeiten, die Graphiken auf den Schildern und Anzeigen, die sauberen Straßen, die allgemeinen Techniken u. s. w. Ich war wie erdrückt.
Es war ein ganz unglaubliches Gefühl, wieder in Freiheit zu sein. Die vielen Menschen um mich machten mir aber etwas Angst. Ich war es nicht mehr gewöhnt: Dieses Gedränge, diese unbefangenen Menschen, die um mich herumstanden und zum Teil laut und albern lachten oder auch rannten oder kreischten.
Ich saß also an meinem kleinen, mit einer blau-weißen Decke überzogenen Tischchen und genoss den herrlichen Braten. Und ich analysierte meine Gefühle:
Damals, als ich die Strafe für mich angenommen und akzeptiert hatte, ertrug ich die Gefangenschaft, die noch vor mir stand, wie gesagt wesentlich besser. Als ich jedoch das kleine Büchlein gelesen hatte, veränderte sich mein Allgemeinempfinden zum Negativen. Auch Helmut hatte deutlich gespürt, wie ich mich von Tag zu Tag innerlich veränderte. Er hatte mich auch darauf angesprochen, aber ich konnte und wollte dagegen nichts unternehmen. Gut, ich hätte mit unserem Gefängnispfarrer darüber sprechen können, aber ich war im Laufe der langen Jahre ein regelrechter Einzelkämpfer geworden. Ich trug meine Gedanken und Gefühle mit mir selbst aus. Ja, und ich wurde ab diesem Zeitpunkt mir gegenüber zusehends härter, unbeugsamer und gnadenloser. Wüste Phantasien hatten sich in meinen nächtlichen Träumen abgespielt, und oft war ich in meinem schmalen Bett erwacht und hatte nicht gewusst, ob dies die Wahrheit, oder nur ein Traum war. Oft wünschte ich mir, dass er Realität gewesen wäre, dieser Traum, gerade dann, wenn es mir seelisch schlecht erging und es wieder einmal um meinen eigenen Tod gegangen war...
Aus meinen persönlichen Papieren und dem dicken Sparbuch konnte ich nun ersehen, dass ich trotz meines kurzen Arbeitsausfalles von mehr als fünfzehn Jahren ein gemachter Mann war. Der damalige Erlös aus meinem Geschäft hatte sich verzinst und verzinst, und nun verfügte ich über ein Vermögen von mehr als 700.000- Euro. Ein ansehnliches Sümmchen! Außerdem gehörte mir Tante Trudes Häuschen in Himmelstein, das ja seit längerer Zeit leer stand.
Ich nahm nach dem herrlichen Essen ein weiteres Taxi und fuhr damit direkt zu Helmut hinaus. Sein neues Haus lag etwas außerhalb von Wien. Er begrüßte mich überschwänglich und schenkte mir zur Begrüßung ein nagelneues Handy. Wir umarmten uns und er sagte:
„Damit du besser in die neue Zeit passt, mein Freund!“
Seinen Blicken zufolge war er sehr überrascht, dass ich meine äußerliche Persönlichkeit die letzten sechs Monate im Knast noch verfeinert hatte: Die schleifende Gehweise, die etwas schiefe, gebeugte Haltung, der leicht zur Seite geneigte Kopf, und noch einige Kleinigkeiten, die ich mir mühevoll antrainiert hatte, schienen echt zu sein. Sogar für ihn, diesen ausgebufften Hund, stellte es sich so dar.
„Einfach phantastisch, Xaver. Geradezu ungeheuerlich!“
„Ja, ich würde sagen: Perfekt! Jetzt fehlt mir nur noch mein neues Gesicht!“
„Sowie neue Hände, Xaver.“
„Wieso neue Hände?“
„Auf die Hände schaut man sofort. Ich muss sie etwas umgestalten. Zumindest auf den Handoberflächen.“
„Wie du meinst, Helmut.“
„Auch der Hals!“
„Klar, auch der Hals.“
„Normalerweise solltest du jetzt dein restliches Leben für dich genießen, Xaver. Genügend Geld hast du ja. Das Malen ist für dich wohl kein Beruf, sondern mehr eine Leidenschaft geworden. Wie gesagt, mein Freund, jeder Außenstehende, der niemals in einem Gefängnis saß, würde so sprechen. Aber ich kann dich, ehrlich gesagt, sehr wohl verstehen. Was man dir angetan hat, war einfach bestialisch! Diese Männer müssen büßen...“
„Ich könnte jetzt unmöglich zurückstecken und die Sache auf sich beruhen lassen, Helmut. Mein Hass hat sich besonders im letzten Jahr meines Aufenthaltes im Staatsgefängnis multipliziert. Ich möchte fast sagen: Unerträglich multipliziert. Aber du hast es ja zum Teil noch mitgekriegt...“
Er schaute mich an und nickte.
„Die nächsten Monate wirst du mein ganz spezieller Gast sein, Xaver!“
Helmuts äußerst gepflegtes Haus, das er sich erst kürzlich gekauft hatte, lag, von einer hohen, sauber geschnittenen Hecke umgeben, am Rande einer kleinen Talsohle. Jim, sein Schäferhund, behütete sein teures Anwesen. Helmut hatte in diesem zweistöckigen Haus seine Privatpraxis eingerichtet, die sich im Erdgeschoss befand. Ein Butler und eine Köchin kümmerten sich um unser Wohl. Ein Gärtner namens Hugo, der auch Besorgungsfahrten erledigte, stellte sich als ein sehr angenehmer Zeitgenosse heraus, mit dem ich mich oft über Gott und die Welt unterhielt. Ja, und mein kleines, gemütliches Gästezimmer mit TV, Video, Telefon und weiteren Annehmlichkeiten lag im oberen Bereich. Helmut überließ mir zusätzlich den Kraftraum, in dem ich mich im Laufe der nächsten Zeit zumindest physisch fit halten konnte. Hatte er ihn speziell für mich eingerichtet?
Wir erledigten Proforma folgendes Geschäft: Dr. Helmut Schnitt kaufte mein Häuschen (natürlich unter einem falschen Namen) von Xaver Grimm, dem Erben. Außerdem legte er gewisse Scheinkonten an, auf die er verschieden hohe Summen meines Geldes überwies, eben, um es zu waschen. Er bezweckte damit, dass sich meine weitere Spur verlaufen sollte. Exakt dies lag sehr in meinem Interesse.
Es kam der Tag, den ich einesteils herbeisehnte, und vor dem ich mich andererseits aber fürchtete: Der Tag der ersten Gesichtsoperation. Es war ein Samstag und Helmut sagte mir, bevor ich mich auf seinen OP-Tisch legte:
„Ab heute musst du etwas umdenken, Xaver. Ich werde dir ein völlig neues Gesicht verpassen!“
Der Eingriff ging vorüber. Vier Wochen später war die zweite OP und im Dezember 2002 die dritte. Bei diesem dritten Eingriff veränderte Helmut nun auch die Oberflächen meiner beiden Hände und die meines Halses. Bedingt durch die Bandagen war ich in meinen momentanen Handlungen, wie z.B. Training etc. nun doch sehr eingeschränkt. Weihnachten feierte ich mit einem frisch operierten Gesicht, mit präpariertem Hals und nahezu im Augenblick unbrauchbaren Händen mit Helmut in dessen Wohnzimmer. Da ich im Gesicht natürlich auch noch Bandagen trug, musste ich mich nun vor den Bediensteten nicht - noch nicht - verstecken.
Wir gingen auf Nummer sicher.
Erst im März, so sagte Helmut, würde er diesen Schutz von meinem Gesicht nehmen. Ich zog mich bis zum dem Zeitpunkt, an dem die Wunden verheilt sein würden, geduldig in mein kleines, äußerst gemütliches Zimmer zurück. Meine Hände waren inzwischen soweit recht gut abgeheilt. Die Bandagen waren entfernt. Er hatte an alles gedacht: Sogar Altersflecken hatte er mir sowohl im Gesicht (wie er mir vorbeugend erklärte), als auch an den Händen verpasst. Es stimmte: Meine Hände waren rein optisch alte Hände. Ja, und meinen Hals, der genau wie mein Gesicht immer noch einbandagiert war, hatte er, wie gesagt, ebenfalls bearbeitet. Der Hals würde dann ebenfalls faltig, aber unglaublich echt, wirken, wie er mir versprach. Ein Vollprofi, mein Freund Helmut! Das konnte man wohl behaupten! Jedoch: Helmut hatte mich gewarnt!
Als er schließlich all die Bandagen von meinem Gesicht und vom Hals entfernte und ich den ersten Blick in den großen Spiegel im Bad warf, hätte es mich beinahe rückwärts umgeworfen: Vor mir - in diesem gemeinen und hinterlistigen Spiegel, der nichts verbarg - sah ich einen etwa siebzigjährigen Mann. Helmut hatte mich durch seine Operationen völlig verändert. Ich möchte sogar sagen:
Absolut.
Mein Kinn trat nun stärker hervor, meine Wangenknochen wirkten etwas eingefallen (obwohl sie es nicht waren!), die Stirn zeigte starke Falten, meine Augen lagen etwas tiefer in den Höhlen als zuvor, und meine Ohren standen sichtlich ab. Mein gesamtes Gesicht war, wie gesagt, restlos verändert. Der Hals auch. Er wirkte nun etwas dünner. An der Stirn konnte ich, genau wie an meinen Händen, unglaublicherweise täuschend echt wirkende Altersflecken entdecken. Und mein volles, langes Haar hatte er gleich in der Vollnarkose geschnitten, grau gefärbt und umgekämmt. Ich sprach ein paar leise Worte und stellte fest, dass ich es war.
Ich - Xaver Grimm.
Ich selbst.
Es war ungeheuerlich!
Mit diesem Gesicht, so sagte ich mir, würde mich niemand mehr erkennen. Auch wenn mich der Gefängnisdirektor jetzt höchstpersönlich sehen würde: Er würde mich nicht als Xaver Grimm erkennen. Einfach unmöglich! Aber ob mich Tante Trudchen erkannt hätte? Ich weiß nicht so recht...
Als ich vom Badezimmer in mein Zimmer zurückkehrte, wartete Helmut dort schon gespannt auf mich. Er war sicherlich darauf gefasst, dass ich ihm nun mein Entsetzen mitteilen würde, aber er kannte mich ja. Ich ergriff seine Hand und er erklärte mir:
„Wenn du es wünschst, Xaver, dann kann ich dich ohne Weiteres irgendwann wieder so operieren, dass du etwas jünger aussiehst.“
Ich sagte ihm jedoch, immer noch seine Hand haltend, dass ich auf solche Äußerlichkeiten keinen Wert mehr legen würde. Ich hatte ganz andere Gedanken. Spätestens jetzt erkannte er, wie hart ich geworden war. Ja, und wie ernst mir mein Plan war! Er nickte nur. Ja, er verstand mich.
Er überreichte mir einen neuen Personalausweis, einen Reisepass und einen Führerschein. Sogar an einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis hatte er gedacht. Ausweise, in denen nur noch die Passbilder fehlten. Er hielt eine Spezialkamera in der Hand, grinste mich an und sagte:
„Bitte recht freundlich!“
Er, dieser Superkünstler, gab mir meine neue Identität.
„So, mein Lieber, du heißt jetzt Andreas Bauer, geb. am 01.10.1931 in Hamburg. Witwer und Pensionär. Ehemaliger selbständiger Geschäftsreisender. O. k.?“
„Alles klar, Helmut. Ich danke dir!“
Ich trainierte tagelang eine neue Unterschrift und außerdem veränderte ich sogar die Stärke meines Händedrucks. Die Bediensteten bekamen mich nicht mehr zu Gesicht. Helmut brachte mir mein Essen ins Zimmer. Meine Kleidung, die ich etwas zu groß und natürlich in einem altmodischen Stil kaufte, damit man meine reichlich ausgeprägte Muskulatur nicht sehen konnte, passte ich meinem Alter an. Helmut war von meiner gesamten Veränderung dermaßen fasziniert, dass er es kaum ausdrücken konnte:
„Ich habe in meiner Karriere als Schönheitschirurg ja schon Vieles erlebt, Xaver, aber was du hier abgezogen hast, ist geradezu phänomenal. Ich würde sagen: Einzigartig!“
„Somit bin ich wohl dein Vorzeigepatient, was?“
„Ja, das bist du!“
Mein Vermögen wurde zuletzt von den bestehenden, diversen Konten auf mehrere, neue Konten mit dem Namen Andreas Bauer transferiert. Tante Trudes Häuschen, mein Häuschen, kaufte ich, Andreas Bauer nun von einer imaginären Person, der das Häuschen zur Zeit - eben auf dem Papier - gehörte, und die es natürlich gar nicht gab, zurück. Ich überreichte Helmut noch ein großzügiges Honorar für seine hervorragende Arbeit, was er zuerst nicht annehmen wollte, und die Aktion war somit erledigt. Gewisse Kauf- und Verkaufsdaten manipulierten wir zeitlich, um die ganze Sache etwas abzurunden.
Perfekt!
„Du kannst mich jederzeit in Himmelstein besuchen, Helmut. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns in meinem neuen, alten Heim wieder sehen würden!“
„Ich rufe dich auf deinem Handy an, Andreas.“ Er lachte dabei wie ein Lausejunge.
Ich bedankte mich bei ihm noch überschwänglich und strich dann mit der etwas vernarbten Hand liebevoll über den schwarzen Lack meines neuen Mercedes SLK, den ich mir einige Tage zuvor in Wien gekauft hatte.
Unsere Wege trennten sich. Wenigstens vorübergehend. Ich war ihm für seine Arbeit an mir natürlich sehr dankbar. Mein neues Leben als alter Mann, als Pensionär namens Andreas Bauer...
... begann...
Ich befinde mich gerade auf der Heimfahrt. Auf meiner Heimfahrt! Es ist ein wunderschöner Tag. Ein Dienstag. Auch der Tag bzw. der verhängnisvolle Abend damals war ein Dienstag gewesen! Was für ein Zufall, sage ich mir und lasse das perfekte, versenkbare Dach des herrlichen Wagens im Kofferraum vollelektronisch verschwinden. Ich überlege: Sicherlich werden jetzt wohl einige Leute sagen:
„Schau ihn dir an, diesen alten Knacker! Er muss mit einem offenen Sportwagen fahren! Ja, ja, je älter, umso blöder...“
Aber ganz ehrlich: Dadurch, dass ich einen großen Teil meines Lebens hinter Gittern verbracht hatte, interessiert es mich heute einen Dreck, was Andere über mich sagen oder denken. Wer so etwas hinter sich hat wie ich, denkt anders.
Ganz anders.
Zurück zu meinem momentanen Innenleben: Mein schon so lange bestehender Hass hatte sich im letzten Jahr meines unfreiwilligen Aufenthalts immer mehr gesteigert, wie ich bereits erwähnte, bis hin ins Unermessliche. Natürlich hätte ich es mir leicht machen können, und meinen ehemaligen Freundeskreis mit vorgehaltenem Revolver begrüßen können, aber so leicht wollte ich es ihnen ja nun doch nicht machen. Wofür, so hätte ich mich ernsthaft gefragt, wären dann all die Sicherheitsvorkehrungen, meine neue Identität und mein mir immer noch so fremdes und nunmehr wirklich altes Gesicht gewesen? Für nichts! Nein, meine Herren. So werdet ihr mir nicht davonkommen, sagte ich mir immer wieder. Was für mich natürlich nun, in meinem neuen Leben, am Wichtigsten ist: In den Knast wird mich Keiner mehr bringen.
Nur über meine Leiche!
xxx
Die herrliche Fahrt verläuft, abgesehen von meinen bitterbösen Gedanken, völlig problemlos. Ich möchte sogar behaupten, dass diese Fahrt trotz meines furchtbaren Grolls, meiner angestauten Wut und Aggression, eine der schönsten Fahrten meines bisherigen Lebens ist. Je näher ich Himmelstein komme, desto mehr Erinnerungen ziehen an meinem geistigen Auge vorbei. Ich führe, während das Radio leise spielt, folgende Selbstgespräche:
„Warum musste das alles passieren, Xaver - nein: Andreas?“
„Sylvia, mit dir kann ich fast kein Mitleid mehr haben, aber diesen furchtbaren Tod hattest du trotzdem nicht verdient!“
„Ich werde zu deinem Grab gehen und dir Blumen bringen!“
„Was werden sie wohl inzwischen alle so getrieben haben, die mörderischen Burschen der Herrenrunde?“
„Hoffentlich ist im Laufe der letzten Jahre keiner von ihnen verstorben!“ (Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte ich es ja noch von Tante Trude erfahren. Aber es hatte in den letzten Monaten doch noch so Einiges passieren können!)
„Ich werde mich gleich morgen in Himmelstein anmelden!“
„Ob die Leute wohl noch über Xaver Grimm sprechen?“
Dutzende von solchen Sätzen spuken durch meinen leicht überanstrengten Kopf. Ich greife mit der Hand an meine, trotz des geöffneten Daches, erhitzte Stirn.
„Habe ich etwa Fieber?“, frage ich mich, während ich erneut in den Rückspiegel schaue.
Obwohl ich mein neues Gesicht jetzt schon eine ganze Weile kenne, erschrecke ich doch immer wieder aufs Neue.
„Das habe ich einzig und alleine dir, Sylvia, und natürlich deinen hinterhältigen Freiern zu verdanken!“
Ich spreche laut, und merke es gar nicht. Erst im Nachhinein, einige Sekunden später, wird mir klar, dass ich laut geredet habe.
„Du musst sehr vorsichtig sein, Andreas! Sehr vorsichtig!“ Das alte Gesicht im Spiegel nickt zustim-mend.
Wenn ich an den Himmelsteiner Friedhof denke, wird mir nun doch ganz anders. Ich kriege regelrechte Angstzustände, wenn ich mir vorstelle, an den Gräbern meiner Frauen zu stehen! Wie wird es wohl sein, überlege ich. Werde ich einen Wutanfall bekommen? Oder weder ich zu heulen beginnen? Meine Handflächen sind plötzlich leicht verschwitzt. Was soll’s? Ich lasse am besten Alles auf mich zukommen!
Endlich! Wie habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt! Dort vorne sehe aus der Ferne meine
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8241-9
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