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Titel

 

Leichenschmaus

 

Horrorthriller

 

von

 

Alfred J. Schindler

 

 

 

Vorwort

Sein Erfolg hatte ihn hart gemacht. Oskar traute niemandem mehr über den Weg. Und er wusste, dass er sich letztendlich nur auf eine einzige Person ver­lassen konnte:

 

Auf mich.

Seinen Buchhalter.

 

Immer wieder sagte er in den letzten Monaten, wenn wir alleine in seinem prächtigen Schreibzimmer saßen und die Geschäftsbücher wälzten:

 

Junge, ich wüsste ja allzu gerne, wer auf meiner Beerdigung erscheinen wird. Nicht aus niederen Be­weggründen heraus, sondern deswegen, weil mich Der- oder Diejenige mochte.

 

Ich wusste auf seine Frage keine Antwort. Onkel Os­kar (jeder, der ihn kannte, oder auch nicht, nannte ihn so) hatte nicht mehr lange zu leben. Der Magen­krebs hatte ihn voll im Griff...

 

... und er fraß ihn von innen auf...

 

Oskar ...

Oskar …

 

 

Wenn Onkel Oskar sich etwas in den Kopf setzte, dann machte er es auch. Niemand konnte ihn aufhalten. Er war der größte Sturschädel, den man sich überhaupt vorstellen konnte. Gut, er ließ niemanden an sich heran, er spielte oft den harten, raubeinigen Burschen, aber ganz innen, in seinem tiefsten Kern, war er ein sympathischer Mensch. Einmal sah ich ihn sogar bitterlich weinen. Das war an dem Tag, an dem seine einzige Tochter tödlich verunglückt war. Dieses furchtbare Ereignis verkraftete er nie. Immer wieder erzählte er von seiner kleinen Margarete, die er so sehr geliebt hatte.

 

Seine gemeinsame Verwandtschaft hasste ihn. Jedenfalls behauptete er das. Ich ahnte, wieso sie das taten. Wahrscheinlich war es deswegen, weil Onkel Oskar so ungemein erfolgreich war. Außerdem war er geizig. Im Laufe der letzten Jahre hatten sie ihn alle, ausnahmslos, um mehr oder weniger große Geldbeträge angepumpt. Aber er war hart geblieben. Nicht einen einzigen Euro hatte er an diese gierige, sabbernde Brut verliehen. Er hätte es ja sowieso nicht zurückgekriegt.

 

„Ich bin keine Bank, versteht ihr?“, pflegte er immer zu antworten, wenn ihn einer von ihnen um Geld anflehte.

 

Ich weiß, wovon ich rede, denn ich als sein Buchhalter war über alle geschäftlichen und halbgeschäftlichen Aktivitäten aufs Beste informiert. Onkel Oskar tat nie etwas, also in finanzieller Hinsicht, ohne mir sofort Bescheid zu sagen. Das dachte ich zumindest.

 

Er hatte unbedingtes Vertrauen zu mir.

Und das mit Recht.

 

„Du weißt ja, Junge, dass du mein alleiniger Erbe sein wirst. Aber ich möchte mich doch gerne an meiner beschissenen Verwandtschaft ein klein wenig rächen. Sie brauchen nicht zu wissen, dass sie keinen Cent erhalten werden.“

„Und wie willst du das machen, Oskar?“, fragte ich ihn.

„Die Verkündung meines Testaments wird im Beisein meines Notars nicht wie üblich in dessen Kanzlei, sondern auf meinem...

 

... Leichenschmaus...

 

stattfinden. Du verstehst.“

„Und du wirst mit anwesend sein?!“

 

Es war mehr eine Frage, als eine Feststellung an ihn. Er konnte es auffassen, wie er wollte. Außerdem war diese Frage von mir nicht ernst gemeint.

 

„Allerdings! Ich lasse mich direkt vor dieser primitiven Bagage aufbahren. Ich möchte doch allzu gerne hören, und vielleicht auch sehen, wie sie sich um mein Erbe streiten werden. Ich nehme an, mein junger Freund, dass sie sich ziemlich in die Haare kriegen werden.“

„Und wie willst du das machen?“

„Lass das meine Sorge sein. Ich freue mich schon heute auf besagten Tag.“

„Werde ich auch mit anwesend sein?“

„Aber natürlich!“ Er lachte schallend.

 

Onkel Oskar setzte sich also bewusst über den Tod hinweg. Er freute sich schon heute auf den Tag seines Leichenschmauses. Er glaubte an ein Leben nach dem Tod. Ich muss sagen: Dieser Mann überraschte mich immer wieder aufs Neue...

 

 

Jetzt...

 

 

Es war nicht anders zu erwarten: Onkel Oskars aufregendes Leben geht zu Ende. Er wurde gerade mal achtundsechzig Jahre alt. Er hatte in den letzten sieben, acht Wochen mehr als dreißig Kilogramm Gewicht verloren.

 

Ich stehe an seinem Bett und halte seine schwache, dünne Hand. Sein Hausarzt, Herr Dr. Paul Klein, lehnt an seinem Bett und beobachtet ihn. Auch Priester Anton Horn befindet sich im Sterbezimmer. Jetzt erteilt er meinem Freund und Vorgesetzten die Letzte Ölung. Ich finde es mehr als traurig, dass sich weder Oskars Geschwister, seine Cousinen und Cousins, noch deren Kinder an seinem Sterbebett eingefunden haben. Ich hatte sie heute Vormittag alle angerufen, ich hatte sie alle erreicht, aber Keiner war gekommen. Jeder hatte eine andere, faule Ausrede.

 

Es ist ungeheuerlich.

Ja, es ist mehr als schäbig.

 

Wie sollen sie auch ahnen, dass er sie Alle in seinem Testament bedacht hat? Zumindest auf eine bestimmte Art und Weise. Und genau deswegen kommen sie auch nicht an sein Sterbebett.

 

Weil sie sich nichts erwarten.

So einfach ist das.

 

Es ist später Abend, und der Mond scheint hell in Oskars Zimmer. Er atmet noch einmal tief durch und stirbt dann. Zuvor sagte er mir noch mit schwacher Stimme, wie gerne er mich doch mochte. Aber was das Wichtigste ist: Er musste nicht leiden. Auch hatte er keine nennenswerten Schmerzen. Ich denke, dass sein Freund und Hausarzt, Dr. Paul Klein, mit Morphiumspritzen etwas nachgeholfen hatte.

 

Sei es drum.

 

Es tut mir in der Seele leid, ihn, den ehemals so kräftigen, immer gut gelaunten Mann, so armselig vor mir liegen zu sehen. Restlos abgemagert, und vom Tod heimgesucht.

 

Es ist vorbei.

Zu Ende.

Oskar ist tot.

 

xxx

 

Nachdem ich mich am nächsten Morgen um das Bestattungsinstitut gekümmert habe, erhalte ich von Oskars Notar, Herrn Dr. Christoph Strauß, einen etwas merkwürdigen Anruf. Er macht am Telefon hinsichtlich des Testaments einige seltsame Andeutungen. Außerdem bittet er mich, umgehend zu ihm in seine Kanzlei zu kommen. Ich steige in Oskars Mercedes und fahre zu Dr. Strauß‘ Kanzlei. Ich bin natürlich sehr gespannt, was mir der Notar zu berichten hat. Als ich sein Zimmer betrete, bietet er mir ihm gegenüber an seinem Schreibtisch einen Platz an. Ich setze mich und schaue ihn etwas unsicher an. Er lächelt, dieser alte Kauz, und zündet sich eine dicke Zigarre an.

 

„Möchten Sie auch eine?“

„Nein, danke. Ich bleibe bei meinen Zigaretten.“ Ich zünde mir eine Zigarette an. Ohne Filter. Versteht sich.

 

Er kramt etwas umständlich zwischen einigen Papieren herum und sagt schließlich:

 

„Herr Stich, machen wir es kurz. Sie wissen ja über Oskars finanzielle Verhältnisse Bescheid, genau wie ich. Er war einer meiner besten Freunde, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte.“

 

Ich nicke und ziehe angespannt an meiner Zigarette.

Meine Hände sind schweißnass.

 

Irgendetwas ist hier faul.

 

Er fährt fort: „Normalerweise wird ja die Testamentseröffnung im Kreis der Erben, hier in meiner Kanzlei, durchgeführt. Aber in diesem Fall werden wir das etwas anders handhaben. Ach ja, noch etwas, was Sie sehr interessieren wird: Herr Stich, Sie sind inoffiziell der alleinige Erbe des gesamten Vermögens. Eigentlich darf ich Ihnen das ja gar nicht sagen, aber Oskar wollte es so. Das Testament, das ich natürlich kenne, wird jetzt gleich von mir versiegelt, und erst geöffnet,

 

... wenn Oskars Spiel beginnt.“

 

Er schnauft tief durch. Seine Augen glitzern. Zugleich erzeugt er große, weiße Rauchkringel, die sich um seinen schweren Kopf legen. Einer der Kringel sieht fast wie ein Heiligenschein aus.

 

Ob es auch einer ist?

 

„Ja, ich wusste schon, dass ich der Alleinerbe sein werde. Aber wieso inoffiziell? Und von welchem Spiel sprechen Sie denn?“

Er geht auf meine Frage nicht ein und sagt: „Sie wussten von Oskar, dass Sie alles erben würden?“

„Ja, natürlich. Onkel Oskar sagte mir klipp und klar, dass ich sein einziger Erbe sei.“

„Dann brauche ich Ihnen ja nicht erzählen, was Sie im Einzelnen von Ihrem verstorbenen Chef zu erwarten haben?“

„Ich weiß es so ungefähr.“

„Ich sage es Ihnen trotzdem: Sie erben das dreistöckige Geschäftshaus in der Stadt, Oskars Waldvilla am Stadtrand, den Fuhrpark (er besteht aus einem Mercedes 500 SL, den Sie ja gerade fahren, einem Jaguar E, und einem silbernen Rolls Royce) sowie eine geringfügige Summe in Höhe von etwa siebzehn Millionen Euro. Diese Summe setzt sich aus diversen Aktien, Gold, Schmuck und Bargeld zusammen. Wussten Sie das?“

„Nein. Mir war nur eine Summe von vier Millionen bekannt.“

Er lacht, und man spürt genau, wie sehr er sich freut: „Da sehen Sie mal, was Oskar so alles am Finanzamt vorbeigeschummelt hat!“

Ich gebe zu, dass ich völlig überrascht bin. Und ich antworte: „Er war ein blendender Geschäftsmann.“ (Mehr fällt mir momentan nicht ein. In den Geschäftsbüchern ist, wie gesagt, lediglich von vier Millionen die Rede.)

„Ich hoffe, Herr Stich, Sie werden in seine Fußstapfen treten!“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich war zwar sein Buchhalter, aber von seinen Geschäften, sprich, von der Handhabung und Abwicklung derselben, habe ich wenig Ahnung.“

„Sie sind wenigstens ehrlich.“

„Nun, Herr Dr. Strauß: Was hat es mit diesem Testament für eine Bewandtnis? Von welchem Spiel sprachen Sie gerade vorhin?“

„Oskar hat mich ins Vertrauen gezogen, eine Woche, bevor er starb. Er hat mir eine sehr außergewöhnliche Bitte abverlangt. Und ich konnte sie ihm natürlich nicht ausschlagen.“ Er grinst diabolisch.

„Jetzt mal heraus mit der Sprache!“

„Nun, Herr Stich, es geht um folgendes: Ich lese Ihnen das Testament am besten gleich mal vor. Aber Sie wissen natürlich von nichts! Danach werde ich es jedenfalls versiegeln.“

„Wie gesagt. Selbstverständlich.“

„Ich werde dieses Testament beim Leichenschmaus in Oskars Villa eröffnen, also in Anwesenheit seiner buckeligen Verwandtschaft. Oskar hat sich für seine lieben Angehörigen ein, ich möchte sagen, grausames Psycho-Spiel einfallen lassen. Ich weiß, wie sehr sie ihn alle hassten, und auch er wusste es. Deswegen dieses kleine Spiel.“

„Onkel Oskar hatte einen goldenen Humor.“, antworte ich nachdenklich. Ich bin auf alles gefasst.

„Wie ich ihn kenne, Herr Stich, wird er sich bestimmt zusätzlich noch etwas einfallen lassen!“

„Aber er ist doch tot!“

 

Menschen wie Oskar können doch gar nicht sterben.“

 

„Wie meinen Sie das, Herr Notar?“

„Nun, ich traue Ihrem ehemaligen Chef, meinem verstorbenen Freund, fast alles zu. Ich denke, dass die geladenen Gäste diesen Leichenschmaus ihr Leben lang nicht vergessen werden.“

„Sie meinen das Spiel?“

„Ja. Die Verwandten werden sich trotz ihres getrübten Verhältnisses zu Oskar so Einiges an Bargeld erhoffen, wenn ich sie allesamt zur Testamentseröffnung vorlade.“

„Hoffen dürfen sie ja.“

 

Erst jetzt verstehe ich, was er gesagt hat. Zugegeben: Meine Reaktion kommt sehr verspätet. Ich frage ihn völlig perplex:

 

„Wieso werden die Leute zur Testamentseröffnung vorgeladen? Hat er ihnen denn etwas vererbt?“

„Ja, er hat ihnen indirekt etwas vererbt. Herr Horten hat das Testament übrigens mit seinem Füllfederhalter geschrieben. Höchstpersönlich, und in meiner Anwesenheit.“

 

Ich gebe zu: Ich bin völlig überfahren. Er setzt sich in Pose und lehnt sich in seinem schwarzen, sündteueren Ledersessel zurück. Und er beginnt zu lesen:

 

„MEIN TESTAMENT.

 

Im Vollbesitz meiner geistigen und physischen Kräfte vermache ich derjenigen Person der hier anwesenden Leute, die sich charakterlich am besten eignet, mein gesamtes Vermögen. Der Anständigste unter euch wird diejenige Person sein, die ans große Geld kommt. Da ihr, meine lieben Verwandten, allesamt von miesen Charaktereigenschaften geprägt seid, wird es euch wohl nicht schwer fallen, den am wenigsten Betroffenen unter euch herauszufinden. Folgende Personen werden sich in diesem kleinen Kreis befinden:

 

- meine elende, rücksichtslose Schwester Hannelore.

- ihr Sohn Bernd, der seiner Mutter so gleich ist.

- meine geistig unterentwickelte Schwester Kunigunde.

- mein trunksüchtiger Bruder Hans.

- sein Sohn Hubert, dieser chronische Tunichtgut.

- meine Cousine Gunda, das mannstolle Luder.

- mein Cousin Herbert, der es zu gar nichts brachte.

- mein Cousin Karl, das rauschsüchtige Individuum.

- seine Tochter Helene, die noch immer auf den Strich geht.

- und deren Bruder Otto, dieser kleine, verschissene Rotzlöffel.

 

Ihr, meine hoch verehrte Verwandtschaft, werdet bei meinem Leichenschmaus herausfinden, wer Der- oder Diejenige sein wird, der mich beerbt. Der alles erbt. In der Küche befinden sich ausreichend auserlesene Lebensmittel und Getränke, an die ihr euch halten könnt. Ich habe speziell für den Leichenschmaus und die darauf folgende Zeit eine Köchin bestellt, die für euer leibliches Wohl sorgt. Sie wird euch auch eure Zimmer zeigen, gesetzt den Fall, dass es etwas länger dauern wird. Ich habe natürlich auch an Zahnbürsten und Unterwäsche gedacht. Mein Buchhalter, Herr Martin Stich, wird sich um besondere Dinge kümmern. Er steht noch immer in meinen Diensten. Man wird sich sicherlich schon sehr bald einig sein, wer die Person ist, die am meisten Charakter zeigt. Mein Notar, Herr Dr. Christoph Strauß, wird das Zusammensein protokollieren. Er wird Derjenige sein, der am Ende des Treffens entscheidet, wer der oder die Glückliche sein wird. Ich wünsche euch noch ein langes, beschissenes Leben.

 

Euer geliebter Onkel Oskar, der euch so sehr ins Herz geschlossen hat. (Ich behalte mir etwaige Änderungen vor)

 

P.S. Ich hätte es mir natürlich einfacher machen können, und mein Vermögen einer wohltätigen Einrichtung spenden können, aber ich wollte jedem Einzelnen von euch die Chance geben, mich zu beerben, damit ihr mich nie vergesst! Ach ja, noch etwas: Wer den Leichenschmaus aus irgendeinem Grund vorzeitig verlässt, bevor feststeht, verliert seinen eventuellen Anspruch auf das Erbe.

 

Datum, Ort, Beglaubigung und Unterschrift folgen...“

 

Onkel Oskars schwarzer Humor überrascht mich immer wieder. Was hatte er sich dabei wohl gedacht? Will er sie alle auf die Probe stellen?

 

Mich etwa auch?

 

„Herr Dr. Strauß, ich habe da mal eine Frage.“

„Ja?“

„Einer von den Verwandten wird am Ende erben. Alles erben. So steht es jedenfalls in dem Testament.“

„Es steht nicht im Testament, dass es einer der Verwandten sein muss. Oskar schrieb wortwörtlich: ... vermache ich derjenigen Person der hier anwesenden Leute - Und da Sie bei der Testamentseröffnung selbstredend mit anwesend sein werden, Herr Stich, ist nicht ausgeschlossen, dass Sie es sind, der den fetten Rahm abschöpft.“ Er blinzelt schelmisch.

 

Entgeistert starre ich ihn an.

 

Er sagt leise: „Ihr Onkel hat sich dabei natürlich etwas gedacht. Es wird so ausgehen, dass keiner dieser Parasiten auch nur einen einzigen Cent erben wird. Eine klare Angelegenheit. An Sie wird doch kein Mensch denken, Herr Stich! Verstehen Sie? Sie waren doch nur sein Buchhalter! Man wird Sie bei der Testamentseröffnung gar nicht registrieren! Wer denkt denn schon, dass ein Firmeninhaber dem Buchhalter sein gesamtes Vermögen vererbt? Niemand! Nicht einmal ich würde an so etwas Abstraktes denken! Diese Ansammlung von Filzläusen wird nur den einzigen Gedanken haben:

 

EINER VON DER VERWANDTSCHAFT WIRD ALLES ERBEN. EINER VON UNS.“

 

„Aber...“

„Lassen Sie mich entscheiden, wer am meisten Charakter hat, Herr Stich!“

„Sie meinen, ich bin Derjenige?“

„Aber sicher. Oder wären Sie mir etwa beleidigt, wenn ich Sie als den Anständigsten bezeichnen würde?“

„Nein. Natürlich nicht.“

„Na sehen Sie...“

„Somit steht also fest, dass ich...“

„Aber selbstverständlich.“

„Und wenn einer meiner Verwandten mit Ihrer Entscheidung nicht einverstanden ist?“

„Im Testament steht, dass ICH entscheiden werde, wer Der- oder Diejenige ist. Eben Einer, der beim Leichenschmaus, sprich bei der Testamentseröffnung, Anwesenden. Ich natürlich ausgenommen.“

„Sicher.“

„Meine Entscheidung ist unanfechtbar. Oskar hat mich alleine bevollmächtigt, über sein Vermögen zu entscheiden.“

 

Ich schaue ihn verdutzt an. Dieser Dr. Strauß kann mir ja viel versprechen! Ich kann mir natürlich jetzt, wie es aussieht, nicht absolut sicher sein, dass ich der große Erbe sein werde. Noch hat Strauß sein Amen dazu nicht gegeben. Es liegt nach wie vor in den Händen dieses Notars. Er wird Derjenige sein, der Einen von uns zum Multimillionär machen wird. Zwar ist die Sache für mich so gut wie sicher, aber ich habe es noch nicht schriftlich.

 

Wie gesagt.

 

„Was soll der Satz bedeuten: Ich behalte mir etwaige Änderungen vor, Herr Notar?“

Er lacht: „Oskar hatte die Angewohnheit, wie Sie wissen, sich immer abzusichern.“

„Ja, ich weiß. Aber wie will er nach seinem Tod noch etwas ändern?“

„Das frage ich mich auch. Mein Freund Oskar war ein elendes Schlitzohr.“ Sein Gesicht ist vom Zigarrenrauch halb eingehüllt.

„Das kann man wohl sagen.“, antworte ich.

 

Er nickt zustimmend.

 

„Wie lange werden Sie die Meute beobachten, Herr Dr. Strauß? Mich natürlich eingeschlossen!“

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Es kommt ganz darauf an, wie sich dieser sicherlich mehr als ungewöhnliche Leichenschmaus entwickeln wird...“

 

xxx

 

Es ist soweit: Dr. Strauß hat sie Alle telefonisch (und zudem schriftlich!) vorgeladen: Zur Testamentseröffnung. Besser gesagt, zum Leichenschmaus. Die hoch verehrten Verwandten sind selbstverständlich vollzählig in Oskars Waldvilla erschienen. Schließlich geht es trotz aller Differenzen zu dem Verblichenen um ein riesiges Vermögen, das unter ihnen aufgeteilt werden soll. Das denken sie zumindest. Ihnen allen ist bewusst, dass sie etwas erben werden, denn ansonsten hätte sie der Notar ja gar nicht vorgeladen. Zur Beerdigung wären sie, ohne die Aussicht auf das große Geld, sowieso nicht gekommen.

 

Dieses elende Pack.

 

Sie begrüßen mich herzlich, diese undurchsichtigen Bastarde, und sie gaukeln mir Freundlichkeit und gespielte Trauer vor. Ich schüttele ihnen die verschwitzten Hände, und versuche, möglichst neutral zu wirken. Ich kondoliere Jedem von ihnen. Sie tun gerade so, als ob sie mich persönlich kennen würden. Dabei habe ich noch Keinen von ihnen gesehen. Nichtsdestotrotz stelle ich mich bei Allen kurz als den ehemaligen Buchhalter von Herrn Horten vor. Sie registrieren meine Rede zwar, vergessen sie aber im nächsten Moment.

 

Ich bin für sie nicht wichtig.

Und das ist gut so.

 

Dr. Strauß, der direkt neben mir steht, stellt sich bei den Leuten ebenfalls persönlich vor. Sie betrachten ihn mit größtem Interesse. Schließlich wird er es sein, dieser große, stattliche Mann mit dem halblangen, graumelierten Haar, der ihnen mitteilen wird, was sie alles geerbt haben. Am liebsten würden sie ihn jetzt gleich fragen, aber sie beherrschen sich dann doch.

 

Was sein muss, muss eben sein.

 

Oskars Sarg steht bereits direkt neben dessen altem Steinway-Flügel im großen Kaminzimmer auf einem Untersatz aus schwarzem Holz. Der Bestattungsunternehmer hat ihn dort, auf seinen speziellen Wunsch hin, aufgebahrt. An jeder Sargecke steht eine wunder-schöne, rote Kerze auf silbernen Ständern. Man hat dem Verstorbenen seinen schwarzen Frack angezogen, dazu mit einem weißen Hemd und einer roten Krawatte ausstaffiert. Ich frage mich ernsthaft, wieso es gerade eine rote Krawatte sein musste. Sein vom Krebs eingefallenes Gesicht wirkt spitzig und durchsichtig. Zwischen seinen gefalteten Händen liegt ein wunderschöner Rosenkranz.

 

Oskar war ein guter Christ.

Dies war allseits bekannt.

 

Das Kaminzimmer ist verhältnismäßig groß, jedoch etwas düster. Die schweren, goldfarbenen Samtvorhänge, die bis auf den Boden reichen, nehmen Einiges vom Sonnenlicht weg. Das Zimmer ist mit wuchtigen, arabischen Teppichen ausgelegt. In der Mitte des Raumes steht ein langer Esstisch (er hat zwölf gedrechselte Beine) mit entsprechenden Stühlen mit hohen Lehnen, an dem problemlos ein Dutzend Leute speisen können. Der Kamin selbst ist offen und wunderschön. Man sieht deutlich, dass es sich hierbei um sauberste Handarbeit handelt. Die hintere Längswand des Raumes besteht ausschließlich aus stabilen Bücherregalen. Oskar hatte leidenschaftlich alte Bücher gesammelt. Alleine diese Buchsammlung stellt schon ein kleines Vermögen dar. Ein schwerer Lüster hängt genau über dem imposanten Tisch. Der Raum ist etwa drei Meter fünfzig hoch, so dass der Lüster hoch im Zimmer hängt. Schwere Eichenmöbel zieren den ganzen Raum. Ein großes Aquarium belebt die gesamte Atmosphäre. Ein riesiger, rechteckiger Arabeskenspiegel, der mit sündteuerem, geschnitztem Kirschholz eingerahmt ist, vervollkommnet das gesamte Bild. Die gegenüberliegende Längswand besteht aus drei riesigen Glastüren, die zur Terrasse führen.

 

Ein großer Swimming-pool in der Form einer Muschel verführt zum Schwimmen. Ich zähle fünfzehn Liegestühle, fünf Sonnenschirme, und drei kleine Tische. Gerade jetzt, in den Sommermonaten, kann man fast nicht umhin, ein kühles Bad zu nehmen.

 

Das Grundstück ist von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, die man aber nicht direkt erkennen kann. Sie ist von dickem Efeu überzogen, der wahrscheinlich künstlich angelegt wurde. Ein hohes Tor mit zwei silbernen Schwingtüren gestattet dem Besucher den Zutritt zu dem wertvollen Anwesen. Dieses ist von dichtem Tannenwald umgeben. Oskar lebte hier in einem wahren Paradies.

 

In seinem Paradies.

 

Nebenan, in seinem kleinen Arbeitszimmer, tüftelte er seine phänomenalen Geschäftsideen aus.

 

Oskar brauchte in seiner Villa kein Dienstpersonal. Lediglich ein Hausmeister kümmerte sich um das Nötigste. Oskar kochte sich selbst meist Spaghetti, und gelegentlich aß ich mit ihm, wenn er mir seine neuen Ideen darlegte. Wir tranken dann den einen oder anderen guten Schluck Wein. Oskar war ein Genießer. Er lebte, wie gesagt, alleine. Er war nicht der Typ, der ein zweites Mal heiraten würde, obwohl die Damenwelt des halben Städtchens hinter ihm her war.

 

Und hinter seinem Geld.

Versteht sich.

 

Dr. Strauß drückt den Anwesenden (außer mir natürlich) sein herzlichstes Beileid aus und beobachtet sie genauestens. Er schüttelt dabei Jedem anteilsvoll die Hand. Einem nach dem Anderen. Danach stellen sie sich alle um den offenen Sarg und schweigen.

 

Eben, wie es sich gehört.

Mit gesenkten Köpfen.

Und unendlich traurig.

 

Hannelore, eine von Oskars Schwestern, die für ihre Herzlosigkeit bekannt ist, geht ganz nahe an Oskars Gesicht heran und flüstert ihm etwas ins Ohr. Es würde mich brennend interessieren, was sie zu ihm gesagt hat. Ob sie ihn wohl beschimpft hat? Sie geht wieder zurück, und was sehe ich da? Eine Träne läuft über ihre feiste Backe. Aber diese Träne ist nicht echt. Ich weiß es. Wie hat sie es nur geschafft, eine Träne hervorzuzaubern?

 

Ist sie eine solch gute Schauspielerin?

 

Kunigunde, seine zweite Schwester, der man ihren unterentwickelten Geist sofort ansieht, streicht vorsichtig über Oskars Hände:

 

„Wie kalt er ist!“, klagt sie und beginnt urplötzlich laut zu weinen. Heult sie, weil er so kalt ist, oder heult sie aus Trauer?

 

Ich kann es beim besten Willen nicht beurteilen.

 

Hans, Oskars einziger Bruder, zeigt deutlichen Entzug. Er zittert wie Espenlaub, dieser dürre Stenz, als er sich gerade theatralisch schnäuzt. Seine Augen sind tief gerötet, jedoch sicherlich nicht vom Heulen, und er riecht nach billigem Rasierwasser. Ob er sich damit wohl eingesprüht hat?

 

Oder hat er einen kleinen Schluck riskiert?

 

Gunda, die trotz ihrer achtundfünfzig Jahre nach wie vor mannstoll ist, dass man es kaum beschreiben kann (Oskar erzählte dies immer und immer wieder!), streicht sanft über Oskars Haar. Ich wüsste allzu gerne, was sie in diesem Moment denkt. Diese Dame hat eine außergewöhnliche Aura.

 

Ich spüre es sofort.

 

Was hat Oskar doch, abgesehen von dieser Gunda, für eine furchtbare Verwandtschaft. Es ist ja nicht auszuhalten! Ich schaue den Toten an, wie er so friedlich in seinem schweren, schwarz polierten Eichensarg liegt. Und ich frage mich, wieso er mir das angetan hat. Jetzt kann ich mich mit diesen Leuten hier herumärgern. Direkt vor ihm. Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis die Entscheidung fällt...

 

Die Entscheidung, die wahrscheinlich keine sein wird...

... da sie ja angeblich schon gefallen ist.

 

Ich hoffe es zumindest! Ich frage mich in diesem Moment ernsthaft, wieso Oskar so leichtsinnig sein konnte, Dr. Strauß die endgültige Entscheidung zu überlassen. Oskar, dieser ausgebuffte Geschäftsmann, musste doch gewusst haben, dass ich somit nicht eindeutig als der Universalerbe eingesetzt war. Wollte er mich etwa auf die Folter spannen? Wenn ja, wieso? Es wäre mir in dieser Sekunde tatsächlich lieber, wenn er mich nie als seinen Alleinerben eingesetzt hätte. Also, mündlich. Hätte er lieber seinen Mund gehalten und mich dann vielleicht doch überrascht. Ich wäre ja schon mit einem Bruchteil des Vermögens zufrieden gewesen! Erstens bin ich kein geldgieriger Mensch, und zweitens sehe ich es jetzt, im Nachhinein, als einen direkten Misstrauensbeweis. Oder liege ich völlig falsch? Nun gut. Ich sehe es gezwungenermaßen so an, dass ihm sein Spiel wichtiger war, als seine feste, endgültige Entscheidung. Vielleicht tue ich ihm ja Unrecht, wenn ich so misstrauisch reagiere. Aber ich denke, dass jeder Andere an meiner Stelle genauso reagieren würde, wie ich es tue.

 

Ich denke, ich liege richtig.

 

Was mich sehr verunsichert, ist die Tatsache, dass ich als sein Buchhalter lediglich von vier Millionen wusste. Er hatte mich also die ganzen, letzten zehn Jahre, in denen ich bei ihm beschäftigt war, angelogen. Er hatte jedoch andererseits immer wieder betont, wie sehr er mir trauen würde. Meine Loyalität war ihm ja so wichtig gewesen! Aber wie es nun aussieht, hatte er sich nicht einmal selbst über den Weg getraut. Ich durfte nur das „Offizielle“ verbuchen, und von dem „Inoffiziellen“ wusste ich ja sowieso nichts. Sei es, wie es wolle:

 

Oskar hatte mich hintergangen.

 

Herbert, der Versager, und Karl, der Rauschgiftsüchtige (ich glaube, er steht auf LSD), stehen schweigend neben den jüngeren Familienmitgliedern. Sie glotzen Löcher in die Wände. Nun ja.

 

Und Bernd (Hannelores Sohn), Hubert (Hans‘ Sohn), Helene und Otto (beide Karls Kinder) stehen da, und stieren vor sich hin. Diese „Kinder“ sind natürlich schon längst erwachsen. Sie sind so um die Vierzig. Wahrscheinlich zählt schon jeder in Gedanken die Millionen, die er bekommen wird.

 

Sie Alle haben sich ganz toll in Schale geschmissen. In Schwarz, versteht sich. Aber man sieht den Kleidungsstücken an, dass sie durchwegs alt und verschlissen sind. Diese Leute verleben ihr Geld. Sie leben von der Hand in den Mund. Sozusagen. Die Autos, die sie fahren, sind ebenfalls alt, gebrechlich und ungepflegt. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um festzustellen, dass nicht ein einziges, halbwegs vernünftiges Fahrzeug dabei ist. Ohne grob zu werden, muss ich mir eingestehen, dass ich es mit einem wirklich asozialen Pack zu tun habe. Nicht Einer von ihnen hat es in seinem Leben zu etwas gebracht. Sie jammern und sie klagen seit eh und je, aber Keiner tut etwas. Genau dies hatte mir Oskar immer wieder erzählt, wenn das Gespräch auf seine Verwandtschaft gekommen war. Jeder von ihnen hatte gute Einfälle, um zu Wohlstand zu gelangen, aber Keiner hatte sie umgesetzt.

 

Onkel Oskar war da völlig anders. Man muss sich wundern, dass aus einer derartigen Familie ein solch hervorragender, erfolgreicher Geschäftsmann hervorgegangen war. Er hatte sicherlich die miserabelsten Erbanlagen, aber er hatte sich überwunden. Er war über sich selbst hinausgewachsen. In den letzten Wochen vor seinem Tod hatte er oft über seine Verwandten gesprochen. Ich erfuhr viele Einzelheiten über diese Leute. Er redete sich offensichtlich den angestauten Ärger von der Seele. Und er schämte sich für sie. Ich konnte ihn gut verstehen. Und wenn ich mir diese Leute jetzt, in diesem Augenblick ansehe, kann ich Oskar noch besser verstehen.

 

Warum aber machte er sich die Mühe mit diesem seltsamen Leichenschmaus? Warum dieses merkwürdige Spiel? Hasste er sie Alle wirklich so sehr, dass er sie jetzt, kurz nach seinem Tod, und direkt vor seiner Beerdigung, derart demütigen will? Schließlich wissen wir Alle, auch die Verwandten selbst, dass sie durchwegs, im moralischen Sinn, unter dem allgemeinen Durchschnitt liegen! Ja, sie wissen es selbst, und das dürfte wohl Strafe genug sein. Aber natürlich ist es keine Ausrede für ihr allgemeines, negatives Verhalten.

 

Ich glaube, dass Oskars Abscheu größer war, als sein Hass. Wenn man von Hass überhaupt reden kann. Und nun sind sie hier und müssen dem Notar beweisen, wie charakterfest sie doch sind.

 

Dass ich nicht lache!

Oskar, Oskar...

 

Sicherlich werden sie sich bemühen, aber ob es ihnen auch gelingen wird? Sobald das Testament eröffnet ist, wird sich Jeder von ihnen erhoffen, nicht nur wohlhabend, sondern stinkreich zu werden. Die Leute ahnen aber nicht im Geringsten, was sich Oskar mit ihnen hat einfallen lassen...

 

Gönnen wir also Oskar seinen kleinen Spaß!

 

Er hatte sich über dieses „Spiel“ sicherlich wochenlang, wenn nicht noch viel länger, seine Gedanken gemacht. Vielleicht hatte er ja geahnt, wie es ausgehen würde? Oder wusste er es schon im Voraus? Sei es, wie es wolle:

 

Lassen wir uns überraschen.

 

Ich überlege weiter: Was würden diese Leute mit mir wohl tun, wenn sie wüssten, dass das Ergebnis der Erbangelegenheit schon von Vornherein feststeht? Und was würden sie mit dem Notar machen? Sie würden uns beide fertig machen.

 

Mindestens.

Das dürfte wohl klar sein.

 

Es wird schon Mittag. Die Gäste, die sicherlich Hunger haben, stehen dicht gedrängt um Dr. Strauß herum. Und schließlich ergreift Oskars Schwester Hannelore das Wort:

 

„Herr Dr. Strauß, verzeihen Sie meine Frage. Wann findet denn die Testamentseröffnung statt?“ (Ich hätte ihr diese gewählte Ausdrucksweise gar nicht zugetraut!)

 

Er überragt sie um Haupteslänge, diese gierige, fette Frau. Ihren Damenbart hätte sie zumindest entfernen können, bevor sie hierher kam. Ich stehe zwei, drei Schritte von ihr entfernt. Bisher hatte es noch Keiner gewagt, mich danach zu fragen, wie hoch das Vermögen des Verstorbenen eigentlich sei. Aber sie können es sich ja denken. Einige Millionen werden schon herausschauen. Auch wenn dieses Geld unter den zehn Gästen aufgeteilt würde, käme für jeden Einzelnen doch ein stattliches Sümmchen zusammen.

 

Ich betrachte sie der Reihe nach. Und ich sehe besonders in den Augen der Geschwister von Oskar die nackte Gier leuchten. Wie die Geier stehen sie um den Notar herum und warten darauf, dass er mit seiner Arbeit endlich beginnt.

 

„Lassen Sie uns doch erst zusammen essen, Frau...“

„Metzger, Herr Notar. Metzger Hannelore. Ich bin Oskars Schwester.“

„Sie meinen, eine der beiden Schwestern, nicht wahr?“

„Ja, natürlich.“

Die etwas debile Schwester Kunigunde drängt sich ins Gespräch: „Ich hätte nicht gedacht, dass wir etwas erben würden!“ Sie grinst blöde.

Süffisant lächelt er sie an und sagt: „Und wieso nicht, Frau...“

„Horten, Herr Dr. Strauß. Ich habe nie geheiratet.“

„Ah ja. Wie schön für Sie!“

„Wieso schön?“

„Nun, ich meinte ja nur.“

„Meinen Sie denn, ich hätte doch heiraten sollen?“

„Das kann ich nicht beurteilen.“

„Schade.“ Sie verzieht traurig das Gesicht.

 

Dr. Strauß versteht es perfekt, unangenehmen Fragen professionell auszuweichen. Entweder wechselt er das Thema blitzschnell, oder aber er stellt Gegenfragen. Nicht übel. Von ihm kann ich noch etwas lernen.

 

Ich sehe zufällig, während das Gespräch zwischen den beiden Damen und dem Notar dahinplätschert, dass sich soeben Hubert, der missratene Sohn des Alkoholikers Hans, über die Leiche beugt. Der Sarg steht, wie gesagt, auf einer kleinen Empore. Der Bestattungs-unternehmer hat neben dem Sarg ein Treppchen mit lediglich zwei Stufen angebracht. Dieser Hubert steht also ganz alleine über den Toten gebeugt am Sarg und ich frage mich, was er dort eigentlich macht. Will er etwa den teueren Rosenkranz klauen? Am liebsten würde ich ja hingehen, und ihm sagen, dass er Oskar in Frieden lassen soll, als Hubert plötzlich laut aufschreit. Er stürzt rückwärts über besagtes Treppchen und knallt mit dem Hinterkopf ungebremst auf den dicken Teppich. Dieser lindert glücklicherweise den verheerenden Sturz.

 

Alle Anwesenden sind entsetzt. Niemand kann sich erklären, was vorgefallen ist. Und Hubert beruhigt sich keineswegs. Er fuchtelt mit den Armen wild umher und zappelt wie ein verrückt gewordener Maikäfer auf dem Rücken. Hans, der im Gesicht krebsrot angelaufen ist, geht auf seinen Sohn zu und packt ihn derb am Kragen:

 

„Was hast du denn, du kleiner Affe?“

 

Der „kleine Affe“ ist fünfundvierzig Jahre alt. Huberts Augen sind halb heraus gequollen. Er scheint unter einem tiefen Schock zu stehen. Doch dann bringt er mühsam, und halb weinend, folgende Worte heraus:

 

„Er hat mich angeblinzelt!“

 

Hans stiert ihn an und sagt: „Er hat dich - was?“

„Angeblinzelt!“

„Du spinnst doch im höchsten Ausmaß!“, schnarrt er seinen Sohn an.

„Ehrlich, Papa!“

 

Die anderen Gäste, auch der Notar und ich, sind aufs Äußerste verwundert. Dr. Strauß schaut mich seltsam an, und ich schaue noch seltsamer zurück. Was soll man dazu nur sagen? Am besten nichts. Denn egal, was wir äußern würden: Es wäre sicherlich verkehrt. Wie soll ein Toter blinzeln? Es ist ein Ding der Unmöglichkeit!

 

Trinkt der Junge vielleicht auch?

Leidet er unter Halluzinationen?

Ja, wer weiß das schon?

 

Oskars gesamte Verwandtschaft ist am Rotieren. Jeder sagt oder ruft etwas anderes, sie schreien quer durcheinander, jedoch Keiner kommt auf die Idee, zu Oskar zu gehen und die Sache zu überprüfen. Es herrscht ein kleines Chaos. Wieso geht niemand an den Sarg heran, frage ich mich. Aber natürlich! Es getraut sich keiner! Sie haben Angst! Dr. Strauß gibt mir ein heimliches Zeichen. Es soll ausdrücken, dass ich ihm unauffällig folgen soll. Dann marschiert er die zehn Schritte hinüber zu Oskar. Er geht vorsichtig seitlich an den Sarg heran, die zwei Stufen hinauf, und im selben Moment stehe ich schon neben ihm. Er flüstert mir zu:

 

„Er ist doch tot, oder?“

„Aber sicher!“, wispere ich zurück.

„Töter kann man wohl gar nicht sein, wie er, oder?“

 

Ich kann ihn kaum verstehen, so leise spricht er. Was er für einen Unsinn erzählt! Töter! Tot ist tot! Es gibt keine Steigerungsform! Jedenfalls ist mir keine bekannt. Ich gehe etwas näher an Oskar heran und bin auf alles gefasst. Ich ertappe mich plötzlich dabei, dem Jungen zu glauben. Obwohl dessen Behauptung natürlich nicht möglich ist, habe ich doch ein starkes Angstgefühl im Bauch. Was wäre, wenn Oskar plötzlich aufstehen würde? Ich glaube, ich würde einen Herzinfarkt kriegen! Der Notar hat sicherlich dieselben Gedanken wie ich, überlege ich insgeheim.

 

Sein Blick sagt mir alles.

 

„Fassen Sie ihn doch mal an!“, sage ich sehr, sehr leise zu Strauß.

„Ich getraue mich nicht.“, antwortet er. Dicke Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Auch mir ist ziemlich warm.

 

Im Hintergrund ist es still geworden. Alle warten darauf, was nun wohl geschieht. Wahrscheinlich bewundern sie unseren Mut, der keiner ist. Es war die blanke Neugier, das Ungewisse, was uns an den Sarg trieb. Je länger wir an Oskars Sarg stehen, desto ruhiger werden wir. Zwar nicht ganz ruhig, aber doch ein wenig. Natürlich ist er mausetot. Eine ganz klare Sache. Dieser junge Mann hat wohl zu viel Phantasie! Oder ist er geisteskrank? Strauß und ich schauen uns noch einmal an. Wir stimmen überein: Es war falscher Alarm. Wir drehen uns um, und der Notar sagt mit salbungsvoller Stimme:

 

„Kein Grund zur Aufregung. Tote können nicht blinzeln.“

 

Und dann passiert etwas, womit wir nicht gerechnet hatten: Gunda Schneider, eine von Oskars Cousinen, gluckst leise. Dann fängt sie an, zu lachen. Ihr Gelächter geht in ein wahres Inferno über. Ihr unverschämtes Gelächter ist so ansteckend, dass nun auch die anderen Leute anfangen, zu lachen. Die angespannte Atmosphäre löst sich wie ein dicker Knoten. Er platzt regelrecht auf, dieser unangenehme Knoten. Das hysterische Lachen artet dermaßen aus, dass man es kaum beschreiben kann. Nur Einer, abgesehen von Strauß und mir, lacht nicht: Es ist dieser Hubert, der das Blinzeln angeblich bemerkt hatte. Er sitzt an dem langen Tisch und starrt zu uns herüber.

 

Je länger ich ihn ansehe, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass dieser junge Mann kein Idiot ist. Er wirkt auf mich sehr vernünftig, und außerdem recht geknickt. Man lacht ihn offiziell aus. Ihn, Denjenigen, dem dieses makabere Ereignis widerfahren ist. Das altbekannte Sprichwort stimmt: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

 

Er tut mir nun doch etwas leid, dieser mir noch unbekannte Hubert. Im Übrigen finde ich, dass diese Gesellschaft völlig pietätlos ist. Wie kann man in Anwesenheit eines Verstorbenen, noch dazu, im aufgebahrten Zustand, dermaßen lachen? Aber was will man von diesen Leuten schon erwarten? Nichts! Und plötzlich fällt mir ein Satz ein, den der Notar vom Stapel gelassen hatte, als ich bei ihm in seiner Kanzlei saß:

 

„Menschen wie Oskar können doch gar nicht sterben!“

 

 

 

 

 

Nach einer Weile beruhigen sich die Gemüter wieder. Die Aufregung hat sich gelegt, und die speziell für diesen Anlass eingestellte Köchin namens Emma tischt auf: Es gibt Hirschgulasch mit Nudeln und Gurkensalat. Die Verwandten fallen wie die Geier über das Essen her.

 

Und Oskar schaut zu...

 

Nur einer hält sich zurück: Hans. Er hat sich von der Köchin drei Flaschen Bier bringen lassen. Ohne Glas. Versteht sich. Scheinbar ist ihm flüssige Nahrung lieber, als feste. Aber wahrscheinlich kann er gar nicht viel essen, wenn überhaupt, dieser arme Teufel.

 

Bevor Emma den Raum verlässt, sagt sie: „Meine Herrschaften, als Nachspeise gibt es frisches Obst auf Eis und dazu eiskalte Sahne!“

 

Das gemeinsame Essen verläuft ziemlich ruhig. Wir sind gerade fast am Ende des Mahls angelangt, als wir plötzlich ein leichtes, unterdrücktes Husten vernehmen. Ich zucke zusammen. Auch Dr. Strauß‘ Gesicht spricht Bände: Das war genau das Husten, das Oskar in den letzten Monaten seines Siechtums von sich gegeben hatte. Außerdem kam dieses unheimliche Hüsteln aus der Richtung des Sargs. Alle halten inne. Wir sitzen wie erstarrt nebeneinander, und Keiner bewegt sich. Einesteils zieht es mich zu Oskar hin, aber andererseits habe ich ganz plötzlich ein mehr als beklemmendes Gefühl. Das darf doch nicht wahr sein! Tote können nicht husten! Oder war es gar kein Hustengeräusch? Kam es von draußen? Von der Terrasse? Gibt es irgendwelche Vögel, die solche Geräusche von sich geben? Ich suche verzweifelt nach einer Lösung des prekären Falles, komme aber zu keinem vernünftigen Ergebnis. Ist dort draußen vielleicht ein wilder Hund, der so seltsam gehustet hat? Oder eine entlaufene Katze?

 

Strauß starrt mich irritiert an. Die anderen Gäste bewegen sich immer noch nicht. Man könnte meinen, sie sind alle zur Salzsäule erstarrt.

 

„Das muss ein Hund gewesen sein, meine Herrschaften!“, verkünde ich mit fester Stimme.

 

Keine Antwort.

 

Hubert findet seine Stimme wieder: „Es kam von Onkel Oskar!“

 

Hans, der inzwischen im Eiltempo die drei Flaschen Bier geleert hat, ist obenauf:

 

„Du spinnst doch, Junge. Du solltest mal demnächst zu einem Psychiater gehen!“

„Da kannst du ihn aber gleich begleiten!“, schnaubt Hannelore ihren Bruder an. Sie hält sich verzweifelt an ihrem Besteck fest.

„Halt doch dein Maul, du alte Fregatte!“, kontert er. Er scheint schon etwas angetrunken zu sein.

 

Die Komplimente gehen hin und her. Die restlichen Leute mischen sich in das geistreiche Gespräch. Sie werden immer lauter und ordinärer. Ihre Gossensprache kommt voll zum Vorschein. Man hört und sieht, woher sie kommen.

 

„Ich bitte um Ruhe!“, ruft Dr. Strauß in die Meute.

 

Es wird schlagartig still. Auf ihn hören sie. Aber wahrscheinlich nur deswegen, weil er Derjenige ist, der sie schon sehr bald reich machen wird. Das hoffen sie zumindest.

 

„Natürlich kam es nicht von Oskar! Es kam von draußen. Oder ist jemand anderer Meinung?“, schmettert der Notar in den Raum.

 

Niemand ist anderer Meinung. Zumindest offiziell. Und zweitens ist es ihnen sicherlich egal. Hauptsache für sie ist wohl, dass Onkel Oskar nicht mehr zu den Lebenden zurückkehrt. Ich würde ihnen sogar zutrauen, dass sie nachhelfen würden, wenn sich herausstellen sollte, dass er doch noch lebt. Bei diesem Vermögen wäre es fast verständlich.

 

Ich persönlich bin nun doch restlos verunsichert. Mein Appetit ist mir gehörig vergangen. Am liebsten würde ich Strauß fragen, ob er mit mir noch einmal an den Sarg gehen möchte, aber ich befürchte, dass er höflichst ablehnen würde.

 

Die Sippe zeigt ihren wahren Charakter und isst weiter, als ob nichts geschehen wäre. Diese Leute sind abgebrüht. Das kann man wohl sagen. Ich stehe auf und gehe in die Herrentoilette. In einem kleinen Schränkchen finde ich einen kleinen Handspiegel und laufe zurück ins Kaminzimmer.

 

„Was machen Sie denn mit dem Spiegel?“, plärrt Helene (Karls Tochter, die immer noch auf den Strich geht) zu mir herüber, als ich am Tisch entlang laufe.

„Ich überprüfe etwas!“

„Das können Sie sich sparen, Herr Stich! Oskar ist mausetot! Er atmet nicht mehr!“

„Lassen Sie mich mal machen...“

 

Diese Helene ist bildhübsch. Das kann man wohl sagen. Mit wackeligen Beinen marschiere ich zu Oskars Sarg. Prompt stolpere ich über dieses gottverdammte Trepp-chen und knalle mit dem Kopf direkt auf Oskars Brustkorb. Es knirscht laut. Ich denke, mein Herz bleibt stehen. Hinter mir ertönt boshaftes Gelächter. Die Meute amüsiert sich über meinen kleinen Fehlschritt. Ich fasse es einfach nicht.

 

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er mausetot ist!“, plärrt Helene quer durchs Zimmer. Sie kaut dabei hemmungslos auf einem Stück Fleisch herum. Ihr Kinn glänzt von der öligen Soße. Ich antworte nicht. Nach zehn, fünfzehn Sekunden habe ich mich wieder gefangen. Ich halte den kleinen Spiegel an Oskars Mund und Nase. Meine Hand zittert unmerklich. Mein Puls rast. Wenn der Spiegel jetzt beschlägt... ich darf gar nicht daran denken! Ja, was wäre denn, wenn... es gäbe ein absolutes Chaos! Die Verwandten würden allesamt durchdrehen! Und Strauß gleich mit. Von mir möchte ich erst gar nicht reden.

 

Ich spüre die eindringlichen Blicke der Gäste auf meinem Rücken. Nichts. Kein Beschlag. Und ich sage zu Onkel Oskar (ich schwöre, dass ich es gar nicht sagen wollte!):

 

„Bist du auch wirklich tot?“

 

Es würde mich nicht wundern, wenn er gleich „Nein“ sagen würde. Glücklicherweise sagte ich es so leise, dass mich Keiner verstehen konnte. Doch Helene lässt nicht locker:

 

„Ist er jetzt tot, oder ist er es nicht?“

 

Am liebsten würde ich sie anschreien, dass sie doch ihr elendes Schandmaul halten soll, aber ich verkneife es mir. Und ich freue mich diebisch darüber, dass ich weiß, dass sie nichts erben wird. Sie nicht. Und die anderen auch nicht. Keinen Cent. Einem solchen Gesindel darf man einfach nichts hinterlassen. Wahrscheinlich würde sie ab sofort nicht mehr auf den Strich gehen und das ganze Geld mit beiden Händen zum Fenster hinauswerfen. Mehr traue ich ihr jedenfalls nicht zu, dieser aufgetakelten Nutte.

 

„Setzen Sie sich wieder zu uns!“, ruft Strauß. Er hat schon wieder eine seiner stinkenden Zigarren im Mund.

„Ja, das dürfte wohl besser sein!“, antworte ich zerknirscht.

„Er ist doch genauso tot, wie zuvor, oder?“

„Ja, Herr Dr. Strauß.“, antworte ich leicht verärgert.

 

Was stellt dieser Mensch nur für seltsame Fragen!

 

„Und wann ist jetzt endlich die Testamentseröffnung, Herr Dr. Strauß?“, will der LSD-süchtige Karl wissen.

 

Er sieht ganz fürchterlich aus. Er wirkt nervös und ungepflegt. Sein Blick ist unstet, und man hat bei ihm immer den Eindruck, als ob er vor etwas wegläuft. Wahrscheinlich vor sich selbst.

 

„Ich würde sagen, in zehn Minuten. Lassen Sie mir noch bitte meine Zigarre zu Ende rauchen.“

 

Er genießt es, die Leute leiden zu sehen. Ich sehe es ihm deutlich an. Ist er etwa pervers, dieser alte Notar? Manche Leute sollten nicht über ein bestimmtes Maß an Macht verfügen. Denn wie es scheint, macht es ihm tatsächlich gewaltigen Spaß, die Verwandten gehörig hinzuhalten. Sei es drum. In zehn Minuten wird er ja endlich beginnen...

 

Ich hoffe es zumindest!

 

Emma hat den Tisch abgeräumt. Sie ist sehr flink. Keine der Damen hat ihr dabei geholfen. Es war nicht anders zu erwarten. Die Gäste sitzen erwartungsvoll und unglaublicher Weise, sehr, sehr ruhig, auf ihren Stühlen. Strauß pafft genüsslich seine Zigarre zu Ende. Man spürt, wie sich eine ungeheure Spannung im Raum aufbaut. Von Sekunde zu Sekunde fühlt man mehr das Knistern der Atmosphäre - das Rascheln der Geldscheine. Der Augenblick der Augenblicke im Leben jedes einzelnen der Gäste scheint gekommen.

 

Dr. Strauß steht theatralisch auf und sagt: „Ich gehe nur noch kurz zur Toilette, wenn Sie gestatten. Ich bin gleich wieder da.“

 

Man merkt deutlich, wie sich kurzfristig eine äußerst negative Spannung aufbaut. Die Gäste tuscheln, und es wird langsam wieder etwas lauter. Ich sehe einige hassvolle Blicke, die Strauß folgen. Gut, dass er hinten keine Augen hat! Wenn ich mich aber in die Lage der Leute versetze, muss ich zugeben, dass auch ich kurz vor einer Explosion stehen würde.

 

Jetzt fällt die Entscheidung.

In den nächsten Minuten.

 

Sie wird über das weitere Leben eines jeden Einzelnen entscheiden. Leben in Armut? Oder Leben in Saus und Braus? Das ist hier die alles entscheidende Frage...

 

Je länger Strauß in der Toilette bleibt, desto ruhiger wird es im Raum. Schließlich ist es muckmäuschenstill. Man könnte die berühmte Stecknadel fallen hören. Was wäre, überlege ich, wenn jetzt plötzlich wieder ein seltsames Geräusch vom Sarg kommen würde? Ich glaube, die Leute würden allesamt rückwärts vom Stuhl fallen.

 

Dr. Christoph Strauß erscheint. Julius Cäsar konnte vor seinem römischen Volk, hoch oben im Kolosseum, sicherlich nicht imposanter auftreten, als er. Er geht hinüber zum Klavier, auf dem seine schwarze Tasche steht, und nimmt sie an sich. Dann öffnet er sie in Zeitlupe und zieht...

 

... Oskars Testament hervor.

 

Die Augen der Leute glitzern gefährlich. Das ist das Stück Papier, das für sie alles verändern wird. Strauß wirft sich in die Brust und beginnt mit der Testamentseröffnung. Jedoch, bevor er damit wirklich beginnt, sagt er laut und deutlich:

 

„Bitte bringen Sie mir einzeln Ihre Personalausweise!“

Ein wirres Durcheinander entsteht. Helene schreit: „Mein Ausweis liegt im Auto!“

„Dann holen Sie ihn bitte herein!“, antwortet der Notar ungerührt.

 

Sie rennt los. Ihr buntes Kleid flattert. Der Notar legt das Testament zur Seite.

 

„Warten Sie auf mich!“, schreit sie zurück, bevor sie den Raum verlässt.

„Sie haben ja alle Ihre Ausweise bei sich, oder? Ich hatte Ihnen doch bei meiner telefonischen Testaments-vorladung gesagt, dass ich diese Dokumente brauche!“

„Ja! - Ja! - Ja!“, schreien alle kreuz und quer.

 

Die Situation ist am Brodeln.

 

Helene kommt glücklicherweise schnell zurück. Sie schwenkt ihren Ausweis wie eine Fahne hin und her:

 

„Ich habe ihn! Ich habe ihn! Haben Sie auf mich gewartet?“

 

Dr. Strauß antwortet natürlich nicht. Es wäre unter seiner Würde. Ich wüsste in dieser Sekunde ja allzu gerne, was in seinem Kopf vor sich geht. Sicherlich freut er sich schon insgeheim auf die überraschten Gesichter dieser gierigen Meute! Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, ergeht es mir nicht anders.

 

Nachdem alle anwesenden Personen ihre Ausweise hinterlegt haben (meinen Ausweis hat er schon zuvor bekommen), beginnt Dr. Christoph Strauß endlich mit der eigentlichen Testamentseröffnung:

 

„Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Sie alle hierher gebeten, um Ihnen mitzuteilen, was im Testament des verstorbenen Oskar Horten, ehemaliger Geschäftsmann, steht. Ich muss gleich voraus schicken, dass es sich bei seinem Testament um etwas ganz Besonderes handelt. Herr Oskar Horten hat mich beauftragt, Ihnen seinen...

 

... LETZTEN WILLEN vorzutragen...“

 

Die Gesichter der Verwandten sind filmreif. Einige haben unnatürlich aufgerissene Augen, bei einigen Anderen steht der Mund weit offen. An Karls Kopf treten dicke Adern hervor. Er sieht fast aus wie ein Gehängter. Hannelores Monumentalbusen wogt gefährlich auf und ab. Hans hält sich verzweifelt an einer Bierflasche fest. Ich habe noch nie in meinem bisherigen Leben eine solch unglaubliche Spannung erlebt.

 

Aber sie ist verständlich.

Wie gesagt.

 

„Hören Sie also Oskar Hortens LETZTEN WILLEN!“

 

Er nimmt nun endlich das Testament, das auf Pergamentpapier geschrieben ist, noch einmal in die Hand.

 

Die Luft zittert.

Sie vibriert.

 

„Bevor ich Ihnen nun das endgültige Testament vorlese, möchte ich Ihnen noch sagen, worin das gesamte Erbe besteht.“

 

Er legt eine kleine Kunstpause ein. Dann räuspert er sich:

 

„1. DIE SACHWERTE: Die Waldvilla mit großem Grundstück, sowie das dreistöckige Geschäftshaus in der Stadt

2. DER FUHRPARK: 1 Mercedes 500 SL, 1 Jaguar E, 1 silberner Rolls Royce

3. DIE GELDWERTE: insgesamt 17 Millionen Euro. Diese Werte setzen sich aus Aktien, Gold, Schmuck und Bargeld zusammen.“

 

Die Gäste explodieren förmlich: Es entsteht ein wildes Geschrei. Völlig undiszipliniert, versteht sich. Sie springen von ihren Stühlen, fallen sich um den Hals, und küssen und herzen sich. Jeder liebt plötzlich Jeden. Strauß schafft es kaum, die Leute wenigstens ein bisschen zu beruhigen.

 

„Hallo! Bitte hören Sie! Ich verlese jetzt das...

 

... TESTAMENT!“

 

Plötzliche Stille.

Sie halten die Luft an.

Und Strauß beginnt zu lesen...

 

„MEIN TESTAMENT.

 

Im Vollbesitz meiner geistigen und physischen Kräfte vermache ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8221-1

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