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Alfred J. Schindler

 

 

Dunkle Rose

 

 

Mysterythriller

 

von

 

Alfred J. Schindler

 

 

 

 

 

VORWORT

 

 

 

Als ich mein Büro betrete, sehe ich sie lediglich von hinten. Sie sitzt an meinem Schreibtisch, auf dem schwarzen Besuchersessel, und dreht sich nicht um. Hat sie mich nicht gehört? Ihre Haltung ist aufrecht, und auf ihrem Schoß liegt eine dieser allseits be­kannten, hellbraunen Damenhandtaschen, an der sie sich festhält. Jedoch ist dies ein winziger Irrtum meinerseits: Diese Frau braucht sich nirgends fest­zuhalten. Sie hat es nicht nötig. Noch bevor ich mit ihr spreche, ist mir klar:

 

Diese Dame weiß, was sie will.

 

xxx

 

Ich gehe um sie herum und setze mich. Und ich be­grüße sie herzlich. Genau so, wie man eine Dame be­grüßt, die sich in einer Schule als Lehrerin bewirbt. Ihr Händedruck ist fest. Ein gutes Zeichen. Ich setze mich gegenüber in meinen alten, abgewetzten Sessel und beginne unser Gespräch mit einem verbindlichen Lächeln...

 

„Sie möchten also in unserer Schule unterrichten?“

 

Sie blickt mich an. Erst jetzt sehe ich ihre Augen: Was für ein Wahnsinn! Was hat diese Frau für un­glaubliche Augen! Sie passen gar nicht so sehr zu ihrem restlichen Äußeren. Sie hat leichtes Überge­wicht, gelinde ausgedrückt. Aber ich will ihr nicht zu nahe treten. Es geht mich nicht das Geringste an, mit welchen Hobbys sie ihre Freizeit verbringt. Schließ­lich kann jeder essen, was er will. Und außerdem könnte es ja die Schilddrüse sein. Diese Frau ist überdurchschnittlich. Das spüre ich sofort.

 

„Ich freue mich sehr, Herr Direktor Rossmann, Sie persönlich kennen zu lernen. Mein Name ist Paula Hubschmidt.“

„Entschuldigen Sie, liebe Frau Hubschmidt, dass ich Sie habe warten lassen. Aber unser Hausmeister, Herr Huber, hatte ich mich noch aufgehalten.“

„Kein Problem. Ich habe etwas Zeit mitgebracht.“

„Sie waren also die letzten Jahre in einer Stuttgarter Grundschule beschäftigt, ja?“

„Das ist richtig, Herr Direktor Rossmann.“

„Und wie kommt es, dass Sie sich verändern möch­ten?“

„Ich habe genug von der Großstadt.“

„Sie möchten sich also in unserem Städtchen nieder­lassen?“

„Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie mich in Ihr Kollegium aufnehmen würden.“

„Sie haben sich ja schon vor einigen Wochen bei uns schriftlich beworben!“

„Ja. Das ist richtig.“

„Sie können also im neuen Schuljahr beginnen?“

„Sicher.“

„Es sind nur noch zwei Wochen bis zum Beginn.“

„Ich habe mich natürlich schon um eine Unterkunft umgesehen. Eine gewisse Familie Gründl in der Holz­straße bietet ein kleines Häuschen zum sofortigen Kauf an. Ich würde es nehmen, wenn Sie mir zusagen würden.“

„Sie würden es kaufen?“

„Ja, mir gefällt dieses kleine, saubere Städtchen Freystadt! Es ist so übersichtlich und sympathisch.“

„Ja, Freystadt ist wirklich ein Ort, an dem man es aushalten kann. Wir haben hier alles, was man benö­tigt: Schöne Wälder, einen herrlichen See, ein saube­res Schwimmbad und noch einige andere Dinge mehr.“

 

Sie hört mir interessiert zu.

 

Und ich fahre fort: „Ich habe zwar Ihre Bewerbungs­unterlagen kurz durchgesehen, aber verzeihen Sie, wenn ich einige Daten nicht im Kopf habe. Sind Sie verheiratet?“

„Nein.“

„Und Sie könnten die Klassen 1 bis 4 in Vollzeit unterrichten?“

„Ja, sicher.“

„In allen nötigen Unterrichtsfächern?“

„Selbstverständlich. Außer in Religion.“

„Dafür haben wir unseren Herrn Pfarrer Schwarz.“

 

Paula Hubschmidt und ich regeln im Laufe des folgen­den Gesprächs die weiteren Formalitäten. Wir machen die Sache jetzt und heute perfekt. Als Direktor habe ich Handlungsvollmacht. Paula Hubschmidt bekommt ihren Vertrag, und ich frage sie abschließend, ob ich sie bei ihrem Umzug unterstützen soll:

 

„Frau Hubschmidt, einer meiner Freunde besitzt eine Möbelspedition. Er könnte ihren Umzug von Stuttgart nach Freystadt problemlos übernehmen. Ein Anruf genügt, und er ist bereit. Was halten Sie davon?“

„Das habe ich schon alles in die Wege geleitet, Herr Rossmann. Aber trotzdem besten Dank für Ihr Ange­bot!“

 

Sieh an, sieh an! Sie hat es also schon in die Wege geleitet. War sie sich denn so sicher, dass sie die Stelle bekommen würde? Wie konnte sie wissen, dass ich sie einstellen würde? Meine innere Stimme spricht zu mir:

 

Meinen Glückwunsch, alter Freund! Sie hat dich also überzeugt. Nun können wir nur hoffen, dass sie auch das hält, was sie verspricht!“

 

Als ich nachmittags nach Hause komme, erzähle ich Carola, mei­ner Frau, sofort die brandaktuelle Neuigkeit:

 

„Du hättest sie sehen sollen, Carola! Ihre Referenzen sind her­vorragend! Ja, und diese Augen! Diese Frau ist für unsere Schu­le wie geschaffen!“

„Wie alt ist sie denn? Fünfundzwanzig, mit Wespen­taille und Atombusen?“

 

Carolas Blick drückt Eifersucht aus. Und ein wenig Unsicherheit. Aber das hat sie wirklich nicht nötig. Und natürlich weiß sie es auch.

 

„Sie ist vierundvierzig. Und sie hat zwei Zentner.“

„Nein!“

„Doch! Ich denke, dass wir mit ihr einen guten Fang gemacht haben.“

„Sicherlich.“

„Soll ich sie dir vorstellen?“

„Ja, natürlich. Lade sie zu uns ein, Robert. Ich möch­te sie gerne kennen lernen.“

„Aber erst, wenn sie hier bei uns wohnt.“

„Wie - bei uns wohnt?“ Sie schaut mich entsetzt an.

„In Freystadt in ihrem Haus! Dass du auch alles wort­wörtlich nimmst!“

 

Die Sommerferien sind vorüber.

Ein neues Schuljahr beginnt.

 

xxx

 

Schon am ersten Schultag stelle ich erfreut fest, dass Paula Hubschmidt von den anderen Lehrern sehr herzlich aufgenommen wird. Sofort fällt mir auf, dass die Männer von ihren außergewöhnlichen Augen ange­tan sind. Es fallen diesbezüglich einige unauffällige Bemerkungen. Paula (ich nenne sie insgeheim bei ihrem Vornamen) stellt sich bei den Schülern der Klassen Eins, Zwei, Drei und Vier vor. Ich stehe ne­ben ihr, als sie den Kindern erklärt, wie sie sich den Unterricht mit ihnen vorstellt. Und sofort fällt mir auf, dass auch die Kinder von ihr fasziniert sind. Noch nie hatte ich eine Klasse erlebt, in der es so überaus diszipliniert zuging, wie in dieser. Die Kin­der hängen an ihren Lippen. Sie schwätzen nicht, und sie sind konzentriert.

 

Was hat diese Frau, was andere nicht haben?

 

Paula ist die geborene Lehrerin. Sie nimmt sich für jedes einzelne Kind Zeit. Paula engagiert sich sehr. Sie soll so unterrichten, wie sie es bevorzugt. Ja, sie hat mich überzeugt.

 

Als Paula Hubschmidt am Abend zu uns nach Hause kommt, ist Carola komischerweise nervös. So kenne ich sie gar nicht!

 

„Was ist denn los mit dir, Carola?“

„Was soll denn sein?“

„Du wirkst so nervös auf mich!“

„Das machen nur die Augen der schönen Paula.“, stän­kert sie.

„Ich bitte dich. Das habe ich doch nur so dahinge­sagt!“

„Wenn ein Ehemann von den Augen einer anderen Frau schwärmt, wird es immer gefährlich!“

„Du Witzbold.“ Ich klopfe ihr auf den Hintern.

„Lass das!“

„Ist ja gut.“

„Es hat geklingelt!“

„Machst du auf?“

„Ja.“

 

Ich sehe, wie Ines die Treppen hinunterrennt. Sie ist schneller als ihre Mutter. Da sie weiß, wer heute zu uns kommt, öffnet sie die Haustüre. Sie reißt sie auf und ich höre sie sagen:

 

„Sie sind sicherlich Frau Hubschmidt, nicht wahr?“

 

Ich bitte Paula herein. Sie überreicht mir eine wun­derschön eingewickelte Flasche mit den Worten: „Täglich ein kleiner Schluck, Herr Rossmann, in Eh­ren.“

 

Carola steht da, einen Topflappen in der Hand, und sie ist, wie es scheint, völlig erstarrt. Was hat sie denn? Hatte sie mir nicht geglaubt, dass Frau Hub­schmidt tatsächlich so ungemein voluminös ist?

 

„Darf ich vorstellen? Meine Frau Carola. Das ist Frau Hubschmidt. Paula Hubschmidt.“ Unser Gast über­reicht Carola einen wunderschönen Strauß roter Ro­sen.

„Ich freue mich, Frau Hubschmidt. Danke für die Blu­men! Bitte, kommen Sie herein.“

 

Frau Hubschmidt geht hinter Carola ins Wohnzimmer. Ines und ich trotten hinterher. Es folgen der Begrü­ßungstrunk und die üblichen Komplimente. Und schließlich serviert Carola den dampfenden Rinder­braten auf dem großen Esstisch. Ich kredenze für die Damen und für mich roten Burgunder, und Ines kriegt, wie es sich gehört, kühle Limonade.

 

Unsere Konversation ist gut. Sie ist so, wie sie es sein sollte: Unverfänglich, zuvorkommend und sym­pathisch. Der Abend nimmt seinen Verlauf. Ich mer­ke, wie fasziniert Carola von dieser Frau ist. Carola und Paula unterhalten sich blendend. Das anfängliche Eis von Carolas Seite ist längst gebrochen.

 

Ines zieht sich um einundzwanzig Uhr in ihr Zimmer zurück. Sie muss schließlich morgen Früh wieder ins Gymnasium.

 

Plötzlich klingelt das Telefon: „Wer ruft denn noch so spät an, Robert?“

„Keine Ahnung. Ich gehe ran, Carola.“

 

Ich erfahre von Sylvia König, der Ehefrau einer mei­ner Freunde, dass ihr Ehemann Johann, an seinem Schreibtisch tot zusammengebrochen ist.

 

Johann König ist tot.

 

Er war einer meiner besten Freunde. Und er war erst vierundvierzig Jahre alt. Genauso alt wie ich.

 

Ich muss mich erst einmal setzen. Gut, dass neben dem Telefon ein kleiner Schemel steht! Das kann doch nicht wahr sein! Johann war solch ein lebens­lustiger, und auch positiver Mensch! Außerdem war er kerngesund! Er rauchte und er trank nicht. Erst vor ein paar Tagen hatten wir uns im Tennisverein getroffen, der gleich hinter unserem Badesee liegt. Es ging ihm blendend, wie es schien, und er riss, wie üblich, ein paar dreckige Witze.

 

Sylvia berichtet mir im Laufe des Gesprächs von ih­rem furchtbaren Fund. Sie hatte Johann im Haus ge­sucht. Sie wollten zusammen zu Abend essen. Sie rief nach ihm, aber er war im Erdgeschoss des Hauses unauffindbar. Als sie nach oben in sein Arbeitszim­mer kam, sah sie, dass er mit dem Kopf auf dem Schreibtisch lag. Seine Arme hingen seitlich herun­ter. Er war schon tot, als sie ihn fand. Sie hob seinen Kopf etwas an und sah seine weit aufgerissenen, vor Entsetzen erstarrten Augen. Sie fragte sich, ob er vor seinem Tod etwas Grauenhaftes gesehen hatte. Ja, und auf seinem Schreibtisch lag ein kleiner, un­scheinbarer Zettel. Auf meine Frage hin, was auf die­sem Zettel denn stand, sagt sie:

 

Du hättest es nicht zulassen dürfen!“

 

„Was hat er damit gemeint, Sylvia?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich damit gemeint hat, Robert.“

„Bist du dir sicher, Sylvia, dass dieser Zettel von ihm geschrieben wurde?“

„Ich denke, schon. Denn es war niemand in unserem Haus, außer uns Beiden. Außerdem kenne ich seine Schrift.“

„Was kann er damit wohl gemeint haben?“, wiederhole ich mich. Ich bin sehr aufgeregt.

„Das werden wir wohl nie erfahren, Robert.“ Sie spricht nun langsam. Sehr langsam.

„Vielleicht dachte er in der Stunde seines Todes an etwas Schlimmes. An etwas, das seinen entsetzten Blick erklärt!“

„Ja, das könnte auch möglich sein.“

„Wie konnte er wissen, dass er sterben musste?“

„Frage mich etwas Leichteres, Robert.“

„Wenn er gewusst hätte, welche Konsequenz dieser Zettel für ihn haben würde, hätte er ihn sicherlich nicht geschrieben! Oder ahnte er schon, dass er ster­ben würde, als oder bevor er ihn schrieb? Ich sehe diesen Zettel gewissermaßen als Abschiedsbrief, Syl­via. Und natürlich als Anschuldigung gegen einen Unbekannten.“

„Irgendetwas stimmt hier nicht. Das ist mir auch klar.“

„Denkst du, dass er einen Herzinfarkt hatte?“

„Ich bin kein Arzt. Aber er wird sicherlich obduziert werden. Dann wissen wir, woran er gestorben ist.“

„Vielleicht war es ein Gehirnschlag, Sylvia?“

„Es könnte sein.“

„Oder er hat sich umgebracht. Entschuldige meine Pietätlosigkeit, aber es wäre doch sehr nahelie­gend.“

„Das glaube ich nicht, Robert. Er hatte keinen Grund dazu.“

„Kann ich dich morgen mit Carola besuchen?“

„Ja. Natürlich.“

„Es tut mir wahnsinnig leid für dich.“

„Danke.“ Ihre Stimme ist leise.

 

Sylvia wirkt auf mich irgendwie apathisch. Hat sie Beruhigungstabletten geschluckt, oder ist sie ange­trunken? Ich könnte es verstehen. Wir beenden unser trauriges Gespräch, und ich gehe ins Wohnzimmer zurück.

 

„Was ist denn passiert, Robert?“

„Etwas Schreckliches, Carola.“

 

Ich berichte den Damen von dem schlimmen Vorfall. Carola ist vollkommen perplex, und Paula sitzt wie angenagelt in ihrem Sessel. Ich wende mich an unse­ren Gast und sage, einen Cognacschwenker in der Hand haltend:

 

„Er war ein mehr als guter Freund. Sie verstehen. Er und ich waren damals in derselben Schulklasse, hier in Freystadt. Auch im Gymnasium waren wir zusam­men. Er war immer zu einem Streich aufgelegt, und wir trafen uns oft in unserem Tennisclub.“

„Wie furchtbar, Herr Rossmann. Er wurde an seinem Schreibtisch gefunden?“

„Ja, seine Frau behauptete es zumindest. Er war übrigens der Spediteur, von dem ich Ihnen erzählt hatte, als Sie kürzlich in meinem Büro waren.“

„Ah ja. Wie traurig.“

„Ja, für seine Frau wird es nicht einfach werden.“

„Hat die Familie König Kinder?“

„Nein, Frau Hubschmidt.“

Carola sagt: „Er war doch ein gesunder Mensch. Ich frage mich ernsthaft, wieso er so urplötzlich gestor­ben ist?“

„Vielleicht war er doch krank? Aber man kann ja in einen Menschen nicht hineinschauen.“, antwortet Pau­la.

„Sie meinen, dass er vielleicht Krebs hatte?“, frage ich unseren Gast.

„Ich kannte ihn ja nicht. Aber natürlich gibt es sol­cherlei Fälle. Der Arzt bestätigt einem Patienten, dass er unheilbar krank ist, und dieser verliert die Nerven und bringt sich um, weil er sein bevorstehen­des Martyrium umgehen will.“

„Psychisch krank war er bestimmt nicht. Das hätte ich gemerkt. Und finanziell stehen die Königs blen­dend da. Wir werden morgen Sylvia besuchen, Carola. Ich möchte diesen Zettel sehen.“

„Da wirst du wahrscheinlich Pech haben. Den wird die Polizei mit Bestimmtheit beschlagnahmt haben.“ Sie schaut etwas zweideutig. Zweifelt sie etwa Sylvias Erzählungen an? Hat sie Sylvia in Verdacht?

„Ich werde jetzt aufbrechen, Herr Rossmann.“

„Sie möchten uns schon verlassen, Frau Hub­schmidt?“

„Ja. Es wird allerhöchste Zeit!“

 

Paula bedankt sich bei Carola für die hervorragende Bewirtung und den ausgezeichneten Braten. Sie hatte sich aber beim gemeinsamen Essen sehr zurückgehal­ten. Ich helfe ihr in ihre schöne Jacke, und Paula steigt, nachdem wir sie hinausgebracht haben, in ihren schwarzen VW Käfer. Ich begleite sie noch hin­aus. Der Wagen ist sehr gepflegt, wie ich sehe.

 

Am nächsten Tag ist Johann Königs Tod Stadt­gespräch Nr. 1. Ich trage selbstverständlich eine schwarze Krawatte. Carola kommt um elf Uhr vormit­tags mit ihrem roten VW Polo zur Schule und holt mich ab. Wir fahren zusammen zu Sylvia, die am Rand des Ortes lebt. Wir müssen vier oder fünf Mal klin­geln, bis sie uns endlich öffnet. Ich erschrecke, als ich sie sehe: ihr Gesicht ist eingefallen, ihre Augen sind rot und entzündet, und sie bewegt sich sehr seltsam. Sie schlürft wie eine alte, gebrochene Frau vor uns durchs Haus, und sie führt uns nicht ins Wohnzimmer, sondern direkt in Johanns Arbeitszim­mer. Wir nehmen an einem kleinen Beistelltischchen Platz und sie vergisst, uns ein Getränk anzubieten. Mein Blick wandert zu Johanns Schreibtisch, an dem er gestorben ist, und auf dem der Abschiedszettel lag.

 

Dieser Zettel!

Er macht mich nervös, und ich weiß nicht, wieso.

Was wollte er denn damit sagen?

 

Du hättest es nicht zulassen dürfen!

 

Wen hatte er damit gemeint? Und was hatte er damit gemeint? Warum nannte er keinen Namen, keinen näheren Hinweis? Hatte er keine Zeit mehr, um Ge­naueres zu schreiben? Hatte ihn der Tod urplötzlich überrascht? Ich kannte meinen Freund in- und auswendig! Mit ihm führte ich vor langer, langer Zeit die ersten jun­gen Damen des Ortes zum Tanz aus! Er war ein Frau­entyp! Hatte er mit diesem ominösen Satz doch Syl­via gemeint? Hatte er etwa eine verheiratete, heimli­che Geliebte? Die Frau eines Freundes? War er ihm dahinter gekommen? Hätte dessen Frau ihn davor zurückhalten sollen? Oder hatte er etwas noch Schlimmeres angestellt? Steuerbetrug? Ich weiß es nicht. Er wollte wohl nicht, dass man sein Geheimnis entdeckt! Aber warum hatte er dann überhaupt diesen Hinweis geschrieben?

 

Johann, Johann, was ist mit dir geschehen?

 

Sylvia spricht Carola an: „Johanns Anblick war schrecklich. Seine Augen hingen fast aus den Höhlen, und sein Gesicht war blau angelaufen. Nein, violett. Ich werde diesen Anblick nie vergessen.“

„Ist er etwa erstickt?“

„Es sah fast so aus.“

„Wo ist er denn jetzt?“

„Er wurde letzte Nacht von einem Krankenwagen ab­geholt. Er liegt wohl im Nürnberger Stadtkranken­haus in der Pathologie.“

„Ja, das ist anzunehmen, Sylvia. Du hast keinen Ver­dacht, der auf einen Suizid hinzielt?“

„Nein, Robert.“

„Ich kann es immer noch nicht verstehen. War er vielleicht doch krank und sagte es niemand?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Annemarie ist doch eure Hausärztin, oder?“

„Ja.“

„Sie wird sicherlich von der Polizei vernommen.“

„Bestimmt.“

„Und finanziell geht es euch auch gut?“

„Ja. Sehr gut.“

 

Carola und ich sehen überdeutlich, wie fertig Sylvia ist. Sie macht auf mich tatsächlich den Eindruck, als ob sie unter Medikamenten stehen würde. Unter star­ken Medikamenten!

 

„Sylvia, du musst jetzt stark sein. Wenn du uns brauchst, rufe uns an. Wir kommen sofort. Du kannst zu jeder Zeit auf uns zählen.“

„Danke, Carola. Ich danke euch.“

 

Wir verabschieden uns von ihr. Und als Carola sie abends auf ihrem Handy anruft, weil sie sich um sie Sorgen macht, teilt diese ihr mit, dass sie sich in der geschlossenen Psychiatrie des Nürnberger Stadtkran­kenhauses befindet. Als Patientin, versteht sich.

 

„So schnell ist eine Familie ausgelöscht, Carola. Er liegt in der unteren Etage des Krankenhauses in ei­nem Schubfach, und sie dämmert in der Psychiatrie vor sich hin.“

„Ja, ich kann es immer noch nicht glauben.“

„Frau Hubschmidt vermutete, als sie bei uns war, dass er vielleicht todkrank war.“

„Wer weiß das schon, Robert?“

„Wir werden es erfahren.“

 

Das Leben in unserem Städtchen geht weiter. Der Freystädter Anzeiger berichtet vom plötzlichen und völlig unerwarteten Tod des allseits bekannten Spe­diteurs. Man geht mit der Todesursache des Unter­nehmers sehr vorsichtig um, denn man kennt sie noch nicht. Die Behörden schließen ein Gewaltverbrechen aus. In Richtung Suizid wird auch nichts erwähnt. Man spricht lediglich vom überraschenden Ableben des beliebten Bürgers, und man erwähnt am Rande etwas vom entsetzten Gesichtsausdruck des Verstor­benen. Auch fehlt in dem Bericht natürlich nicht, dass sich Johanns Ehefrau nun in psychiatrischer Be­handlung befindet. Die Presse ist hart und unerbitt­lich. Andererseits sollen die Leute schon wissen, was geschehen ist! Niemand kann sich auf das Ereignis einen Reim machen. Es wird natürlich viel geredet, aber wissen tut Keiner etwas. Man macht in dem Zei­tungsartikel eine unauffällige Andeutung hinsichtlich eines Abschiedsbriefes.

 

Meine Sportkameraden im Tennisclub lassen ihren verblichenen Freund hochleben. Sie trinken auf ihn, als ich abends mit ihnen zusammensitze, und ich fin­de das gar nicht angebracht.

 

Ja, ich finde es abscheulich!

 

Johann Königs Beerdigung findet in aller Stille statt. Unendlich traurig finden wir es, dass Sylvia nicht in der Lage ist, zur Bestattung ihres Ehemannes zu kommen. Aber die Ärzte haben es ihr sicherlich strikt untersagt. Nur die engsten Freunde und Verwandten kommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Natür­lich sind auch Carola und ich mit auf unserem Fried­hof, in dem er bestattet wird. Pfarrer Schwarz zeigt seine Fähigkeiten als Rhetoriker. Er ist berühmt für seine Grabreden!

 

Johann König liegt nun in seinem Familiengrab. Er starb höchstwahrscheinlich an einem Schock. Dies wurde bei der Obduktion offiziell als Todesursache festgestellt. Für uns ist es unerklärlich, wie er an einem Schock hatte sterben können. Aber hinter vor­gehaltener Hand wird gemunkelt, dass sein Herz ge­platzt war. Hatte er einen Hinterwandinfarkt? Sylvia, die man immer und immer wieder gefragt hatte, was an dem besagten Abend vorgefallen war, bestätigte nach wie vor, dass sie in der Küche war, als er starb. Ja, und niemand kann sich erklären, was er mit sei­ner letzten, schriftlichen Mitteilung hatte sagen wol­len. Er hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.

 

Und ich rätsele immer noch...

 

 

 

 

Das neue Schuljahr ist gut angelaufen. Paula Hub­schmidt hat von den Kindern einen Spitznamen be­kommen:

 

Tante Paula.

 

Natürlich entgeht es den Lehrern nicht, dass sie von den Kindern hinter vorgehaltener Hand so genannt wird. Und sicherlich weiß sie es am allerbesten. Je­doch wenn einer denkt, dass sie, die Kinder, dies spöttisch meinen, der irrt sich ganz gewaltig. Man liebt sie, diese etwas korpulente Lehrerin. Auch ihre Kollegen und Kolleginnen stehen voll hinter ihr. Im­mer, wenn ich sie treffe, hat sie ein freundliches Wort auf den Lippen:

 

„Hallo, Herr Direktor! Wie geht es Frau König? Wis­sen Sie etwas über ihren Gesundheitszustand?“

„Nun, meine Liebe. Carola hat sie in der Psychiatrie besucht. Es scheint, als ob sie völlig weggetreten wäre.“

„Eine Psychose?“

„Da bin ich überfragt, Frau Hubschmidt. In diesem Bereich kenne ich mich nicht aus.“

„Wahrscheinlich leidet sie unter einem Trauma: Unter dem Anblick ihres toten Ehemannes.“

„Ja, das kann schon sein.“

„Sie haben sie nicht gesehen?“

„Nein. Carola war bei ihr. Alleine.“

„Und sie ist völlig hinüber?“

„Wer? Carola?“

„Nein, natürlich Frau König!“

„Wie es momentan aussieht: Ja.“

„Die Ärmste. Die Psyche eines Menschen ist uner­gründlich.“

„Ein wahres Wort, Frau Hubschmidt. Gelassen ausge­sprochen.“

„Der Spruch gefällt mir, Herr Direktor!“ Sie lacht.

„Ich kenne Sylvia seit mehr als zwanzig Jahren. Ge­rade sie war immer eine Frau, die nichts hatte um­werfen können. Eine stabile Persönlichkeit mit einem guten Charakter.“

„Hoffen wir, dass es ihr bald besser geht!“

„Ja, da stimme ich Ihnen zu.“

 

Ich schaue sie an und bin wiederum von ihren un­glaublichen Augen fasziniert. Das sind keine norma­len Augen! Wie soll ich sie bezeichnen? Es gelingt mir nicht. Ich spüre, dass sie es merkt. Natürlich weiß sie, welch phantastischen Augen sie hat. Ich möchte behaupten, dass jeder, ja, jeder Mensch, der ihr begegnet, von diesen Augen magisch angezogen wird. Sie sind wie perlende, unergründliche Kristalle, sie sprühen vor Kraft, und ihr Ausdruck ist enorm.

 

Meine innere Stimme spricht zu mir:

 

Augen hin, Augen her. Du hast schließlich noch mehr zu tun, als ihre Augen zu bewundern. Robert, was wäre, wenn sie anstatt zwei Zentnern, nur einen Zent­ner wiegen würde? Reiß dich bloß am Riemen, alter Knabe! Was ist es, was dich an ihr so fasziniert?“

 

Drei Tage vergehen...

 

Ich lade Paula mittags nach der Schule noch zu einer Tasse Kaffee ein. Wir vereinbaren einen Treffpunkt: Marktplatz, Eisdiele Caruso. Ich möchte mich mit ihr über ein paar Dinge unterhalten, die unsere Schule betreffen. Es interessiert mich, was sie von meinen Ideen hinsichtlich eines neuen Stundenplanes hält. Ich rufe Carola an und sage ihr, dass ich erst etwas später zum Essen nach Hause kommen werde. Meinen silbernen Mercedes werde ich am Parkplatz der Schu­le stehen lassen, denn es sind nur fünf Minuten bis zum Stadtkern.

 

Gerade ist Schulschluss. Es ist zwölf Uhr fünfund­vierzig. Die Kinder verlassen lachend und schreiend das Schulgelände. Ich ziehe den Vorhang zur Seite, und blicke von meinem Zimmer im ersten Stock nach­denklich über die bunte Kinderschar. Die Temperatu­ren sind enorm. Wir haben zweiunddreißig Grad im Schatten. Sicherlich wird unser kleines Schwimmbad heute wieder mit Kindern randvoll sein, überlege ich. Aber die Jugendlichen bevorzugen ja unseren schö­nen, altbewährten Dorfweiher. Er hatte schon uns gedient, damals vor dreißig Jah­ren...

 

Und plötzlich fällt mir wieder Johann ein. Verdammt, was war mit ihm passiert? Keiner weiß es. Man hatte festgestellt, dass es kein Selbstmord war. Selbst­redend auch kein Mord. Mir persönlich ist sein Tod völlig schleierhaft. Hatte er wirklich einen Herzin­farkt? Warum hatte er diese, vor Entsetzen, erstarr­ten Augen?

 

Ich sehe, wie Paula zu ihrem Wagen geht, auf­schließt, die Fenster etwas öffnet, und ihre Jacke auf den Beifahrersitz legt. Sie bewegt sich ungemein leicht und locker, finde ich. Fast wie eine Ballerina. Sie schließt den Wagen, dreht sich langsam um und blickt zu mir empor. Aber sie kann mich natürlich nicht sehen, da ich nicht direkt am Fenster stehe. Ich nehme es zumindest an. Sie wartet offensichtlich auf mich. Wir hatten zwar etwas anderes vereinbart, aber sei es drum. Keine zwei Minuten später bin ich bei ihr. Wir laufen gemeinsam zu unserer, in den Sommermonaten sehr begehrten Eisdiele, Richtung Stadtmitte. Paula ist wie immer gut gelaunt. Man sieht ihr nichts von dem Stress der zurückliegenden fünf Stunden an. Unser Weg führt uns durch das gro­ße Stadttor, das im gotischen Stil gebaut worden war. Es ist das Wahrzeichen von Freystadt. Links und rechts sieht man nur gepflegte Häuser. Die Straße ist mit Kopfsteinpflaster bedeckt. Offensichtlich soll dies zur Verkehrsberuhigung beitragen.

 

Als wir den Marktplatz erreichen, finden wir an der Eisdiele glücklicherweise noch einen freien, kleinen Tisch im Schatten. Wir setzen uns und bestellen zwei Kirschbecher mit Sahne. Ich will gerade mit meinem Thema Stundenplan beginnen, als uns vom Neben­tisch ein junger Mann grüßt:

 

„Grüß Gott, Frau Hubschmidt. Herr Direktor...“

„Ich grüße Sie, Herr Müller!“, antworten wir zugleich.

„Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“

„Aber selbstverständlich! Bitte nehmen Sie Platz!“, sage ich freundlich. Er nimmt sein halbvolles Bier­glas und seine Zigaretten und setzt sich auf den drit­ten, leeren Stuhl: „Haben Sie es schon gehört, Herr Direktor?“

„Was denn, Herr Müller?“

„Wissen Sie, in einem Lebensmittelgeschäft hört man ja so einiges. Aber was letzte Nacht passiert ist...“

 

Paula beobachtet ihn wie ein wildes Kaninchen. Na­türlich fällt mir sofort auf, wie angetan er von ihren Augen ist. Sein Blick klebt förmlich an ihrem Gesicht. Sie sagt kein Wort. Unsere Kirschbecher kommen, und ich bezahle. Der Ober bedankt sich überschwäng­lich. Ich habe ihm versehentlich, anstatt einen Euro fünfzig, sechs Euro fünfzig Trinkgeld gegeben. Was soll’ s. Müllers Neuigkeit ist sicherlich wichtiger!

 

„Was ist denn passiert, Herr Müller?“, frage ich höf­lich.

„Alfred Stern, der Steuerberater, ist gestorben!“

 

Gut, dass ich sitze. Ich denke, mir bleibt die Luft weg. Ich bin völlig erstarrt und nicht in der Lage, etwas zu sagen. Paula verhält sich völlig neutral. Verständlich, denn sie kannte ihn ja nicht.

 

„War er nicht einer Ihrer Freunde, Herr Direktor?“, fragt mich der Händler vorsichtig.

„Ja.“, krächze ich mit hochrotem Kopf.

„Er wurde tot in seiner Garage gefunden.“

Ich habe mich wieder etwas im Griff: „Woher wissen Sie das denn, Herr Müller?“

„Von Gerlinde, seiner Frau. Sie war heute Morgen in meinem Laden und erzählte es mir und meiner Frau. Sie war in einem üblen Zustand.“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, sie sah sehr mitgenommen aus!“

„Das ist ja schrecklich!“, antworte ich. Ich bin zu­tiefst erschüttert.

„Er hatte denselben entsetzten Gesichtsausdruck wie Herr König!“

„Wissen Sie das auch von Frau Stern?“

„Ja.“

 

Sylvia und Gerlinde stehen also in Kontakt. Sylvia hat ihr erzählt, dass Johann diesen grauenhaften Gesichtsausdruck hatte. Es kann aber auch sein, dass Gerlinde es aus der Zeitung hatte. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass darüber etwas geschrieben wurde. Ich kann mich aber auch täuschen. Es spielt ja keine Rolle, wer wem was erzählt hatte.

 

Alfred Stern. Der angesehene und erfolgreiche Steu­erberater. Er ist also auch gestorben. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich spüre, dass mich Paula abwartend von der Seite ansieht, während sie ihren Kirschbecher isst.

 

„Essen Sie Ihr Eis, Herr Rossmann!“, sagt sie leise.

 

Auch Alfred war in meiner Schulklasse. Wir saßen hintereinander. Er war ein schlauer Bursche mit ei­nem unglaublichen Zahlengedächtnis. Er konnte fünf­stellige Zahlen miteinander multiplizieren oder auch dividieren. Bei den Mädchen hatte er wenig Erfolg. Das lag wohl an seinem etwas mickrigen Aussehen. Aber sonst konnte man gegen ihn nichts Negatives sagen. Auch er ging nach der vierten Volksschulklas­se, genau wie ich und noch einige andere Mitschüler in das Knabengymnasium in Nürnberg.

 

Plötzlich sagt Müller: „Er hat, bevor er starb, einen kleinen Zettel geschrieben!“

Ruckartig fährt mein Kopf hoch: „Was sagen Sie da?“

Erstaunt blickt er mich an. Seine Stirn liegt in tiefen Falten: „Auch er hat einen Abschiedszettel hinterlas­sen!“

„Wissen Sie, was darauf stand?“

„Ja, seine Frau erzählte es brühwarm.“

„Nun, was denn, Herr Müller?“

 

Warum hast du uns nicht aufgehalten?“

 

„Warum hast du uns nicht aufgehalten?“, wiederhole ich irritiert. In meinem Kopf rasen die unmöglichsten Gedanken umher. Wieder solch ein undurchsichtiger Spruch! Verdammt noch mal. Was hatte er damit wohl gemeint? Wer soll ihn, nein sie, seine Ehefrau, nicht aufgehalten haben? Es klingt so vorwurfsvoll! So un­gemein anklagend! Irgendwer hätte ihn von einer unbedachten Handlung aufhalten sollen. Hat er sich etwa umgebracht? Vielleicht mit Gift? Die Polizei wird sich sicherlich auch sehr wundern.

 

Dies ist der zweite, unverhoffte Todesfall innerhalb kürzester Zeit mit einem vollkommen undurchschau­baren Zettel, der so Vieles ausdrückt! Andererseits drückt er gar nichts aus.

 

Müller fährt fort: „Ja. So war der Text. Oder so ähn­lich.“

„Oder so ähnlich?“, will Paula wissen.

„Nein. Exakt dies war der Text. So hatte er es ge­schrieben.“

„Können Sie sich darauf einen Reim machen, Herr Müller?“

„Nein. Das kann meiner Meinung nach niemand. Denn er nannte keinen Namen. Wenn er z. B. den Namen seiner Frau hinzu geschrieben hätte, könnte man vielleicht herausfinden, was er damit gemeint hatte, aber so...“

„Ich fasse es nicht. Alfred Stern. Mein alter Schul­freund. Das Rechengenie. Jetzt ist auch er tot.“

„Ja, Herr Rossmann, so schnell kann es passieren.“

Ich starre ihn an: „Wie - passieren?“

„Nun, ich bin davon überzeugt, dass er keinen nor­malen Tod hatte.“

„Und woran denken Sie?“

„Entweder Suizid oder Inszenierung.“

„Autoabgase?“

„Vielleicht.“

„Inszenierung? Sie verdächtigen seine Frau?“

Sofort merkt er, was er gesagt hat. Er verbessert sich: „Selbstverständlich nicht, Herr Direktor. Ich dachte mehr an einen Außenstehenden.“

„Sie befürchten also einen Mord?“

„Es könnte ja sein. Es ist doch nicht normal, dass zwei Männer unabhängig von einander jeweils einen Zettel schreiben, und dann sterben!“

„Ich finde es auch seltsam, dass jemand eine uner­klärliche Mitteilung schreibt, und dann stirbt.“, ant­worte ich.

 

Natürlich könnte ich ihn jetzt fragen, ob er schon mehr weiß, aber ich unterlasse es. Es brennt mir zwar auf der Zunge, aber ich möchte nicht als neu­gierig gelten. Wir werden alles Weitere genauestens erfahren. Das ist gewiss. Er war ein guter Tennis­spieler, unser guter Alfred. Er war leidenschaftlicher Nichtraucher. An ein Herzversagen glaube ich nicht. Es war etwas anderes. Aber was? Er konnte auch so ungemein zynisch sein! Aber es sei ihm verziehen. Was war mit ihm geschehen? Alfred, Alfred. Erst vor ein paar Tagen saßen wir noch zusammen, draußen, am Dorfsee, und hatten uns über ein paar neue Steu­ergesetze unterhalten! Und jetzt...

 

„Ihr Eis zerläuft, Herr Rossmann!“

„Ja, natürlich, Frau Hubschmidt.“

 

Der geschwätzige Herr Müller bezahlt sein Bier und verabschiedet sich untertänigst: „Ich wünsche den Herrschaften noch einen angenehmen Tag!“

„Das wünschen wir Ihnen auch!“, flötet sie.

 

Ich vergesse, ihm zu antworten, denn ich bin in Ge­danken ganz woanders. Er wird es mir sicherlich nicht nachtragen. Als er verschwunden ist, meint Paula:

 

„Auch er war ein guter Freund von Ihnen?“

Ich bin ganz in Gedanken: „Sie meinen Müller?“

„Nein, Stern.“

„Ja, Frau Hubschmidt. Er war ein toller Typ.“

„Jetzt haben wir innerhalb kürzester Zeit zwei un­erklärliche Todesfälle in Freystadt!“

„Ja, es ist unglaublich. Ich bin völlig durcheinan­der.“

„Selbstmord ist der letzte Ausweg.“, sinniert sie.

„Der allerletzte. Denken Sie, dass er sich...“

„Hatte er denn Probleme?“, will sie wissen.

„Wie es aussah, nicht. Aber man weiß ja nie, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt.“

„Sie wollen damit andeuten, dass er Ihnen etwas vor­gemacht hat?“

„Nun, ich kann es nicht beurteilen. Aber ich hoffe, dass ich von seiner Frau mehr erfahren werde.“

„Sie werden sie besuchen, Herr Rossmann?“

„Ja, ich werde sie in ihrem Haus aufsuchen. Carola wird sicherlich auch zu ihr wollen. Die beiden Frauen waren gute Freundinnen.“

„Dann können wir nur hoffen, dass Frau Stern den Tod ihres Mannes gut überstehen wird!“

„Ja, Frau Hubschmidt. Etwas anderes: Eigentlich wollte ich mit Ihnen über unseren neuen Stundenplan sprechen. Aber ich bin momentan - ich gebe es ehr­lich zu - geistig etwas gehandikapt. Wir verschieben unsere Besprechung auf morgen, wenn Sie einver­standen sind.“

„Aber natürlich. Danke für das wunderbare Eis.“

„Ich bitte Sie...“

 

Wir gehen noch zusammen zu unserer Schule und je­der steigt in sein Auto ein. Als ich zu Hause ankom­me, weiß Carola es schon...

 

„Gerlinde hat mich angerufen, Robert.“

„Hat sie, ja?“

„Ja. Alfred ist auch tot.“

„Ich weiß.“

„Du weißt es schon?“ Sie klingt sehr überrascht.

„Ja. Ich habe es von unserem Lebensmittelhändler erfahren.“

„In diesem Kaff spricht sich alles sofort herum, Ro­bert.“

„Ja. Ein wahres Wort. Sein Tod ist mir unerklärlich. Komm, lass uns nachher zu Gerlinde fahren.“

„Ja, sie wartet schon auf uns.“

„Was hattest du am Telefon für einen Eindruck von ihr, Carola?“

„Sie wirkte auf mich sehr gedämpft.“

„Sie wird doch nicht auch irgendwelche Tabletten geschluckt haben?“

„Wir werden sehen, Robert...“

 

Als wir spät nachmittags bei Gerlinde Stern klingeln, hören wir zuerst nur den Hund bellen. Doch dann öff­net uns die Hausherrin die Türe. Mein erster Eindruck von ihr ist, dass sie sehr schlecht aussieht. Ja, ihr gesamtes Äußeres wirkt eingefallen.

 

„Kommt herein.“

 

Der Hund, ein weißer Pudel mit rotem Schleifchen, hat sich glücklicherweise wieder etwas beruhigt. Er folgt seinem Frauchen auf den Fuß. Wahrscheinlich spürt er, dass etwas Schlimmes geschehen ist. Ger­linde führt uns auf die mit Blumen umrandete Terras­se. Sie fragt uns, was wir trinken möchten, und wir entscheiden uns für eine kalte Limonade. Als wir dann endlich zusammen sitzen, erzählt sie uns un­aufgefordert den Hergang der Geschichte:

 

„Er lag in der Garage neben dem Jeep. Es war unge­fähr einundzwanzig Uhr, als ich ihn fand. Ich schaute gerade Fernsehen. Zuerst konnte ich gar nicht glau­ben, dass er tot war. Alfred lag auf dem kalten Boden auf dem Rücken.“

„Er war also schon tot, als du in die Garage gekom­men bist?“

„Ja, Robert. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sein Blick wirkte entsetzt. Und sein Gesicht war blau angelaufen. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich werde ihn nie vergessen.“

„Weißt du, was er um diese Uhrzeit in der Garage noch wollte?“

„Vielleicht beabsichtigte er, noch kurz wegfahren! Zum Tennisclub zum Beispiel!“

„Gesagt hat er zu dir aber nichts?“

„Nein.“

„Musstest du bei der Polizei schon deine Aussage machen?“

„Ja. Sie fragten mich aus, als seine Leiche abgeholt wurde.“

„Kannst du dir vorstellen, woran er gestorben ist?“, fragt Carola.

„Für einen Selbstmord gab es keinen Grund. Zumin­dest aus meiner Sicht. Es ging uns sehr gut.“

„Hat er dir etwas verheimlicht, Gerlinde?“

„Das weiß man nie, Robert.“

 

Sie wirkt wirklich recht mitgenommen auf uns. Ja, ihr Zustand erinnert mich an Sylvia. Sie wirkt verlang­samt, und ihre Augen sind trübe.

 

„Du musst jetzt stark sein, meine Liebe! Wir helfen dir, wo immer es geht.“

„Danke, Carola.“

„Hast du Medikamente eingenommen?“

„Nein.“

„Hör mal, Gerlinde: Alfred hat doch einen Zettel ge­schrieben, bevor er...“

„Ja. Das hat er, Robert.“

„Und wo ist er?“

„Die Polizei hat ihn mitgenommen.“

„Verstehe. Was stand denn auf diesem Zettel?“

 

Warum hast du uns nicht aufgehalten?“

 

„Sagt dir das etwas?“

„Nein.“

„Was könnte er damit gemeint haben, Gerlinde?“, boh­re ich nach.

„Keine Ahnung. Ich habe auch schon hin- und herü­berlegt, aber ich kam zu keiner vernünftigen Erklä­rung.“

„Er hat also jemanden angeklagt, bevor er starb.“, stelle ich fest.

„Ja, das hat er. Er muss irgendetwas angestellt ha­ben, das er hinterher bereute.“

„Nicht nur er muss etwas getan haben, was nicht in Ordnung war. Er sagte uns, und nicht mich.“

„Ja, stimmt. Er sagte nicht: Warum hast du mich nicht aufgehalten! Er sagte uns.“

Carola meint: „Wir werden es wohl nie herauskriegen. Auch er nimmt sein Geheimnis mit ins Grab.“

„Wieso - auch, Carola?“

„Nun, Johann König hatte auch einen solch merkwür­digen Zettel hinterlassen.“

„Ach ja, natürlich. Was hatte er denn geschrieben?“

„Er schrieb:

 

Du hättest es nicht zulassen dürfen.“

 

Gerlinde schaut mich irritiert an: „Das ist ja im Grunde genommen dasselbe!“

„Ja, es ist vom Sinn her gesehen sehr ähnlich, Ger­linde.“

„Die Polizei weiß, dass beide Verstorbenen einen sol­chen Zettel hinterlassen haben. Sie werden bestimmt nachforschen, welche Bewandtnis es mit diesen Mit­teilungen, nein, Vorwürfen, auf sich hat.“

„Ja, bestimmt.“

„Sie, die Unglücklichen, sprachen also höchstwahr­scheinlich von ein und derselben Person: der Person, die sie beschuldigen, sie nicht aufgehalten zu ha­ben.“

„Aber wovor aufgehalten?“

„Keine Ahnung, Robert.“

 

Wir rätseln noch ein wenig hin und her, kommen aber zu keiner halbwegs vernünftigen Erklärung. Johann und Alfred mussten mit jemandem verkehrt sein, mit dem sie zusammen irgendetwas gedreht hatten. Aber was? Was kann so schwerwiegend sein, dass es den Tod bedeutet? In der gesamten Umgebung liegen kei­ne ungeklärten Mordfälle oder Ähnliches vor. Ging es um viel Geld? Hatten sie zusammen eine Bank über­fallen? Welch idiotischer Gedanke. Sowohl Johann, als auch Alfred, waren finanziell bestens abgesi­chert! Wir können uns die Köpfe noch so lange zer­brechen: Wir kommen zu keinem annehmbaren Ergeb­nis.

 

„Wenn er wenigstens den Namen der Person aufge­schrieben hätte! Aber so...“

„Du warst mit Sicherheit nicht damit gemeint, Ger­linde.“, antwortet Carola.

„Nein.“

„Ich finde das sehr beruhigend.“

„Ich wüsste aber allzu gerne, wen er gemeint hat. Außerdem wüsste ich genauso gerne, was er damit gemeint hat, Carola.“

„Was er sich dabei wohl gedacht hat, als er den Zet­tel schrieb?“, fragt sie ihre Freundin.

„Ahnte er, als er den Zettel schrieb, dass er sterben musste?“, will Carola wissen.

„Ich kann es beim besten Willen nicht nachvollzie­hen.“

„Aber du bist natürlich verunsichert, Gerlinde?“

„Ja, sehr. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr!“

„Sylvia geht es sicherlich genauso.“

„Ja, das kann man wohl sagen.“ Ihr Blick ist verzwei­felt.

„Das Leben muss weitergehen.“

„Es gibt nicht Schlimmeres, als unausgesprochene Worte mit einem Verstorbenen.“

„Ja, Gerlinde.“

„Vielleicht hätte ich besser auf ihn eingehen sollen?“

„Nimm dir diese Sache mit dem Zettel nicht allzu sehr zu Herzen. Wir wollen nicht, dass es dir ergeht wie Sylvia.“

„Ja, ich habe es in der Zeitung gelesen, dass sie in einer geschlossenen, psychiatrischen Abteilung liegt.“

„Ich habe sie schon besucht, Gerlinde. Es geht ihr sehr schlecht.“

„Du warst schon bei ihr, Carola?“

„Ja.“

„Hat sie irgendetwas gesagt, den Zettel betreffend?“

„Nein.“

„Weißt du, wann Alfred beerdigt wird?“, frage ich sie.

„Wenn er von der Staatsanwaltschaft freigegeben ist.“

„Das kann noch ein paar Tage dauern.“

„Ja, Robert.“

„Und was vermutest du als Todesursache?“

„Herzinfarkt.“

„Hat er eigentlich irgendwelche Medikamente genom­men?“

„Nein. Das hätte ich gewusst.“

„Er war also absolut gesund?“

„Ja.“ Fest ist ihre Stimme.

 

Wir verabschieden uns von ihr, und wünschen ihr das Beste.

 

„Bitte rufe uns an, wenn du reden möchtest, Gerlin­de.“

„Danke, Carola. Vielleicht komme ich darauf zurück.“

 

Ihr Pudel springt fröhlich neben uns her, als wir ihr Haus verlassen. Wenigstens ist sie jetzt nicht ganz alleine, überlege ich, während wir ins Auto einstei­gen und losfahren.

 

xxx

 

Unser Tagesblatt berichtet ausführlich über den un­verhofften Tod des angesehenen Bürgers Alfred Stern. Man fragt sich, wieso nun auch er völlig un­erwartet, genau wie sein Freund Johann König, ver­storben ist. Natürlich erwähnt man auch den verzerr­ten Gesichtsausdruck des Toten. Und da diese Zei­tung alles weiß, berichtet sie auch über die beiden geheimnisvollen Zettel. Natürlich sieht man diese Zettel als Abschiedsbriefe, und man fragt sich, ob es sich nicht doch um Selbstmorde handelte. Anderer­seits haben die Pathologie bzw. die Polizei eindeutig bewiesen, dass es sich zumindest bei Johann nicht um einen Suizid handelte. Bei Alfred wissen sie noch nichts Genaues, wie sie schreiben. Aber es ist davon auszugehen, dass auch er sich nicht selbst gerichtet hat. Zum Dritten wäre es sehr unwahrscheinlich, dass sich zwei erfolgreiche, gesunde Männer, unabhängig voneinander, das Leben genommen haben. Natürlich wird zwischen den Zeilen angedeutet, dass die Ehe­frauen sehr genau unter die Lupe genommen wurden. Ich persönlich finde dies von der Zeitung zwar als eine riesengroße Unverschämtheit den beiden Witwen gegenüber, aber andererseits muss man die Vorfälle wirklich von allen Seiten beleuchten.

 

Es gab schon Fälle, bei denen zwei Menschen, die sich nur flüchtig oder fast nicht kannten, ihre Le­benspartner gegenseitig umgebracht hatten. A, liiert mit B, trifft ehemaligen Freund oder Freundin C, der mit D liiert ist. A vereinbart mit C, dass dieser B umbringt. Und C vereinbart mit A, dass dieser D umbringt. Ein eventuell perfektes Verbrechen! Aber so etwas gibt es doch nicht hier bei uns in Freystadt! Dieser groteske Gedanke ist ja geradezu lächerlich! Auffäl­liger ginge es ja wohl nicht! Von wegen perfektes Verbrechen. Nein, so etwas wäre nur möglich, wenn die betreffenden Leute sehr weit voneinander ent­fernt wohnen würden, am besten in verschiedenen Ländern, und man die Morde voneinander zeitlich verschieben würde...

 

Vieles geht durch meinen Kopf: Ich bin zwar kein Kri­minalkommissar, aber es ist doch sehr merkwürdig: Johann und Alfred waren Schulfreunde. Sie lernten und studierten zusammen. Ihre späteren Ehefrauen wurden Freundinnen. Und sie selbst trafen sich nach wie vor im Tennisclub. Genau wie Carola, und ich. Sie, die Verstorbenen, waren beide gesund. Und sie starben fast zur selben Zeit. Zwar unabhängig von­einander, aber doch. Und jetzt kommt’ s: Sie klagten auf diesen Zetteln jemanden an. Dabei handelte es sich zu hundert Prozent um ein- und dieselbe Person. Und beide sahen etwas, was sie zu Tode erschreckte.

 

Was steckt hinter ihrem Ableben?

Was hatten sie in ihrer Sterbeminute gesehen?

 

Wer oder was, konnte zwei gesunde Männer, die je­weils vierundvierzig Jahre alt waren, so sehr er­schrecken, dass sie starben? Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

 

Ja, es ist mir zu hoch.

 

Meine Phantasie geht mit mir durch: Ich sehe mich an meinem Schreibtisch sitzen. Ich arbeite. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Ich schaue in die Richtung, aus der es kommt. Dann sehe ich etwas, was mich furchtbar erschreckt. Aber was, so frage ich mich ernsthaft, könnte mich, Robert Rossmann, so wahn­sinnig erschrecken? Ich überlege, und überlege, komme aber zu keiner vernünftigen Erklärung. Ja, ich gehe soweit, zu behaupten, dass es auf dieser Erde nichts gibt, was mich zu Tode erschrecken könnte! Nichts! Ich bin stabil, in jeder Beziehung! Und trotz­dem nehme ich meinen Füllfederhalter und schreibe einen kurzen Text. Kurz danach sterbe ich an einem Hinterwandinfarkt. Meine Augen sind weit aufgeris­sen. Mein Gesichtsausdruck ist entsetzt...

 

Ende.

Finito.

Amen.

 

Das wäre also die Inszenierung eines tödlichen Erleb­nisses. Meines Erlebnisses! Was kann einen Menschen dazu treiben, solch einen merkwürdigen Zettel zu schreiben? Wie gesagt: Wussten Johann und Alfred, dass dies ihre letzten Zeilen waren? Oder hatte ihnen jemand - oder etwas - befohlen, diese Worte zu schreiben? Hatte sie jemand dazu gezwungen? Viel­leicht waren sie von dieser unbekannten Person, die­sem Wesen, paralysiert worden?

 

Oder wurden sie hypnotisiert?

 

Das wäre eine Möglichkeit. Hypnose. Eine Art von tödlicher Hypnose, aus der es kein Zurück gibt. Die Behörden rätseln sicherlich darüber, genau wie ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diese beiden Vorfälle einfach unter den Teppich kehren. Nein. Da sitzen mit absoluter Bestimmtheit ein paar Leute in gewissen Büros, die sich ähnliche Gedanken machen, wie ich. Aber bestimmt wesentlich professioneller. Soll ich mich an die Polizei wenden, und ihnen meine Gedanken mitteilen? Soll ich, oder soll ich nicht?

 

Nein. Ich lasse es.

Mein Gefühl sagt mir: Nein.

Tue es nicht, Robert.

 

Wenn du so weitermachst, mein Freund, wirst du ir­gendwann geistig kollabieren. Mache dir doch um Himmelswillen nicht solche fürchterlichen Gedanken! Deine Hypothesen schreien je zum Himmel! Aber mach nur weiter so. Du wirst schon sehen, wohin das mit dir noch führt. Du kannst es dir ja an deinen zehn Fingern abzählen...

 

Es klopft an meinem Büro.

 

„Herein?“

„Herr Direktor, entschuldigen Sie, aber wir warten alle auf Sie!“

 

Ich betrachte meinen jungen Lehrer, und mir fällt siedendheiß ein, dass ich ja heute Morgen für Mittag kurzfristig eine Lehrerkonferenz einberufen hatte.

 

„Ja, natürlich, Herr Schmid. Ich komme sofort.“

 

In der folgenden Konferenz, in der es um viele mehr oder weniger wichtige Dinge geht, kann ich mich nur schlecht konzentrieren. Meine Mitarbeiter spüren es, denn ich wiederhole mich ein oder zwei Mal. Ich sehe ihre prüfenden Blicke, und es ist mir mehr als unan­genehm. Nur eine Person hält sich diesbezüglich zu­rück:

 

Paula.

Unsere Paula.

 

Sie sitzt etwas abseits und lässt mich reden. Ich danke ihr innerlich dafür. Mit Hängen und Würgen bringe ich die Konferenz hinter mich. Man darf sie getrost unter „Sonstiges“ ablegen. Ich verlasse das große Konferenzzimmer und plötzlich habe ich das Gefühl, als ob mich eine Kralle von hinten überfällt:

 

Wer wird wohl der Dritte sein?

Wird es einen solchen geben?

Falls ja, wird es wieder einer meiner Freunde sein?

 

Verdammt noch mal, Robert. Du musst solcherlei Ge­danken unbedingt ablegen, alter Knabe. Sie tun dir nicht gut, diese negativen Überlegungen! Sie machen dir eine Scheißangst, und sie beeinträchtigen dich sehr! Du hast es doch soeben in der Superkonfe­renz erlebt! Du musst schließlich deinen Mann ste­hen! Egal, wohin du gehst, oder was du sagst: Du stehst in der Öffentlichkeit! Ein Schuldirektor steht immer in der Öffentlichkeit! Sogar dann, wenn er in seinem Garten sitzt und liest! Du darfst dir keine Blöße geben! Immer geradeaus, und mit klarem Blick voran! Und die Dinge auf dich zukommen lassen. Du kannst die Zukunft nicht verändern, Robert! Du kannst nichts gegen den Tod eines weiteren Freundes unternehmen!

 

Mach dich nicht verrückt!

 

Ich beschließe, mir den heutigen Nachmittag frei zu nehmen. Ich brauche dringend ein paar ruhige Stun­den, in denen ich auf andere Gedanken komme. Zu Hause angekommen, esse ich noch mit Carola und Ines zu Mittag und verabschiede mich dann von mit den Worten:

 

„Carola, ich fahre zum See hinunter. Ich möchte et­was schwimmen. Willst du mitkommen?“

„Nein. Das Wasser ist mir zu schmutzig.“

„Es ist schmutzig?“

„Ja.“

„Ich finde, es ist ziemlich sauber!“

„Nein, es ist schmutzig.“

„Ich fahre mit, Papa!“

„Nein. Du musst dich um deine Schularbeiten küm­mern.“

„Aber morgen ist doch Samstag!“

„Morgen ist Samstag? Aber natürlich. Also, packe deine Badesachen ein, und dann fahren wir.“

„Mit dem Auto?“

„Nein. Wir nehmen unsere Fahrräder.“

„Ich will aber nicht Fahrrad fahren!“

„Dann bleibst du eben hier.“

„Wofür hast du dein Auto?“

„Zum Ansehen.“

„Mit dir kann man nicht vernünftig diskutieren, Pa­pa!“

 

Nein, aber auch. Diese kleine Göre. Aber es sei ihr verziehen. Schließlich ist sie meine Göre.

 

Als wir mit unseren Fahrrädern an unserem urgemüt­lich liegenden Badeweiher ankommen (er ist nicht sehr groß und von dichtem Wald umgeben), sehe ich, dass viele Leute bereits um diese Uhrzeit hier sind. Wir stellen unsere Räder unter eine alte Ulme und breiten die Decke aus. Carola hat uns eine Kanne Kaffee und zwei Flaschen Limonade mitgegeben.

 

„Wie ich meine Tochter kenne, will sie jetzt anstatt Kaffee und Limonade lieber Eis, oder?“

„Woher weißt du das, Papa?“

„Weil ich sie kenne, die kleine Tochter.“

„Gibst du mir Geld?“

„Ja.“ Ich hole meine Börse hervor und gebe ihr zwei Euro.

„Ob das reicht?“

„Gib mir die zwei Euro zurück.“

Sie gibt sie mir. Ich gebe ihr einen Fünf-Euro-Schein.

„Sag jetzt bloß nicht, dass das zuviel ist!“

Sie lacht schelmisch.

 

Sie geht los, hinüber zu der großen Imbissbude, an der es fast alles gibt. Ich schaue ihr nach und be­wundere ihre wunderschöne Figur. Woher sie diese wohl

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8186-3

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