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Warum?

Lieber Tariq,

ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, was mir auf der Seele brennt, was mich nicht mehr los lässt. Darum dieser Brief. Auch wenn du ihn niemals lesen wirst, wenn diese Möglichkeit für immer verloren ist, wird ihn vielleicht jemand lesen, jemand der versteht, jemand dessen Leben dieser Brief ebenso verändern wird, wie du das meine verändert hast.

Nur, wo fange ich an?

Eigentlich sollte heute ein Tag wie jeder andere auch sein.

Ich stehe frühs auf, frühstücke im Halbschlaf. Ich schaffe es nicht einmal einen Kaffee runterzuwürgen, das kommt erst im Büro. Um diese Jahreszeit ist es noch dunkel, wenn im zum Bahnhof stapfe und in den Zug einsteige. Ich sehe einige bekannte Gesichter und nicke ihnen grüßend zu. Wir Pendler kennen uns. Einen freien Platz suchen. Ohrstöpsel rein, damit die Durchsagen des Zugpersonals nicht ganz so durchdringend klingen. Schlafmaske aufsetzen und dann heißt es Licht aus. Noch eine Stunde schlafen bevor ich angekomme, bevor der Tag beginnt.

So sieht mein Morgen seit jetzt beinahe drei Jahren aus, aber heute war alles anders.

Wie jeden Morgen saß ich mit eine Tasse frischgebrühtem Kaffee an meinem Schreibtisch. Wie jeden Morgen checkte ich zuerst meine E-Mails und von da an, war nichts mehr wie vorher

Ich sah sie zuerst gar nicht, die Mail mit deinem Namen im Betreff, aber dann öffnete ich sie sofort. Was ich da lesen musste, ließ meine Welt zusammenbrechen.

Die Nachricht kam von Anthony aus London. Du erinnerst dich an ihn? Er war auch da, bei dieser Konferenz, bei der wir uns kennen lernten. Ich erinnere mich noch genau, wie ich dich das erste Mal sah. Ein gut aussehender junger Mann auf dessen Schultern alle Last der Welt zu liegen schien. So jung und doch so viel erwachsener, als ich. Du hast so verloren ausgesehen, wie du da standest. Dieser große schicke Raum in diesem großen schicken Hotel; so viele wichtige Männer. Ich konnte dir ansehen, wie sehr dich dies alles einschüchterte. Trotzdem hieltest du dich gerade. Du wusstest, warum du gekommen warst. Du wolltest Teil von etwas Besonderem sein, du wolltest die Welt verändern und du wolltest, dass niemand vergaß, welches Unrecht dir und deiner Familie widerfahren war.

Als ich auf dich zuging, da warst du erst so überrascht. Eine Frau, bei solch einem Treffen, das war ungewöhnlich und gehörte in deiner Kultur nicht zum Alltag. Dennoch haben wir uns gleich gut verstanden. Du hast mir dieses Foto gezeigt. Zwei lachende junge Männer, fast noch Kinder. Du und dein Cousin. Ihr saht darauf so glücklich aus, so frei, so jung und sorglos. Er war nur 16 Jahre alt, genau wie du. Ein fröhlicher, intelligenter Junge. Er wollte Arzt werden, hast du mir erzählt während du mit den Tränen kämpftest. Und dann... dann war er eines Tages nicht mehr da. Tot. Einfach so. Weil ein Mensch am anderen Ende der Welt beschlossen hatte, dass ein Hirtenstab ein Gewehr war. Weil ein Mensch am anderen Ende der Welt, der nicht einmal seinen Namen gekannt hatte, auf einen Knopf gedrückt hatte, war ein 16-jähriger Junge gestorben. Deshalb warst du gekommen. Um diese Geschichte zu teilen, damit dein Cousin nicht vergessen würde. In den fünf Tagen der Konferenz haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Du, ich, Anthony und all die anderen. Wir haben zusammen gegessen, wir haben diskutiert und ja, wir haben sogar gelacht. Trotz des traurigen Themas. Als du uns zum Flughafen brachtest, versprachen wir uns in Kontakt zu bleiben. Du plantest sogar, uns zu besuchen.

Und heute... heute musste ich erfahren, dass auch du tot bist. Gestorben wie dein Cousin gestorben ist. Sinnlos. Durch einen Knopfdruck. Du hattest so viel vor, so viel zu geben. Jetzt nicht mehr. Was mich am meisten trifft ist, dass in diesem Raum, in dem wir über den Frieden sprachen, in dem wir gemeinsam ein Unrecht anprangerten, dass dort jemand saß, der dich verraten hat, dich dem Tod überlassen hat. Warst du ein Terrorist? Wohl kaum. Aber was zählt die Wahrheit, wenn die, die sie interpretieren eine halbe Welt weit weg sitzen? Was zählt die Wahrheit, wenn die Welt vor dem Terrorismus bewahrt werden muss? Du warst ein Terrorist und dein Tod gerechtfertigt, sagen sie. Aber warum nahmen sie dich nicht fest? Warum befragten sie dich nicht? Gaben dir nicht Gelegenheit zu erklären, was zu erklären war? Ich wusste, wo du warst. Anthony wusste, wo du warst. Es wäre leicht für sie gewesen, es ebenfalls herauszufinden. Aber warum fragen, wenn wenn die Lösung doch nur einen Knopfdruck weit weg ist; wenn der Tod eines kleinen Hirtenjungen am anderen Ende der Welt doch niemanden wirklich interessiert?

Diese Art zu töten ist schnell und sauber, keine Zivilisten sterben dabei, sagen sie. Und doch war es dein Tod, der Tod deines Cousins und so vieler anderer, deren Tod zu verhindern gewesen wäre. Aber vor allem, war es der Tod der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Unschuld und die Geburt eines neuen Krieges.

Nun bist du fort, aber nicht vergessen. Ich werde nicht vergessen, Anthony wird vergessen, keiner von uns wird dich vergessen. Und wir werden versuchen, deinen Kampf fortzusetzen. Auf die Art, von der ich weiß, dass du sie gewollt hättest... friedlich.

Und doch bleibt eine Frage auf die ich nie eine Antwort finden werde. Warum?

Leb wohl, mein Freund. Mögest du Frieden finden, wo immer du auch sein magst. Mögest du wieder der unschuldige Junge sein, den ich auf diesem Foto sah. Ich werde dich nie vergessen.

Sarah

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all die unschuldigen Opfer eines nicht existierenden Krieges

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