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My last day

Es war ein Tag wie jeder andere im Herbst. Die Sonne hatte sich noch einmal aufgerafft und strahlte warm vom Himmel, die Blätter färbten sich rot und verwandelten, die sonst graue Welt in ein Farbenmeer. In den Cafes und am Flussufer wimmelte es nur so von Studenten und Schülern, Müttern mit ihren kleinen Kindern und Senioren. Sie alle nutzen die Gunst der Stunde und tankten noch etwas Sonne, bevor die kalte und dunkle Jahreszeit anbrach.

Ich schlenderte gemütlich durch die Straßen. Endlich keine Sorgen, keine Ängste mehr. Ich genoss das Wetter und die Sonne in vollen Zügen. Eine Weile beobachtete ich eine Gruppe von Bauarbeitern bei ihrer Arbeit. Wie lange diese Baustelle wohl noch existieren würde? Seit ich in der Stadt lebte, war sie einmal um den Bahnhofsvorplatz herumgewandert, aber nie ganz verschwunden.

Schließlich ließ ich mich in meinem Lieblingscafe, nicht weit entfernt, nieder. Wie viele Stunden hatte ich nicht hier verbracht. Hausarbeiten für die Uni, Facebook und auch so manche Geschichte hatte ich hier geschrieben. Die Barista wussten schon lange was ich nahm. Es gab nur noch die Wahl zwischen Kombination 1, ein großer Latte und ein Bagel, oder Kombination 2, ein großer Latte und ein Stück Kuchen. Ich beobachtete die Passanten und las eine Weile unauffällig in der Zeitung meines Tischnachbarn mit.

Danach spazierte ich am Fluss entlang in Richtung Mensa. Da saßen einige meiner Freund und picknickten. Ich setzte mich zu ihnen. Hanna hatte wiedermal irgendein obskures Gericht mit Tofu gemach, das trotzdem sicher fabelhaft schmeckte. Leon kuschelte sich an sie und warf ihr immer wieder schmachtende Blicke zu. Also wirklich, man könnte meinen nach fast einem Jahr, wären die beiden aus der Rosaroten-Brille-Phase rau, aber nein, sie hielten sich standhaft. Gabriella erzählte von ihrem letzten Job bei einem Speed-Dating-Abend in Berlin und brachte alle zum Lachen und Teresa zeigte Fotos von ihrem letzten Urlaub in Portugal mit dem VW-Bus rum. David saß am Rand der Gruppe und unterhielt sich mit Boris über die neuesten Entwicklungen im Nahen Osten, während er ihn unauffällig von der Seite anschmachtete. Sein Pech das Boris so gar nicht schwul war.

Schließlich ließ ich auch meine Freunde zurück und schlenderte weiter, aber plötzlich durchbrach etwas die entspannte Ruhe. Stimmen, Sirenen! Ich konnte es kaum verstehen. Erstaunt sah ich mich um. Weit und breit war keine Feuerwehr oder Polizei und auch die anderen Passanten schienen nichts zu hören. Da. Da war es wieder. Es klang gedämpft, irgendwie als ginge alles durch ein schlecht funktionierendes Radio. Die Stimmen wurden lauter. Schmerzhaft lauf.

Ich schrie erschrocken auf, hielt mir die Ohren zu und kniff die Augen zusammen und plötzlich war ich woanders. Unter einer Brücke. Überall um mich herum liefen Polizisten aufgeregt hin und her. Verblüfft sah ich mich um. Ich kannte diese Brücke. Hier lief ich immer vorbei, wenn ich von Jana nach Hause ging. Dann fiel mein Blick auf ein weißes Lacken und den darunter hervorblitzenden roten Fleck auf dem Boden. Gerade hob ein Polizist das Lacken auf, und half einem anderen Mann den darunter verborgenen Körper in einen Transportsarg zu legen. Meinen Körper!

Und plötzlich kehrten alle Erinnerungen zurück. Wie ich bei Jana war. Wir hatten zusammen mit ihrem Mann und einigen anderen Freunden gekocht und danach gespielt. Es war spät geworden, aber ich hatte kein Geld für ein Taxi, also lief ich, wie immer. Ich war den selben Weg schon hunderte Male gelaufen und erwartete nichts Böses. Ich erinnerte mich wie ich plötzlich von hinten gepackt und ins Gebüsch gezerrt wurde. Ich erinnerte mich an das Gefühl von warmem Blut, dass mir aus der Kehle lief.

Ich war also tot. Hm. Irgendwie hatte ich gedacht, dass diese Erkenntnis spektakulärer wäre, aber irgendwie... schockierte es mich nicht wirklich. Da trat ein Mann neben mich. Erstaunt sah ich auf. Das gibt’s doch nicht, war mein Gedanke. Neben mir stand mein alter Professor, der erst wenige Wochen zuvor an Krebs gestorben war. Er lächelte mich freundlich an und reichte mir wortlos die Hand. Zögernd griff ich danach und folgte ihm. Noch einmal blickte ich zurück auf meinen blutüberströmten Körper, dann hinauf in den strahlend blauen Himmel zu den schönen, roten Blättern. Ich hatte den Herbst immer gemocht. Das war also mein letzter Tag auf Erden gewesen... Ein schöner letzter Tag.

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Tag der Veröffentlichung: 24.09.2013

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