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Eine Entdeckung

Gähnend streckte ich mich, schüttete Milch zu meinen Cornflakes - nichts ging über einen morgendlichen Zuckerschock - und schaufelte mir einen Löffel in den Mund.
>>So graziös wie immer<<, murrte mein kleiner Bruder und fing sich einen giftigen Blick von mir ein. Ich wusste, das ich nach dem Aufstehen immer schrecklich aussah, aber das war kein Grund darauf herumzureiten.
Mit einer Hand wuschelte ich durch das Haargestrüpp auf meinem Kopf und rief klagend zu der Frau am Herd:
>>Wie konntest du nur so was in die Welt setzten?<<
Meine Mutter wandte den Blick nicht von der Pfanne und hantierte weiter am Ei herum, so als hätte sie mich nicht gehört. Ich stieß einen langgezogenen Seufzer aus und schob mir wieder einen Löffel Cornflakes in den Mund. Jeder tat so, als wäre Billy ein verletztes Rehkitz. Ich dagegen wurde wie ein verrückter, überdramatischer Teenager behandelt - was ich auf jeden Fall nicht war! In einem Alter von sechzehn Jahren musste man nicht immer schlecht drauf sein.
Mein Leben war ziemlich langweilig und eintönig, genauso wie man es eben kannte. Mir ist noch nie irgendwas außergewöhnliches passiert. Gemeinsam mit meiner Mutter und wohl oder übel meinem Bruder Billy lebte ich in einem kleinen Haus; meinen Vater hatte ich nie kennengelernt. Er war verschwunden als ich circa zwei Monate alt war, aber trotzdem fühlte ich mich wohl.
Ich spielte mit dem beladenen Löffel und zog ihn ein Stückchen nach hinten, als ich ihn versehentlich nach vorne und somit in Billys Gesicht schnellen lies. Sein verwirrter Gesichtsausdruck brachte mich dazu, laut loszulachen.
>>Billy…. Ich… es….<<, ich versuchte mich kläglich zu entschuldigen. Die Worte blieben mir beim Kichern im Hals stecken.
Mein Bruder wischte sich die Milch aus dem Gesicht und sah mich verblüfft an, dann plärrte er los.

Ich zog mir grade einen Pullover an, da entdeckte ich zwei rote Linien an meinem Handgelenk. Sie waren relativ lang (zehn bis fünfzehn Zentimeter) und ich wunderte mich, warum sie mir erst jetzt auffielen.
Wahrscheinlich war ich zu aufgeregt, nachdem ich meinen Bruder “attackiert” hatte.
Mit einem Finger fuhr ich über meine Haut. Hm. Schien eine Schramme oder ähnliches zu sein. Ich musste an meine beste Freundin denken und grinste. Sie hieß Kat und hatte sich einmal - so ungeschickt sie war - ihre Hand mit einem Katalog aufgerissen. Kat war definitiv die tollpatschigere von uns.
Ich stellte mich ins Badezimmer, wo ich eine Creme hervorholte und sie auf meinen Arm schmierte. Meiner Vermutung nach hatte ich mich im Schlaf gekratzt (das war die logischste Erklärung die ich mir zusammenreimen konnte) und deshalb kümmerte ich mich nicht weiter um die roten Stellen.
Flink schnappte ich mir meine Umhängetasche und machte mich auf den Weg zur Schule.


Minotaurus

>>Vielleicht hat dich ein Vampir markiert, um sich später an dir zu laben!<<, vermutete Kat und setzte ihren ernstesten Blick auf. Ich schüttelte grinsend den Kopf.
>>Du und deine Vampire.<<
Ich erkläre es kurz: Meine beste Freundin war verrückt nach allem was untot war und sich von Blut ernährte. Betrat man ihr Zimmer wurde man von Postern, Büchern und Flaggen überwältigt. Im Unterricht zeichnete sie wahre Kunstwerke auf ihre Hefte und in den Pausen quatschte sie mich mit allem möglichen zu.
Man konnte ihr alles, was mit Vampiren zu tun hatte schenken und Weihnachten war ausnahmsweise keine Kaufqual. Außerdem hatte sie so viel Humor wie jemand, dem man Drogen untergemischt hatte und lachte über wirklich jeden Scheiß.
Das Eigenartigste an Kat jedoch war, das sie sich manchmal wie ein Vampir verhielt. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, tastete sie ihre Eckzähne ab, fauchte ihr Spiegelbild an oder - was ich am krassesten fand - verbrachte Nächte auf dem Friedhof. Vielleicht war sie durchgeknallt, vielleicht hatte sie auch einfach etwas Sonderbares gesehen, aber trotz allem war sie meine beste Freundin, und diesen Status vergab ich nicht oft.
>>Ach komm schon, das ist doch gut möglich<<, verteidigte meine Freundin ihre Theorie.
Ich nickte betont langsam und formte meinen Mund zu einem ängstlichen Lächeln.
>>Du hast recht<<, flüsterte ich >>wahrscheinlich ist Edward Cullen hinter mir her, weil er mich so unwiderstehlich findet. Wir sollten so schnell wie möglich nach Vegas abhauen und ein neues Leben anfangen. Wir müssen uns nur zwischendurch in Knoblauch baden, um unseren Geruch zu überdecken und die Vampire in die Flucht zu schlagen.<<
Mir entwich ein heiseres Lachen, weshalb mich Kat böse anfunkelte.
>>War nur so ein Tagtraum. In dieser verdammten Gegend passiert ja auch nie etwas aufregenderes als das eine Oma ihr Gebiss beim Aufräumen des Kellers verliert<<, schloss meine Freundin dann doch und lehnte sich mit einem Seufzen nach hinten.
Ich lächelte ihr aufmunternd zu.
>>Wenn es tatsächlich deine “Kreaturen der Nacht” gibt und ich einer begegnen sollte, bist du die erste die davon erfährt.<<
Kat grinste mich dankbar und belustigt an, als unser Lehrer in die Klasse trat. Mit einem lauten Poltern warf er seine Tasche neben den Lehrertisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wartete bis sich jeder auf seinen Platz gesetzt hatte, dann rief er: >>Guten Morgen!<<
Wir begrüßten ihn müde murmelnd: >>Guten Morgen Mr. Scoll<<
Der Lehrer lächelte unzufrieden über unseren Tonfall, flüsterte zu sich selbst: >>Ich hätte es mir denken können<< und begann mit dem Unterricht.

Genervt drückte ich auf meinem Kugelschreiber herum und starrte auf die Tafel. Die geschriebenen Wörter verschwammen ineinander und ordneten sich in unlogischer Reihenfolge neu. Mann, Legasthenie war das schrecklichste das jemanden widerfahren konnte.
>>Neria, würdest du uns bitte vorlesen, was an der Tafel steht?<<, vorderte mich Mr. Scoll auf.
Kleine Korrektur: Legasthenie im Unterricht war das schrecklichste das jemanden widerfahren konnte.
Egal wie stark ich mich auch anstrengte, ich konnte einfach nicht herausfinden was an der Tafel stand, und so drückte ich mir den Daumen und den Zeigefinger an den Nasenflügel, um den Kopf freizukriegen.
Clark, mein Kumpel und Sitznachbar, beugte sich unauffällig zu mir und flüsterte: >>Die Wortgleichung von Eisenoxid ist gleich: Sauerstoff + Eisen…<<
>>Clark, ich denke du solltest Neria allein vorlesen lassen!<<, funkte uns der Lehrer dazwischen. Ich nickte meinem Freund dankend zu, dann meinte ich: >>Die Wortgleichung von Eisenoxid ist gleich: Sauerstoff + Eisen reagiert zu Eisenoxid<<
>>Richtig<<
Glücklicherweise war mir diese Formel noch im Kopf hängen geblieben, ansonsten hätte ich mich zum Gespött der Klasse gemacht. So war das eben in meinem Leben: Pass auf oder du wirst verspottet - so wie bei fast jedem anderen.
Ich lehnte mich nach hinten und säuselte zu meinem Freund: >>Danke für die Hilfe<<

Mr. Scoll redete noch eine ganze Weile weiter, und irgendwann hatte ich mich durch den Tag geschlagen. Ein wenig erschöpft traf ich mich später mit Clark in der Stadt - er wollte noch in einen Bücherladen und hatte keine Lust allein zu gehen.
Wir standen grade vor einem großen Regal, das mit alten und kostbaren Büchern gefüllt war, da rannte mich eine etwas größere Frau um. Sie schenkte mir nur einen geheimnisvollen Blick und dann verschwand sie hinter einem kleinen Trupp Menschen. Ich kümmerte mich nicht weiter um sie und wandte mich an Clark.
>>Wie lange brauchst du noch?<<
>>Warte es ab<<, antwortete er mir knapp und fuhr mit einem Finger über die Einbände. Er zog ein Buch hervor und strich über die Titelseite.
>>Volltreffer! Die griechischen Mythen und Götter.<<
Ich stemmte die Hände in die Hüfte.
>>Wieso brauchst du das Buch?<<, fragte ich. Clark antwortete nicht, stattdessen schlug er es auf und musterte einige Seiten. Interessiert las er einige kleine Texte - weshalb ich vor Langeweile beinahe gestorben wäre - bis er beschloss das Buch zu kaufen.
>>Komm schon, Neria, die griechische Mythologie ist doch total cool<<
>>Und selbst wenn, ich verstehe nicht wie du für ein Buch einfach mal so fünfzig Dollar hinhauen kannst!<<
Clark schüttelte den Kopf.
>>Du wirst schon noch mitbekommen wie relativ Geld ist.<<
Sehr, sehr leise fügte er dann noch hinzu: >>Hoffentlich erst in mehreren Jahren<<
Ich wunderte mich zwar, was er damit meinte, aber letzten Endes blieb ich ruhig. Woher hätte ich denn wissen sollen, das Clark kein normaler Junge war?
>>Wollen wir noch zu mir? Wir können uns das Buch ansehen<<, wollte Clark wissen und stellte sich an die Bushaltestelle.
Ich grinste. >>Klar, sofern du nichts dagegen hast darauf warten zu müssen, das ich mit dem Lesen hinterherkomme.<<
>>Nein, schon okay. Von mir aus könnte ich auch ein, zwei Kapitel vorlesen. Das wird toll, vor allem die Seiten über Zeus, Poseidon und Hades.<<
Mit einem Mal wurde mir komisch und mein Kopf begann zu schmerzen. Ich legte mir die Finger auf die Schläfen und massierte meinen Kopf.
>>Hey, alles okay?<<, fragte mein Freund. Ich schluckte schwer, dann flüsterte ich: >>Ich weiß nicht so wirklich<<
Eine Stimme drängte sich in den Mittelpunkt meines Gehörs und blendete alles um herum aus. Zuerst summte sie kurz, doch dann sprach sie freundlich und gelassen. >>Neria… Neria… Es tut mir leid…<< Die Stimme war definitiv die eines Mannes.
Plötzlich wurde mir schwindelig und ich setzte mich auf eine Bank, von der aus ich in den Himmel starrte.
>>Clark, was ist das? Hörst du ihn auch?<<, murmelte ich leise, als mich ein lautes Brüllen zum zusammenzucken brachte. Ich brauchte etwas länger um zu realisieren, das das was so laut wie ein Monster kreischte auch tatsächlich ein Monster war. Der Minotaurus rannte schnell - und das direkt auf mich zu.


Kostüm… oder doch nicht?

Als ich noch klein war, liebte ich es mich zu gruseln. Ich war verrückt nach den Geschichten über Geister und Monster unter meinem Bett, dunkle Gassen fand ich eher interessant als zum Weglaufen. Mit Billy zusammen versuchte ich imaginäre Werwölfe aus dem Keller zu vertreiben und unseren Eltern einen Schrecken einzujagen.
Nun ja, ich war aber leider nicht mehr fünf sondern fünfzehn, und so fühlte ich mich eher unwohl als der Minotaurus kurz davor war, mich umzurennen. Aber es war keine Kunst, sich vor dem zotteligen Wesen zu fürchten.
>>Oha!<<, rief ich entsetzt und trippelte nur ein kleines bisschen zur Seite, weil ich mir nicht sicher war, ob meine Augen mich täuschten.
Clark griff meine Hand und riss mich beim Rennen mit sich.
>>Wir müssen weg hier!<<, zischte er nach vorn. Ich sah mich verwirrt um, und nachdem ich Clarks Stimme wahrgenommen hatte, meinte ich sarkastisch: >>Also ich würde lieber da stehen bleiben und mit dem Vieh kuscheln…<<
Ich hüstelte, befreite mich aus dem Griff meines Freundes und rannte an seiner Seite geradeaus weiter. Eine kleine Minute wagte ich es nicht, doch dann drehte ich den Kopf nach hinten und sah den Minotaurus, wie er uns verfolgte.
>>Ich gebe es offen zu - ich habe Angst, obwohl man es vielleicht nicht merkt!<<
Und das meinte ich ernst. Innerlich begann grade eine Welle des flauen Gefühls mich zu ertränken, und Schweiß trat auf meine Stirn. Aufgewühlt wies ich Clark auf das griechische Wesen an und erschrak mich wie noch nie zuvor, als er stehen blieb.
>>Was tust du?<<, brüllte ich ihm zu, und bekam ein Gefühl, als ob ich mich übergeben müsse.
>>Neria, halt einfach den Mund und beweg dich nicht!<<
Ich zuckte übertrieben mit den Schultern und kniff mir selbst in die Hand.
>>Es ist ja nicht so, als ob wir in Gefahr wären… das ist sicherlich einer unserer Freunde in einem Kostü…<<
Ich hielt inne. Na klar, so musste es sein. Lächelnd schlug ich mir die Hand vor die Stirn und lachte über mich selbst.
Die Person im Kostüm musste noch ein wenig laufen, bis sie uns erreichte, aber dann blieb sie stehen und musterte uns von oben bis unten.
>>Tolles Kostüm!<<, flötete ich. >>Ich bin drauf reingefallen… aber jetzt kannst du die Maske abnehmen.<<
>>Neria, ich… äh… ich denke nicht das das…<<
>>Clark komm schon, hör auf. Ihr habt mich doch schon auf den Arm genommen, du musst das Schauspiel nicht weiterführen<<
Kopfschüttelnd ging ich zu dem “Minotaurus” herüber und fuhr über seinen unechten Bauch. Dann beäugte ich den Rest seines Körpers, der nebenbei bemerkt ziemlich real aussah und groß war. Er roch sogar nach Tier!
Der große Stierkopf beugte sich zu mir herunter und stoßweise Atemzüge pusteten in mein Gesicht.
>>Wirklich, das sieht perfekt aus!<<, hauchte ich fasziniert.
Clark packte mich an den Armen und schubste mich nach hinten.
>>Was willst du?<<, fragte er den Kostümträger und stemmte die Hände in die Hüfte.
>>Leute, bitte, hört auf. Das ist echt zu dumm und….<<
>>Sei doch mal ruhig, die Sache ist ernst! Das ist nicht Kat oder irgendwer… das ist real und gefährlich<<
Hätte man mir das einfach so gesagt, hätte ich es nicht geglaubt, aber Clark redete mit so einer Überzeugung in der Stimme, das man es ihm abnehmen musste.
>>Du meinst… das da ist wirklich ein…<<
>>Ja<<, flüsterte mein Freund. Ich schluckte schwer.


Kekse, Kakao und Adrenalin

>>Ich denke, wir sollten abhauen<<, meinte ich zu Clark ohne den Blick vom Minotaurus zu wenden. Er starrte eine Weile auf das Wesen vor uns, noch ehe er etwas sagte.
>>Das wird nichts bringen. Unser Freund hier wird uns wahrscheinlich verfolgen und bei der erstbesten Gelegenheit in Stücke reißen.<<
Ich lachte trocken. >>So optimistisch habe ich dich ja noch nie erlebt<<
>>Könntest du bitte deine sarkastischen Bemerkungen für einen Augenblick mal abstellen? Es gibt hier grade Wichtigeres.<<, fauchte Clark zurück.
Zugegeben, da hatte er Recht. Ich nickte und kratzte mich am Kopf. Was könnten wir tun, anstatt wegzulaufen? Kämpfen? Das wäre lächerlich - zwei Teenager gegen ein griechisches Monster. Wir hätten keine Chance. Würden wir die Polizei rufen, wäre es womöglich zu spät und wir Hackfleisch.
Unsere Situation war aussichtslos - und glaubt mir, ich würde sonst nie so pessimistisch denken. Besondere Ereignisse bedeuteten besondere Denkweisen… mehr oder weniger.
>>Was machen wir jetzt?<<, fragte ich, wobei ich mir keine Mühe gab meine Angst zu verbergen. >>Sollen wir beten?<<
Clark schüttelte den Kopf. Ich hatte eigentlich erwartet, er würde losheulen, aber stattdessen setzte er ein Grinsen wie Kleinkind an Weihnachten auf. War er jetzt komplett irre? Welcher halbwegs normale Mensch freute sich über einen MINOTAURUS? Vor allem, wenn dieser Minotaurus ihn voraussichtlich zerhacken wird?
>>Was hast du jetzt schon wieder?<<, brummte ich verwirrt.
Clark antwortete nicht, stattdessen schob er mich hinter sich und trat näher an das griechische Monster heran.
>>Was willst du?<<, wiederholte er. Der Minotaurus schnaubte laut, schabte mit dem Fuß und peitschte mit seinem Schwanz durch die Luft. Clark nickte daraufhin verständnisvoll (was in mir Fragezeichen aufgehen lies) und stemmte die Hände in die Hüfte. Eine Weile verharrten die beiden so, tauschten nur gelegentlich Blicke aus und schwiegen. Aber irgendwann drehte der Minotaurus uns den Rücken zu und begann damit, sich davonzumachen.
Ich glotzte ihm hinterher bis Clark mich am Arm packte und versuchte, mich aus meiner Starre zu schütteln.
>>Ich weiß das das kein spektakuläres Ende war, aber trotzdem lauert hier noch die Gefahr. Gehen wir zu mir und trinken erstmal einen Kakao, um uns…<<
>>Ich flipp’ aus!<<, unterbrach ich meinen Freund. >>Was war denn das? Dreh ich völlig durch?<<
In meinem Körper sammelte sich eine große Menge Adrenalin an und ich wurde hibbelig.
>>Oh, du bist also ein Spätzünder<<, seufzte Clark. Während ich von einem auf den anderen Fuß hüpfte, musterte mich mein Freund genau, bis er zu dem Entschluss kam, loszugehen.
>>Neria, komm mit<<, sagte er und wollte meine Hand nehmen, aber ich wich zurück.
>>Was war das eben? Wieso ist uns das Teil hinterher gelaufen und vor allem: Warum hat es sich so plötzlich verkrümelt?<<
>>Lange Geschichte. Am besten, wir verschwinden von hier und gehen zu mir. Da können wir über alles reden<<
>>Aber…<<, setzte ich an, schüttelte dann aber den Kopf und machte mich mit Clark auf dem Weg zu ihm - die tausend Fragen in meinem Kopf und die Aufregung machten es mir nicht leicht, unter den vielen Passanten leise zu bleiben.

>>Hast du dich jetzt beruhig?<<, fragte Clark geduldig und griff sich einen von den Keksen, die er soeben auf den Tisch gestellt hatte. Ich nippte an der heißen Schokolade, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke.
>>Ja<<, flüsterte ich. Mein Herz pochte zwar immer noch wie wild, aber jedenfalls hatte ich nicht mehr das Bedürfnis aufzustehen und schreiend im Kreis zu laufen.
>>Na dann kann es ja mal losgehen. Frag alles, was du wissen willst<<
Ich seufzte. In den fünfzehn Minuten, die seit unserem Zusammentreffen mit den ungewöhnlichen Wesen verstrichen waren, hatte ich mir so einiges zusammengelegt.
>>War das ein echter Minotaurus, wenn ja, wo kam er her und was hat er hier gesucht?<<
>>Es war DER echte Minotaurus. Es gibt nur einen. Er lebt eigentlich in einem Labyrinth und war hier, um uns einen Schrecken einzujagen. Glücklicherweise standen an der Bushaltestelle nur zwei Leute.<< Clark lachte in sich hinein. >>Ich wette, die besuchen morgen einen Psychotherapeuten und fragen, was mit ihnen nicht stimmt<<
Ich nickte, stimmte aber nicht in das Gelächter meines Kumpels mit ein.
>>Inwiefern “Schrecken einjagen”?<<, fragte ich leise.
>>Tja<<, grinste Clark >>Er wollte… uns hallo sagen.<<
>>Red Klartext, verdammt!<<
Clark zuckte bei meinen barschen Worten zusammen. >>Ja ja, ganz locker<< Abwehrend hob er die Hände und leckte sich die Kekskrümel von den Lippen.
>>Es hat alles was mit deinem Vater zu tun, aber am besten fragst du da deiner Mutter Löcher in den Bauch. Ich meine, immerhin kennt sie ihn besser, als viele andere Sterbliche<<
Perplex über das Wort “Sterbliche” schnappte ich mir ebenfalls einen Keks und steckte ihn mir in den Mund.
>>Mein Dad lebt in Californien und arbeitet als Beamter.<<, schmatzte ich. >>Er hat Mom und mich vor langer Zeit verlassen, dann trafen sie sich irgendwann wieder, zeugten das elfjährige Monster Billy und trennten sich wieder.<<
Clark schüttelte den Kopf. >>Das wollen sie dir weismachen. Ich will dich nicht erschrecken. Frag deine Mutter, ich bin nur für den Kleinkram zuständig.<<
Ich drehte misstrauisch den Kopf zur Seite. >>Nenn mir ein Beispiel<<
>>Okay<<, meinte Clark >>krieg keinen Schock, aber Billy ist nur dein Halbbruder. Und ich…<< Er machte eine Pause, um zu schlucken. >>…ich bin kein normaler Junge.<<
>>Billy ist nicht mein Bruder?<< Mein Kopf schüttelte sich wie von selbst. >>Wenn dem so ist, wird es mir meine Mutter verraten wenn ich sie danach frage. Aber bis dahin legt dich hin und ruh dich aus.<<
Mit einem Satz war ich aufgesprungen und hatte die Tasse mit dem Kakao auf den Tisch gestellt. Clark ging es nicht gut. Er redete nur dummes Zeug. Jedenfalls war das meine Sicht der Geschehnisse.
>>Clark, dir ist diese Minotaurussache nicht gut bekommen. Ich denke, mir geht es genauso. Am besten ist es, wenn wir beiden eine Pause machen.<<
Meine Schritte trugen mich zur Haustür, wo ich kurz innehielt, um auf den überrumpelten Clark zu warten.
>>Wir sehen uns in der Schule<<, flüsterte ich und sprang nach draußen. Dann rannte ich los, auf nach Hause.
>>Wenn wir vorher nicht durchdrehen<<, säuselte ich zu mir selbst und beschleunigte mein Tempo.

Schwesterherz?!?

In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Ich hatte mich nicht getraut meine Mutter auf meinen Bruder anzusprechen. Auch über den Minotaurus hatte ich Weichei kein einziges Wort verloren.
Es war meine eigene Schuld, das ich keine Ruhe fand.
Der Morgen verlief auch nicht wirklich besser. Am Frühstückstisch wurde ich auf meine Augenringe und den müden Blick angesprochen, doch ich versuchte einem allzu ernsten Gespräch aus dem Weg zu gehen.
Ich hatte Billy nebensächlich gefragt, ob er an Minotauren und so ein Zeugs glaubte, doch auf diese Frage hin hatte er mich mit seinem angesabberten (!) Toast abgeworfen und rumgejammert, das ich ihm nur Angst machen wollte und er von mir Pickel bekam. Und ich war überdramatisch!
Nachdem das Wort “Minotauren“ meinen Mund verlassen hatte, wirke meine Mutter besorgt, aber irgendwas in ihren Augen sagte mir, sie wüsste über alles bescheid. Wahrscheinlich war diese Vermutung nur eine paranoide Einbildung, die Clark mir in den Kopf gesetzt hatte.

Ich wussten zwar das mich die Nacht und die “Verfolgungsjagd” sehr geschwächt hatten, aber trotzdem machte ich mich gleich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule um mich einlullen zu lassen.
Das Erste, wonach ich Ausschau hielt, war Clark, doch er war nicht gekommen.
Das Zweite war jemand, der mir irgendein koffeinhaltiges Getränk geben konnte. Ich probierte es bei Jamie, einem Jungen aus meiner Straße und einem guten Freund.
>>Scheißegal was, Hauptsache es macht mich wach!<<, erklärte ich mit dem letzten Rest meiner Kraft und merkte erst jetzt, wie müde ich überhaupt war.
Jamie nickte mir mit belustigten Lächeln zu, holte seinen Rucksack vom Rücken und fischte eine World of Warkraft Trinkflasche daraus.
>>Ich weiß ja nicht ob du Kaffee magst, aber das ist auf jeden Fall der beste Muntermacher der Welt.<<
Ich lächelte matt. >>Und du brauchst den um nicht einzuschlafen, wenn du mal wieder bis in die Nacht WoW zockst, oder?<<
Jamie tat so, als wäre er beleidigt und reichte mir die warme Flasche, in der die Flüssigkeit umherschwappte. Ich öffnete sie sofort und begann gierig zu trinken.
Ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund und lief mir die Kehle herunter. Die Wärme, die sich bei jedem Schluck mehr und mehr in meinem Körper verteilte, verpasste mir eine wohlige Gänsehaut.
>>Da scheint wohl jemand Interesse an mir zu haben und mich durchs Küchenfenster zu beobachten.<<, mutmaßte der Junge, warf mir einen herausfordernden Blick zu und formte seine Lippen zu einem Kussmund.
Ich grinste in mich hinein, nahm die Öffnung der Flasche von meinen Lippen und schauspielerte Verlegenheit.
>>Oh mein Gott, Jamie<<, säuselte ich leise >>Du hast mich erwischt!<<
Mein angeblicher Geliebter packte mich an den Schultern und zog mich ganz nah an sich.
>>Lass uns heiraten, von hier abhauen und eine Ranch in Nashville aufmachen<<, lachte er.
Ich lachte ebenfalls. >>Auf der wir dann Computer züchten und sie zusammen mit Kaffee verkaufen. Wir wären die einzigen die so was könnten!<<
Der Koffein in Kaffee hatte sofort gewirkt, und auch wenn ich dieses Getränk nicht gern mochte musste ich es wirklich loben. Ich scherzte noch eine Weile mit Jamie, aber irgendwann mussten wir zum Unterricht.
Schade das er nicht in meine Klasse ging, ich hätte mit ihn nämlich die endlos scheinende Stunde schneller rumkriegen können. Und weil auch noch Kat krank war, saß ich alleine an meinem Tisch, summte gelegentlich vor mich hin und wurde wieder von den Gedanken an den Minotaurus und Clark eingeholt.
Durch meinen Freund hatte ich an etwas anderes denken, mein Problem für ein paar Minuten vergessen können. Doch ich war allein und hatte keine andere Wahl als nachzudenken.
Ich stellte mir den zotteligen, großen Minotaurus noch einmal vor. Er hüpfte vor meinem inneren Auge umher, versicherte das er echt war.
Dann kam Clark. Er redete mit dem stampfenden Vieh wie mit seiner Mutter über das Endergebnis eines Spiels. Sie lachten zusammen wie Hohlköpfe, und hinter dem Minotaurus erschien ein zitterndes Mädchen. Aus ihren Augen liefen kleine Tränchen. Clark nahm sie in den Arm, lächelte sie an, doch das Mädchen hatte einen eisernen Gesichtsausdruck.
Ich verdrehte die Augen. Musste ich mich immer wie eine Heulsuse darstellen? Ja, das Mädchen war ich; und glaubt mir, ich passte nicht in ihre Rolle.
In meinem Kopf herrschte ein Kino, wegen dem ich alles um mich herum vergaß. (Ein ziemlich unlogisches Kino, wohlgemerkt)
Irgendwann riss mich die Klingel zur Pause aus den Gedanken und ich stolperte ein wenig unbeholfen auf den Pausenhof. Gelächter und fröhliche Stimmen erfüllten die Luft. Ich lies mich mit einem Zeichenblock und einem Stift neben einem Baum nieder, wo ich sofort begann eine Blume zu Papier zu bringen. Ich liebte Kunst. Ich liebte es, Dinge zu malen.
Ich war so auf das Bild fixiert, das ich die Person neben mir gar nicht richtig zur Kenntnis nahm.
Erst, als sie mich antippte reagierte ich.
>>Hey<<, begrüßte mich das Mädchen mit rötlichen Haaren und lächelte. Ich musterte ihre merkwürdige Kleidung und legte den Kopf schief.
>>Hallo<<, sagte ich höflich, fragte mich wieso sie mich ansprach und wandte mich wieder meinem Bild zu.
>>Wie geht’s deiner Mutter?<<, wollte die Fremde nun wissen.
Fragend drehte ich mich wieder zu dem Mädchen und legte den Stift auf das Gras.
>>Wieso willst du das denn bitte wissen? Ich denke, ich kenne dich nicht.<<, meinte ich verwirrt.
Die Fremde grinste mich an, sah sich prüfend um und lehnte sich so nah zu mir, das sie mein Ohr fast mit dem Mund berührte.
>>Da denkst du richtig<<, flüsterte sie leise. >>Weil ich bis jetzt noch nie Kontakt zu dir aufgenommen habe, Neria.<<
Ich schluckte. >>Woher weißt du, wie ich heiße?<<
Nach kurzer Pause kam die Antwort:
>>Deine Schwester muss so was doch wissen<<


Ich stand auf, wich von ihr zurück und fuchtelte mit der Hand vor dem Gesicht des Mädchens herum.
>>Du hast sie doch nicht alle<<, meinte ich. >>Alle in meiner Umgebung drehen allmählich durch!<<
Aufgebracht stampfte ich auf und verdrehte die Augen.
>>Da bin ich zwar anderer Meinung, aber Clark hat mir schon erzählt das ich dich erst noch überzeugen muss.<<, grinste das Mädchen. >>Ich heiße übrigens Tiana.<<
Tiana hielt mir einladend die Hand entgegen, doch ich übersah absichtlich diese Geste.
>>Clark?!?<<, fragte ich laut. Bei mir gingen Abermillionen Fragezeichen auf. Was hatte mein bester Freund denn mit diesem eindeutig verrückten Mädchen zu tun?
>>Ja, Clark. Er hat mir geholfen dich zu finden. Ohne seine Hilfe würde ich womöglich immer noch im Camp sitzen und Däumchen drehen.<<
Ich merkte, wie eines meiner Augen zu zittern begann.
>>Ich steige nicht durch!<<, sagte ich und schüttelte den Kopf. >>Was laberst du denn da eigentlich?<<
Tiana zog die Stirn kraus. >>Hat deine Mom denn nicht….<<, fragte sie ins Leere und musterte mich. Ihr Blick blieb an meinen Augen hängen. Nach einer Minute des Schweigens blinzelte sie stark.
>>Ich dachte Clark meinte, ich solle dich davon überzeugen das ich deine Schwester bin, und nicht wer dein Vater ist…<<, sagte sie zu sich selbst und biss sich auf die Unterlippe.
>>Was ist los?<<, starte ich einen erneuten Versuch.
Meine “Schwester” rieb ihren Kopf an ihrer Schulter und sah zu Boden.
>>Nun ja<<, flüsterte sie >>Ich werde dich jetzt vermutlich aus dem reißen, was du normales Leben nennst, aber irgendwer muss es dir ja erzählen.<<
>>Versuchs einfach<<, fauchte ich genervt.
>>Kurz und knapp: Dein Vater ist ein griechischer Gott, um genauer zu sein ist er sogar einer der großen Drei, dein Bruder Billy ist adoptiert worden und Clark, tja, der ist den Beschützer.<<
Ich nickte langsam. >>Natürlich<< Das Wort zog ich in die Länge und lies es mir auf der Zunge zergehen. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, das Tiana nicht alle Tassen im Schrank hatte. Und, um es noch freundlich auszudrücken, ihre Kleidung passte auch nicht wirklich hierher.
Kopfschüttelnd sammelte ich meinen Block und den Stift vom Boden auf, sah das Mädchen mit schräg gelegten Kopf an und sagte: >>Ich geh dann mal lieber<<
Bevor sie etwas antworten konnte, rannte ich los.

Wie besessen flog mein Kopf abwechselnd nach Links und Rechts.
>Nur nicht durchdrehen<, befahl ich mir in Gedanken und biss mir auf die Unterlippe.
>Tiana wird hier schon nicht auftauchen… Immerhin sind in der Klasse viele Leute!<
Während ich zusammengekauert und nervös wie eine Irre auf meinem Platz saß, achtete ich keineswegs auf meinen Lehrer. Er quasselte irgendein Zeug vor sich hin, das ich so oder so nicht kapieren würde und fuchtelte mit seinem neuen Spielzeug - einem Zeigestock - in der Gegend rum. Meiner Meinung nach benutzte man ein solches Teil in dieser Zeit nicht, aber der Mann mit der großen Hornbrille hatte ja eh kein Zeitgefühl. Super für verwahrloste Menschen - Scheiße für Schulstunden, die sich nicht ins Unendliche ziehen sollen.
Ich versuchte mir grade einzureden, dass Tiana nur eine Einbildung aufgrund des Kaffees war (ich bin eben kreativ!), da bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine sanfte, fließende Bewegung in Richtung Fenster.
Sofort wandte ich meinen Blick dorthin, wo ich eben einen rötlichen Haarschopf gesehen hatte, konnte aber nichts erkennen.
Meine Muskeln verspannten sich. War sie wieder hier? Würde Tiana gleich neben mir stehen?
Die Klinke der Klassentür drückte sich hinunter, und kaum stand die Person im Raum, rief ich: >>Sei so höflich und hau ab!<<
Hätte ich früher mitbekommen, dass die Frau nicht Tiana sondern die Schulrektorin war, hätte ich mir den Spruch verkneifen können, doch es war zu spät.
>>WAS?!?<<, die Rektorin Mason klang wütend, als sie mit drohend erhobenen Finger auf mich zuging.

Nicht zu fassen, das diese schrullige Oma von Schulleiterin mir Nachsitzen aufgebrummt hatte!
Das war mit Abstand das langweiligste das mir passieren konnte - ein Kerl der sich für einen Jugendpsychologen hielt, uns mit irgendeinem Blödsinn vollredete und merkwürdige Jungs, die mich angruben.
>>Würdest du bitte aufhören mich gedanklich auszuziehen?<<, herrschte ich einen Kerl an, der mich schon seid mehreren Minuten anstarrte.
Er blinzelte mehrmals, bis er dazu vordrang mir zu antworten.
>>Oh, Verzeihung<<, lächelte er >>Ich hätte nur nicht gedacht das heute ein Mädchen kommt.<<
Ich nickte und verknotete die Finger.
Wieso hatte ich ihn grade eben so dumm angemacht? Den Spruch bereute ich sofort.
>>Sind denn immer so wenige da?<<, fragte ich um von meiner Dummheit abzulenken. In diesem Raum war ich das einzige weibliche Wesen… wenn man das so formulieren wollte. Nach seinem Verhalten war ich mir bei dem Jugendpsychologen nicht so sicher, ob er männlich war.
>>Tja, euer Geschlecht ist wohl ein wenig klüger als das unsere.<<, lachte der Junge leise und hielt mir die Hand entgegen. >>Ich bin übrigens Grover<<
>>Neria<<, stellte ich mich knapp vor und grinste. >>Ich hätte nicht gedacht das es noch kluge Jungs gibt.<<
Grover zuckte die Achseln. >>Eine aussterbende Rasse<<
Ich zog eine Grimasse. >>Ein paar Jungs von der hintern Bank da würden dich für diesen Satz zu Hackfleisch verarbeiten.<<
Hach ja, die Erbsenhirne von der hinteren Bank. Die Idioten aus der Footballmannschaft. Genau die, die mich angebaggert hatten.
>>Wie schon gesagt, aussterbend. Die Todesuhrsache “Opfer von Erik Sebastians” zählt auch<<
Ich streichelte mir über den Arm, beschloss dass es zu kalt war, und zog mir meine Jacke an.
>>Hey Grover<<, sagte ich >>hast du vielleicht Lust morgen mit mir in der Schulcafeteria zu essen?<<
Er nickte, wobei sein Blick an der Decke klebte.
>>Klingt gut, aber zuerst müssen wir das Nachsitzen hier überstehen<<, gab er zurück und wandte sich wieder seinen Aufgaben zu.
Ich muss zugeben, ich freute mich darüber mit normalen Leuten zu reden. Woher hätte ich denn wissen sollen, das Grover nicht so normal war, wie er schien?

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Tag der Veröffentlichung: 07.05.2011

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