Habt ihr jemals den Halleyschen Kometen gesehen? Ich bin sicher, es ist ein einzigartiges Erlebnis. Nur einmal alle 76 Jahre schießt er an der Erde vorbei und gibt uns so die Gelegenheit, uns für kurze Zeit wieder die unentdeckten Weiten des Weltalls in Erinnerung zu rufen.
Ein heller Silberstreif glitt elegant über den sternenklaren Nachthimmel. Da war er, das musste er einfach gewesen sein, so hell wie er strahlte! Glücksselig lächelte ich. Ich hatte ihn gesehen! Seit wir in der Schule einen Exkurs in Sternenkunde betrieben hatten, war ich von diesen dahinfliegenden Himmelskörpern beeindruckt. Sowohl bei Tag, als auch bei Nacht konnte ich an kaum mehr etwas anderes denken. Wieso hatte die Erde nur einen Mond, der Saturn dafür umso mehr? Gab es Leben auf dem Mars und wie sah das Universum wohl aus? Wie viele Gegenstände aus meiner Welt zogen dort oben verloren ihre Bahnen?
Gedankenverloren starrte ich in den Nachthimmel und vergaß beinahe alles um mich herum. Den kalten Asphalt, auf dem ich lag, die beinahe gespenstische Stille, die feuchten Kleider, die mir sicher in den nächsten Tagen eine Erkältung einbringen würden.
Die Gedanken kreisten in meinem Kopf und ließen mich schläfrig werden, mein Herz schlug zaghaft, ruhig und schließlich verstummte es.
Dumpfe Schläge, die den Boden unter ihm erzittern ließen. Das war es, das er als erstes zu spüren meinte. Im gleichmäßigen Takt zweier kurz aufeinanderfolgender Töne, die durch sein Gewebe, seine Haut, über den unebenen Untergrund bis weit in das Innere der Erde drangen, um dort in der Unendlichkeit zu verschwinden. Gebannt lauschte Leon seinem eigenen Herzschlag. Das vertraute Geräusch, dem er so selten Beachtung schenkte, ließ seine Gedanken träge werden. Die Augen geschlossen, strich er mit den Innenflächen seiner Hände forschend über den rauen Untergrund. Vorsichtig bohrten sich die Fingerkuppen hinein, der Boden gab nach, verhärtete sich soweit, dass er ohne Anstrengung nicht weiter in die Erde vordringen konnte. Feine Körner trieben sich unter seine Fingernägel und ließen die Finger schwer erscheinen. Langsam drehte Leon den Kopf zur Seite, bis er mit seiner Nase den Boden berührte und sog die Luft ein. Es roch nach Staub, schwer lag es in der Nase, die feinen Körner kitzelten unangenehm.
Eine Berührung an der Wade ließ ihn erschrocken nach Luft schnappen.
Hustend richtete er sich auf, erstarrte jedoch genau in dem Augenblick, als er die Augen aufschlug. Nur wenige Zentimeter neben ihm kniete ein merkwürdig anmutendes Wesen, das dennoch auf vertraute Art und Weise Ähnlichkeiten mit einem Menschen hatte. Ebenso erschrocken wie er selbst, hechtete es leichtfüßig über den nachgiebigen Wüstenboden, um wenige Meter entfernt in einer Lauerstellung zu verharren.
Leons Herz raste. Was war das für ein Tier? Es hatte die Beine eines Menschen, ja der ganze Körper glich dem eines menschlichen und auch das Gesicht, doch diese Haare, so etwas hatte er noch nie gesehen. Es schien, als flögen sie mit dem Wind, schwerelos und von unendlicher Länge.
Unvermittelt löste sich das Wesen aus seiner Erstarrung und trat vorsichtig näher. Leon rappelte sich auf ohne jedoch den Blick von ihm zu wenden. Erschrocken wich es erneut wenige Schritte zurück, blieb stehen und musterte ihn abschätzend.
In Leons Kopf herrschte Dunkelheit. Kein einziger Gedanke schien zu ihm durchdringen zu wollen. Ohnmächtig stand er da und wartete darauf, dass dieser Traum enden möge.
An seine Ohren drang ein leises, aber beharrliches Zischen. Es kam von diesem Wesen, das mit weit aufgerissenen Augen den Fremden musterte und mit seinen Händen suchend über das dünne Gewand strich, das seinen Körper bedeckte. Beim Anblick eines dünnen Gegenstandes, der im eisernen Griff fremder Hände gefangen war, stockte Leon der Atem. So unauffällig wie es ihm möglich war, schob er einen seiner Füße langsam zurück, doch er wusste selbst, dass er in diesem unüberwindbaren Dünenmeer keine Chance haben würde.
Mit einem Ruck riss er sich herum und rannte. Er schaute nicht zurück, vergewisserte sich nicht, ob von diesem Wesen nun tatsächlich eine Bedrohung ausging. Er wollte erwachen.
Er hörte es dicht hinter sich, doch er wagte nicht, sich umzudrehen. Was auch immer es war, Mensch oder irgendetwas anderes, es war ihm nicht freundlich gesinnt. Leons Blick richtete sich sehnsuchtsvoll in die Ferne. Sand, überall Sand und nirgendwo eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Der Horizont schien vor seinen Augen zu verschwimmen, die Luft flirrte durch abertausende Sandkörner. Für Leon war es ein erstes Zeichen für die Ermüdung seines Körpers. Doch er halluzinierte nicht. Wie eine herantosende Welle, näherte sich ihm der Horizont. Die Luft um ihn herum wurde staubig und die ersten Körner rieben sich in seine Augen. Es war ein Sandsturm, der ungehindert auf ihn zuraste. Leon rannte nicht mehr. Hilfesuchend blickte er sich um, auf der aussichtslosen Suche nach einem Unterschlupf. Auch das Wesen hatte wenige Schritte von ihm entfernt im Lauf innegehalten und beobachtete ihn. Es war eine Frau, auf ihren Lippen tanzte ein spöttisches Lächeln.
Als es begann, Sand zu regnen, rührte sie sich nicht. Ihr Blick war unverändert nur auf ihn gerichtet, als ob sie den aufkommenden Sturm nicht bemerken würde und tatsächlich, während Leon die Wucht der Welle am ganzen Leib spürte, begann der Wind sich vor diesem fremden Wesen zu zerteilen, um sich hinter ihm wieder zu schließen.
Die Luft wurde ihm dünn und er sank auf die Knie. Nur einen Moment darauf waren sie bereits nicht mehr zu sehen. Eine unendliche Flut schien sich über ihm zu ergießen und begrub ihn unter sich. Wild ruderte er mit Armen und Beinen, versuchte sich aus dem eisernen Klammergriff des Sandes zu befreien, doch es gelang ihm nicht.
Die Luft war aufgebraucht, die Lungen leer und die Bewusstlosigkeit übermannte ihn.
* * *
Das Essen mit ihrem Vater hatte sie aufgewühlt. Da trafen sie sich schon so selten und dann wurde doch wieder nur an ihrem Leben herumkritisiert. Wieso hast du nicht studiert? Die ganze Welt stand dir offen! Nein, stattdessen musstest du dich für die brotlose Zukunft einer Sängerin entscheiden. Unbekannt und das zu Recht.
Zornig malträtierte die junge Frau am Steuer ihres Wagens den Daumennagel ihrer rechten Hand, während sie mit der anderen den Wagen über eine vereinsamte Landstraße durch die sternenklare Nacht preschen ließ. Flucht, das war ihr schon immer ein zuverlässiger Begleiter gewesen, der bei jedem ihrer Treffen mit dem Familienoberhaupt gegenwärtig war. Sie konnte nicht einmal genau sagen, wessen Verhalten sie am meisten aufgebracht hatte. War es seines oder ihr eigenes, ihre naive Art, zu glauben, dass nach beinahe fünf Jahren Funkstille eine Art friedliches Beisammensein möglich wäre? Vermutlich eher letzteres.
Seufzend drückte sie sich in den Fahrersitz und verstärkte mit einem gewissen Maße an Zufriedenheit den Druck auf das Gaspedal. Mit Genugtuung beobachtete sie die Nadel des Geschwindigkeitsmessers, die sich konstant in Richtung 170 km/h bewegte.
Sie hatte schon immer eine Vorliebe für schnelle Autos. Zwar war nach ihrem derzeitigen Lebensstand ein solches Auto kaum erschwinglich, doch wozu hatte man Freunde, die sicher selbst aus einem Trabant einen babyblauen Ferrari zu zaubern vermochten.
Die beinahe unsichtbaren Serpentinen flogen unbemerkt an ihr vorüber. Jede Kurve war ihr vertraut, in Kindertagen war sie während der kalten Wintermonate oft mit ihrer Schwester die hohen Hügel hinaufgeklettert, um sich dann waghalsig wieder herunterzustürzen.
Auch heute noch schien die Straße nicht sonderlich gut befahren zu sein und so war es nicht verwunderlich, dass man es im Laufe der Jahre wohl auch nicht für nötig befunden hatte, diverse Ausbesserungen am Straßenbelag vorzunehmen.
Erschöpft blickte sie auf die kleine Digitalanzeige neben der Tachoanzeige. 02:37 Uhr. Bis nach Hause war es Gott sei Dank nicht mehr weit. Sie würde duschen, danach ins Bett gehen und am nächsten Morgen alles so weiterlaufen lassen, als wäre nichts geschehen. Als wäre ihr Vater nicht geschehen.
Ein plötzlicher Knall gefolgt von einem dunklen Schatten, der über die Windschutzscheibe ihres Auto polterte, ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Verunsichert blickte sie in den Rückspiegel, doch im schwachen Schein der Bremslichter war nichts zu erkennen.
Der Wagen kam zum stehen, doch sie rührte sich nicht.
Wenn sie nun ein Tier angefahren hatte, das durch seine Verletzungen rasend sie anfallen könnte? Ein Blick in ihr winziges Handtäschchen bestätigte ihre Befürchtungen. Sie hatte nichts dabei, das sich als Waffe eignete.
Tief durchatmend presste sie sich in ihren Sitz. Es wird schon nichts schlimmes sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen und griff eher weniger von sich überzeugt nach ihrem Mobiltelefon.
Zaghaft glitt ihre linke Hand über das kalte Metall, über das Autodach, die Heckscheibe hinunter über den Kofferraum. Der Weg schien ihr endlos zu sein, während sie sich mit dem schwachen Licht ihres Telefons bemühte, den Boden vor sich abzusuchen. Dunkler Asphalt starrte ihr hämisch entgegen. Ihr Herz klopfte. Sie wusste, mit jedem Schritt, den sie vorwärts tat, kam sie näher. Die Gewissheit, bald nicht nur den Straßenbelag, sondern etwas grausiges zu sehen, etwas, das sie verursacht hatte, machte ihr Angst.
Nur widerwillig löste sie ihre Hand von den verlöschten Bremslichtern. Zwei Schritte nur waren es noch, bis sie es sah. Zuerst Finger, fünf, die Hand unnatürlich verdreht. Der Handballen glänzte dunkel. Die Übelkeit stieg in ihr auf, doch sie zwang sich weiterzugehen. Spöttisch tanzte das Licht über den blutverschmierten Unterarm, gab Ellenbogen und Oberarm preis und schließlich den nur mit einem T-Shirt bekleideten Rumpf. Er sah an einigen Stellen eigenartig verformt, eingedrückt aus. Entsetzt wich die junge Frau zurück. Ihr Herz raste, in ihren Ohren rauschte es.
Ein verzweifeltes Wimmern stieg aus ihrer Kehle. Es war ein Mensch, den sie getötet hatte. Sie wollte sein Gesicht nicht sehen, es sich nicht einprägen, nur um in ihrem restlichen Leben von dessen Anblick heimgesucht zu werden, doch ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, ein Rasseln ließ sie Hoffnung schöpfen. Stück für Stück kroch der Schein über Hals und Kinn, verharrte kurze Zeit an der Mundpartie, um dann über die Nase hoch zu den Augen zu klettern. Sie waren geöffnet und starrten mit einer Mischung aus Sehnsucht und Faszination in den sternenklaren Nachthimmel. Er schien in einer vollkommen anderen Welt zu sein.
Sie schätzte ihn auf gerade einmal achtzehn Jahre alt. Die Gedanken kreisten in einem wilden Durcheinander in ihrem Kopf. Was nun? Stabile Seitenlage? Nachher würde sie ihn noch mehr verletzten. Wie ging das überhaupt noch mal. Der letzte Kurs war einfach zu lange her.
Wie in Trance drehte sie das Telefon in ihren Händen und wählte die Nummer des Notrufs. Die Dunkelheit legte sich wieder um den jungen, blutüberströmten Körper.
* * *
Der starke Aufprall seines Kopfes gegen einen Stein ließ Leon wieder zu sich kommen. Ein Gemisch aus Tränen und Sandkörnern verklebte ihm die Augen. Nur allmählich gelang es ihm, sie zu öffnen. An Armen und Beinen gefesselt, wurde er an den Fußgelenken in rasender Geschwindigkeit über den unebenen Wüstenboden geschleift.
Sogleich gefangen starrte er in den Himmel. Abermillionen von Sternen schienen auf ihn herunter zu blicken und in dessen Mitte strahlte der Mond. Leons Herz raste. So etwas hatte er noch nie gesehen. Der Mond war nicht bloß ein fingernagelgroßer Lichtpunkt am Himmelszelt, sondern so nahe, dass das spitz zulaufende Ende dieser hellen Sichel sich beinahe in den Wüstenboden hätte graben können.
Ein unsanfter Zusammenprall gegen etwas Hartes ließ Leon aufstöhnen. Die wilde Fahrt fand ein jähes Ende. Ungebremst prallten Leons Beine auf den Boden.
Nur wenige Zentimeter konnte er den Kopf heben, wollte sehen, wer ihn so unsanft fortbrachte. Es waren die Haare, oder, wie auch immer man es nennen mochte, die Leon als erstes erkannte.
Hilfesuchend wandte sich Leon in seinen Fesseln. Er wusste nicht, was es war und mehr noch, was es mit ihm vorhatte. Sicher würde es ihn töten, ihn vielleicht sogar essen. Leon wurde panisch. Er wollte schreien, es damit verschrecken, doch aus seinem trockenen Mund kam nur ein erbärmlich klingendes Flüstern.
Ruckartig wandte das Wesen sich zu ihm um. Sie war es, die ihn gejagt hatte. Nun hatte sie ihn gefangen.
Nur schwerlich konnte er sich zur Ruhe ermahnen. Er brauchte einen Plan, irgendetwas, womit er sich befreien konnte.
Mit bedächtigen Schritten näherte sie sich ihm bis sie auf Kopfhöhe zu ihm stehen blieb.
Ihr Körper war mit einem dünnen Stoff bedeckt. Um die Füße herum tiefrot, ging der Stoff je höher die Stelle war, die er bedeckte, in einen verblassten Goldton über.
Den Blick abschätzend auf ihn gerichtet, beugte sie sich über ihn. Ihre Augen waren von goldgelber Farbe, ihre Nase kerzengerade und ihre Lippen zu einem wütenden Ausdruck zusammengepresst. Ein leises Zischen drang heraus, wie das Flüstern einer Schlange.
Erschrocken versuchte Leon, sich tiefer in den Sand zu drücken. Angsterfüllt riss er an seinen Fesseln. Sie gaben nicht nach.
„Bitte, ich...“, murmelte er, doch sie beachtete ihn nicht.
In einer eleganten Bewegung ging sie in die Knie und griff nach einem Stein.
„Nein!“, stieß Leon mit immer noch geschwächter Stimme aus. Er versuchte sich aufzubäumen. Es gelang ihm nicht. Ausgeliefert und vollkommen regungslos lag er vor ihr, unfähig sich zu wehren.
Als der Stein seinem Kopf immer näher kam, wagte Leon kaum zu atmen. Er wartete, wartete auf den Aufprall, auf den Schmerz, doch er währte nicht lange. Ein dumpfer Schlag war es nur, kein Gefühl, das ihn bewegte, als es schwarz um ihn wurde.
Der Vollmond strahlte unbeirrt auf das Geschehen hinab. Seine Neugier hatte ihn dorthin getrieben und nicht enttäuscht.
Die Beine schützend an die Brust gezogen, den Körper kraftlos auf der Seite liegend, starrte Leon auf den harten Untergrund. Um ihn herum herrschte Totenstille. Gefangen in einem Gefängnis, das er nicht zu durchdringen vermochte. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, hatte er an den Säulen, einem engen Flechtwerk aus Wurzeln und Sand, gezerrt, doch es hatte nicht nachgegeben. Das sonst so brüchige Material war verhärtet und schien so fest wie Stein zu sein und je mehr Leon seine Kraft dagegensetzte, desto fester wurde es.
Unruhig wanderte er in seinem Kerker auf und ab auf der Suche nach etwas, das ihm helfen konnte. Doch er entdeckte nichts. Ein schwacher Lichtschein erfüllte nur spärlich die Umgebung um ihn herum und war gerade genug, um eine Höhle zu erkennen, dessen Ausgang in vollkommener Dunkelheit liegen musste. Dicht neben sich erkannte er die wuchtigen Wurzeln eines Baumes, wie sie sich aus den sandigen Höhlenwänden hinausdrückten, um dann wenig später wieder in ihnen zu versinken. Dazwischen jedoch hatte jemand ihnen einen anderen Sinn verliehen, als nur der Ursprung einer Pflanze zu sein. Zwischen Wand und Wurzel eingeklemmt hingen Krüge unterschiedlicher Marmorierungen und Gewebe, die bis auf den Boden hinab reichten. Er konnte nicht sagen, aus welchem Material sie waren. Neugierig hatte er den Arm durch das Gitter hindurchgezwängt und versucht, sie zu erreichen, doch als es nur noch wenige Zentimeter sein mussten, zog er erschrocken seine Hand zurück. Als hätten die Stoffe die Anwesenheit dieses Fremden verspürt, hatten sie nach ihm geschlagen und auf dessen Haut blutige Striemen hinterlassen.
Verstört blickte Leon auf seine Hand. Sie glänzte ihm schwachen Schein und neben dem abflauenden Schmerz meinte er leichte Flüssigkeit zu spüren. Die Hand vorsichtig an seine Lippen führend, strich er mit seiner Zunge vorsichtig über das gerötete Fleisch. Es schmeckte salzig, was wohl von ihm selbst ausging, und eigenartig belebend. Es musste Wasser sein, Wasser, das lebte.
Das Aneinanderknirschen von Sandkörnern ließ Leon aufschrecken. Suchend durchbohrte er die Dunkelheit, doch die Bewegung kam aus einer anderen Richtung. Näher kam sie in bedächtiger Geschwindigkeit und wankte leicht von links nach richts – die Lichtquelle, derer er den Umstand verdankte, sich zumindest ein wenig in seiner Umgebung zurecht zu finden. Als sie näher kam, war es, als hätten seine Augen ihn die ganze Zeit über getäuscht, denn es war nicht ein Lichtpunkt, der sich ihm näherte, sondern zwei. Leon stockte der Atem, als die Punkte plötzlich in ihrer Bewegung verharrten. Es waren die Augen eines Menschen, der ihn die ganze Zeit über starr beobachtet hatte.
Schweigend standen sie einander gegenüber und während der Fremde ihn eingehend musterte, konnte Leon von dessen Augen geblendet kaum etwas erkennen. Sein Gegenüber legte den Kopf schief und ließ den Blick wandern. Erst nun erkannte Leon das vollständige Ausmaß dieser Höhle. Sie war gigantisch. An den Wänden türmten sich Gefäße, von der Decke hing schimmernde Gegenstände, getrocknete Pflanzen und etwas, das aussah wie unzählige Stoffbahnen aus unterschiedlichen Materialien. Unvermittelt erstarben die Lichtpunkte und die Dunkelheit legte sich auf die Schätze dieses Raums.
Leons Herz klopfte so laut, dass es jedes Geräusch um ihn herum übertönte. Er war sich sicher, dass er noch immer beobachtet wurde, doch er hörte nichts. Angestrengt versuchte er zu lauschen und seinen Atem zu unterdrücken, doch die Stille blieb.
Ein lautes Scheppern, das von einem zerbrochenen Krug herrührte, ließ in zusammenfahren. Erschrocken riss Leon die Augen auf, sein Puls schnellte nach oben. Die Angst, er könnte jeden Moment von diesem Wesen angefallen werden, nahm zunehmend von ihm Besitz.
Doch es geschah nichts weiter. Nach dieser kurzen Schrecksekunde kehrte wieder vollkommene Stille in die Höhle zurück. Leon presste die Hand auf seinen Mund, doch er war zu panisch, um das Atem zurückzuhalten. War dort ein Geräusch gewesen? Leons Kopf schnellte nach links. Er sah nichts. Einbildung? Die Gedanken in seinem Kopf waren wirr, kalter Schweiß bahnte sich einen Weg über seinen Nasenrücken bis hinunter zu seinen Lippen. Er hinterließ einen salzigen Geschmack, der in Leon Übelkeit aufsteigen ließ. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, sich auf der Stelle zu erbrechen. Kraftlos sackte Leon in sich zusammen und es schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der er allmählich daran glaubte, doch allein zu sein. Seine Glieder entspannten sich und sein Atem ging ruhiger, als plötzlich eine Hand aus der Dunkelheit nach einem seiner Füße griff und dessen Fußgelenk eisern umschlang. Panisch schrie Leon auf und versuchte sich durch heftiges Treten zu befreien, doch bereits im nächsten Augenblick spürte er, wie ihm ein spitzer Gegenstand in seine Haut getrieben wurde. Leons Aufschrei wandelte sich in einen Schmerzensschrei. Er trat um sich, wollte sich aufbäumen und nach seinem Gegner greifen, doch der Kampf war ebenso unvermittelt beendet, wie er ausgebrochen war. Leon schnaufte und starrte in die Richtung, in der er seinen Angreifer vermutete, während er mit seinen Händen vorsichtig sein Bein abtastete. Aus seiner Wade ragte ein unförmiger, scharfkantiger Gegenstand heraus und um die Wunde herum spürte er etwas feuchtes, das zwischen seinen Fingern klebte. Blut.
„Was bist du?“, stieß Leon wütend hervor. „Was willst du von mir?“
Ein leises Schmatzen war die einzige Antwort, die er bekommen sollte.
Plötzlich wurde ihre Zweisamkeit von einem lauter werdenden Zischen gestört, das aufgrund seiner mal zunehmenden und mal leiser werdenden Lautstärke beinahe melodisch klang. Mit ihm kehrte Licht in die Höhle zurück. Hektische Schritte bedeuteten Leon, dass sein Angreifer vertrieben worden war und es überkam ihn eine kleine Welle der Erleichterung.
Gegenüber der viel zu lange währenden Stille kamen ihm die Schritte dieses anderen Wesens laut vor, doch je näher der kleine Lichtschein ihm kam, desto leiser wurde das Zischen, desto vorsichtiger die Schritte. Es war ein Kind, das ihn mit großen Augen eingeschüchtert musterte. Der schwebenden Lichtball in dessen Hand, der aussah, wie eine Miniatur des Mondes, zitterte leicht. Die Brust des Kindes hob und senkte sich schnell. Es musste ebenso angsterfüllt sein, wie er es zuvor gewesen war.
Texte: Dieses Buch ist vom ersten bis zum letzten Zeichen aus meiner eigenen Feder entstanden.
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2012
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