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Der Puppenhändler




„Guten Abend, gute Nacht,
mit Rosen bedacht
mit Näglein besteckt
Schlupf unter die Deck
Morgen früh, wenn Gott will
Wirst du wieder geweckt
Morgen früh, wenn Gott will
Wirst du wieder geweckt.“

Das zarte Stimmchen zu einem letzten andauernden Ton erhoben, verhallte das Schlaflied
zuletzt in stiller Träumerei. Die spröden Lippen des Kindes zu einem seligen
Lächeln verzogen, zwirbelte es liebevoll die goldschimmernden Locken der Puppe zwischen
seinen rauen Fingerkuppen und drückte einen verhaltenen Kuss auf das kalte Porzellan.
Hastig kletterte das Mädchen aus der engen Bettnische und tappte barfuss über den frisch
gewachsten Dielenboden.
Das Nachthemd hing wie ein formloser Sack an ihr herunter und betonte nur umso mehr ihre ausgemergelte Gestalt. Das spärliche Licht einer Öllampe warf tiefe Schatten in ihr Gesicht.
In schlafwandlerischer Sicherheit durchquerte sie den Raum, ehe eine mannshohe Holztür ihr den Weg versperrte. Zaghaft schlug sie, die dünnen Finger zur Faust geballt, ihre weiß hervorgetreten Knöchel gegen das massive Holz, so wie sie es jeden Tag neu verabredeten. Doch im Inneren des Raumes rührte sich nichts und so klopfte sie zunehmend fordernder.
„Papa,“ rief sie mit lauter Stimme, „ich bin fertig.“
Kurz darauf vernahm sie schlurfende Schritte und ein schweres, metallenes Klicken. Mit argwöhnisch aufgesetzter Miene und zusammengekniffenen Augen lugte Djascha durch den sich auftuenden Türspalt.
„Hast du denn schon alle deine Puppen ins Bett gebracht?“
Eifrig nickte das Kind. „Ja, alle. Pippa wollte aber nicht gleich schlafen. Ihr musste ich sogar zweimal vorsingen.“
Nun trat Djascha ganz aus der Tür und zog sie sogleich hinter sich ins Schloss.
„Das hat sie bestimmt nur getan, weil sie deine Stimme so gerne hört.“ Lächelnd hob er sie hoch und strich seiner Tochter durch das zerzauste dunkle Haar. Sogleich schlang Mina die dünnen Ärmchen um seinen Hals und flüsterte dicht an seinem Ohr: „Erzählst du mir heute eine Geschichte?“
„Ach Mina“, Djascha legte die Stirn in Falten und konnte nicht umhin, dabei leicht verärgert zu wirken, „du weißt doch, dass ich arbeiten muss.“
Traurig zuckte diese mit den Schultern und wandte den Kopf ab.
„Ein anderes Mal bestimmt.“, versuchte ihr Vater sie zu trösten und stellte sie wieder auf den Boden. „Nun aber schnell ins Bett, sonst wachen deine Puppen noch auf und merken, dass du fort bist.“
„Ja, gut. Gute Nacht.“ Mina ließ den Kopf hängen und trottete davon.
Djascha schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie war ihm mit ihren sieben Jahren bereits so ähnlich. Ihre ganze Leidenschaft galt den Puppen, die sie liebevoll aufzuziehen versuchte, fast so, als seien sie lebendig und Djascha hoffte inständig, dass sie diese Hingabe niemals verlieren würde, denn nur davon lebten sie.

Sachte drückte er die Klinke herunter und betrat den mit unzähligen Öllampen vollständig ausgeleuchteten Raum. Er besaß keine Fenster und das war auch gut so, denn für das, was er hier trieb, hätte man ihn ohne weiteres der Gotteslästerung und Hexerei bezichtigen können.

Djascha verdrängte den Gedanken an eine mögliche Entdeckung und der daraus folgenden Bestrafungen. Er hatte sich mit ganzem Herzen dieser Arbeit verschrieben und solange es Menschen geben würde, die ihn für diese Tätigkeit entlohnten, sah er keinen triftigen Grund, dies zu beenden.
Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich auf einem niedrigen Schemel nieder und beugte sich mit prüfendem Blick über einen ovalen Gegenstand, der an einigen Ecken leichte Unebenheiten aufwies und so ein Herunterrollen von der Werkbank verhinderte. Es war ein lebensgroßer Puppenkopf aus Porzellan.
Andächtig strich Djascha über die markanten Gesichtszüge des Mannes. Er hatte ihn nach bestem Ermessen der Beschreibung seiner Kundin nach geformt. Der Ansatz hoher Wangenknochen verlieh ihm den Eindruck einer strengen und disziplinierten Persönlichkeit, was noch durch ein vorstehendes Kinn unterstützt wurde. Die Nase glich der einer griechischen bis ins kleinste Detail, die Lippen waren schmal und leicht geöffnet. Doch trotz all dieser markanten Gesichtszüge war es dennoch nur eine hohle Form ohne Farbe und Leben. Und es war Djaschas Aufgabe, dies zu ändern.
Ohne den Blick von diesem Abbild zu wenden, zog Djascha zielsicher einzelne Töpfchen und Platten aus Porzellan zu sich heran.
Wie in Trance tauchte er einen Pinsel in ein Gefäß mit roter Farbe und zog mit spielerischer Leichtigkeit die Konturen der Lippen nach. Die glatte Oberfläche sanft liebkosend, drückten sich die schwarzen Borsten gegen das kalte Gesicht und hinterließen an dieser Stelle einen blassen, rosigen Schimmer.
Immer wieder tauchte Djascha den Pinsel in das Gefäß noch warmen Blutes und bemalte damit die Figur in seinen Händen.
Kaum hatten die Lippen einen satten rosigen Ton angenommen, schob er das Gefäß beiseite und ein anderes zu sich heran. Ein Gesicht war nichts ohne sein Herzstück, die Augen. Und mit diesem Gedanken und einem vorfreudigen Lächeln auf dem Gesicht, machte er sich daran, die weißen elliptischen Einkerbungen in den unterschiedlichsten Blautönen zu bemalen. Er war ein Künstler und es fiel ihm leicht, jedweden Charakterzug in den Augen seiner Figuren wiederspiegeln zu lassen. Ob Hochmut oder Güte, Verletzlichkeit oder Stärke, die Augen würden es zeigen – und dieser Mann, dessen Schädel hier auf seiner Werkbank ruhte, würde an Hochmut kaum zu übertreffen sein, ebenso wie die Frau, die ihm vor wenigen Tagen den Auftrag unter Versprechung eines verheißungsvollen Obolus erteilt hatte.

In vollkommener Stille verrichtete er seine Arbeit meist bis tief in die Nacht, denn dies war die Zeit, die er am meisten schätzte. Er liebte die Abgeschlossenheit und Sicherheit, die ihm dieser Raum mit all seinen künstlerischen Fähigkeiten jede Nacht zu geben bereit war.
Mit ruhigen Fingern führte er die Pinzette, die ein hauchdünnes, beinahe durchsichtiges Häutchen trug. Bedächtig führte er sie näher an eines der Augen heran und zupfte solange an der Lage des Häutchens, bis es vollkommen über der bläulich-schimmernden Iris seine vorgesehene Position einnahm. Das Wissen über die Herkunft seiner Materialien erschreckte Djascha nicht. Zu lange schon arbeitete er mit ihnen, als dass es ihn gestört hätte, welchen Umständen er das Blut oder die Augennetzhäute eines Menschen zu verdanken hatte. Sein langjähriger Bekannter Arval, ein venezianischer Händler mit eher zweifelhaftem Ruf, belieferte ihn beinahe täglich mit Porzellanerde, Holz und Quarz, aber auch mit Echthaar, Wimpern, Fingernägeln und der wohl wichtigsten Eszenz: Seelen.

Mit schmerzendem Rücken erhob er sich. Das viele Sitzen schien ihm jeden Tag mehr zu schaffen zu machen. In leicht gebückter Haltung trat er an ein Regal aus alter Eiche, das überwiegend die Materialien beherbergte, die er für die Anfertigung gewöhnlicher Puppen benötigte und in vielerlei Hinsicht einem Archiv sehr ähnelte. Zielgerichtet steuerte er auf ein unscheinbares Gefäß zu, das seinen angestammten Platz zwischen Kalkpulver und Kohlestiften hatte.
Es war ein rußverschmierter Glaskolben, der mit einem Stück Kork fest verschlossen war.
Je näher Djascha ihm kam, desto mehr schlich sich ein Geräusch in die vertraute Stille. Es war ein leises Wispern, kaum zu verstehen und doch sagte es alles. Eine noch. Nur noch eine Seele beherbergte dieses Glas. Nur eine Stimme, die sich immer lauter erhob. „Soviel Geld, soviel Geld. Alles meins.“
Was sie sprachen, interessierte Djascha kaum. Alle sprachen sie über die weltlichen Besitztümer, die sie mehr oder weniger rechtens in ihrem Leben erlangt hatten.
Die Seelen, so hatte er einmal in einem Gespräch mit Arval erfahren, bezog der Händler überwiegend von Wegelagerern und Dieben, die er durch Mittelsmänner hatte umbringen lassen. Arval selbst wäre zu solch einer Tat wohl auch nicht fähig, nicht aufgrund seiner unerschütterlichen Nächstenliebe, sondern eher seines Körperbaus wegen. So gelang es ihm nicht einmal, seinen eigenen massigen Körper auf einer kleinen Gondel durch die Kanäle Venedigs zu manövrieren.
Die Seele eines Taschendiebes im Körper eines feinen Herren aus dem Adel, welche Ironie und Djascha konnte nicht umhin, sich ob dieser Vorstellung zu belustigen.
Mit einem letzten, zufriedenen Blick auf sein neuestes Werk, löschte er das Licht. Der Tag würde bald anbrechen und der Händler sicher wieder zu früher Stunde auf seiner Türschwelle stehen.


Der Morgen nahte und die ersten Gondolieri ließen mit gekonnten Handgriffen ihre meterlangen Boote über die Wasserstraßen Venedigs gleiten.
Wartend lehnte Djascha im Türrahmen seiner Werkstatt und starrte hinaus auf den Kanal, der zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich viel Wasser zu führen schien.
„Der Händler kommt heut nicht“, hörte er die alte Schneiderin von der anderen Kanalseite zu ihm herüberschreien. „Überhaupt kommt er nicht mehr. Die haben ihn gestern kopfüber schwimmend im Kanal gefunden. Da ist er wohl ersoffen. Da soll mal wieder einer sagen, Fett schwimmt.“ Mit einem verächtlichen Lachen drehte sie sich um und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Wie vom Donner gerührt verharrte Djascha in seiner Position, ob aus Entsetzen oder Unglaube, vermochte er später nicht mehr zu sagen. Doch die Alte sollte recht behalten. Wann immer auch eine Gondel an Djaschas Haus vorüberfuhr, konnte er darauf keinen dicklichen Venezianer in schildernden Gewändern ausmachen, der seinen Fährfahrer zur Eile trieb. Der Vormittag verging, an dem Djascha seine Nervosität durch das Herstellen kleiner Porzellanfigürchen zu vertreiben versuchte und als am Nachmittag eine Gondel an seinem Haus anlegte, war es nicht wie erhofft der Händler, sondern die hochmütige Kundin, die wegen der mannshohen Puppe gekommen war. Schweren Herzens ließ Djascha sie in seine Werkstatt ein, um ihr das Werk zu präsentieren. Neugierig begutachtete sie ihr unbekannte Tinkturen und Gerätschaften, wagte jedoch nicht, Fragen zu stellen. Er war ihr unheimlich und wäre es der Sache dienlich gewesen, sie wäre sogleich auf ihre Gondel zurückgehastet und nie zurückgekehrt.
„Ich habe ihn so geformt, wie ich es aus euren Beschreibungen entnommen habe.“, sprach Djascha förmlich und bot ihr einen Blick auf einen Mann aus Porzellan mit durchschnittlicher Körpergröße. Alles an ihm war gewöhnlich. Die Hände waren aus dem selben Guss, wie die Puppen, die er zuvor gefertigt hatte, ebenso die Arme, Beine und der Rumpf. Nur der Kopf war bei jeder seiner Puppen individuell.
„Das Kinn ist zu spitz“, bemerkte sie mit kritischem Blick, „dafür werde ich ihnen wohl etwas von ihrer Entlohnung abziehen müssen. Aber ansonsten wird es schon gehen.“ Tatsächlich gefiel ihr das Ergebnis. Djascha wusste das. Die Reichen feilschten am meisten.

„Ich möchte Sie bitten, mich nun für einen Augenblick zu entschuldigen.“
Die Art wie er dies sagte, ließ der Dame sogleich jegliche Farbe aus dem Gesicht weichen. Hexerei war im Spiel, soviel wurde ihr bereits von Verwandten zugetragen, auch von Dämonen, die all jene, die sie beobachteten, in den Wahnsinn trieben, war die Rede und so war es nicht verwunderlich, dass sie Djaschas Bitte ohne den geringsten Widerstand nachkam.

Seufzend schloss Djascha die Tür hinter ihr und lehnte noch einen Moment länger haltsuchend daran. Seine letzte Seele würde er hergeben müssen, doch woher sollte er neue beschaffen, nun, wo Arval nicht mehr war?
Resignierend schüttelte er den Kopf und hob den verrußten Glaskolben zwischen den Regalbrettern heraus. „Soviel Geld, soviel Geld. Alles meins.“, begann die Stimme im Inneren des Kolbens zu flüstern.
Ja doch, ja, dachte Djascha und machte sich hektisch daran, den festen Verschluss aus seiner Verankerung zu lösen. Mit einem dumpfen Geräusch entging der Korken seinem gläsernen Gefängnis und ließ die Stimme nun noch lauter erscheinen. „Alles meins. Alles meins.“, trieb sie Djascha weiterhin ungeduldig zur Eile an.
Der Klang dieser tonlosen, kalten Stimme jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Immer schneller sprach sie, immer lauter und fordernder. Er erinnerte sich noch sehr gut, wie er sich bei der Herstellung der ersten Puppe gefürchtet hatte, ganz Venedig würde unter dem dröhnenden Geschrei der Seele aus dem Schlaf schrecken. Doch als die ganze Nacht über niemand an seine Tür gehämmert und selbst Mina weiterhin selig zwischen ihren Puppen geschlummerte hatte, wurde ihm bewusst, dass all dies nicht die Wirklichkeit gewesen sein konnte.
Und diese Erkenntnis galt es, sich in solchen Momenten in Erinnerung zu rufen, um nicht dem Wahnsinn zu erliegen.
Mit hastigen Schritten schlurfte er zu der Puppe herüber und legte seine linke Hand auf deren Hinterkopf. Vorsichtig, aus Angst, es könne etwas der Farbe oder gar des Porzellans abplatzen, drückte er mit der rechten den dünnen Flaschenhals des Glaskolbens gegen die leicht geöffneten Lippen der Puppe. Die Augen, so empfand es Djascha, waren das schönste Element seiner Werke, diese unscheinbar wirkende Öffnung jedoch war die unabdingbare Voraussetzung dafür, aus einem Haufen Porzellan einen Menschen zu machen.
„Soviel Geld!“ schrie die Seele, während sie im Inneren den Flaschenhals erklomm und auf den Lippen der Puppe plötzlich in ihrer Bewegung verharrte. Mystisch spiegelte sich der silbern schimmernde Nebel in der blutigen Farbe, doch war es, als würde sie das hohle Gefängnis aus Porzellan nicht freiwillig betreten wollen.
Djascha seufzte. Es kam ihm wie ein Zeichen vor, dass die Seele auch ihn nicht verlassen wollte, doch so war es nicht. Sie spürte lediglich, dass dies nicht ihr eigentlicher Körper war.
Eilig stellte er den Glaskolben beiseite und näherte sich dem Puppengesicht bis auf wenige Zentimeter. Tief nahm er einen Atemzug und presste schließlich seine geöffneten Lippen auf den blutigen Mund der Puppe. Die Seele war kalt und unschlüssig, in welchen der beiden Körper sie nun fahren sollte, doch Djascha handelte schnell und ließ ihr keine Wahl. Alle Luft, die sich in seinen Lungen angesammelt hatte, blies er, die Seele mit sich tragend, in einem großen Schwall in den Rachen der Puppe. Erst als Djascha spürte, wie die Kälte verging und an ihre Stelle eine wohlige, pulsierende Wärme in die toten Lippen fuhr, löste er die seinen und konnte beobachten, wie ausgehend von dem Ort, an dem die Seele eingetreten war, das Porzellan zuerst rissig wurde und schließlich mit leichtem Knirschen zersprang. Haltlos fielen die Scherben zu Boden und gaben nach und nach das blasse, an einigen Stellen gerötete und faltenversehene Gesicht eines Mannes preis, der ihn mit Verwunderung und Entsetzen gleichermaßen anstarrte. Er wollte in seinem Mund Worte formen, sich mitteilen, doch es gelang ihm nicht. Seine Zunge fühlte sich an, wie ein tauber, sperriger Gegenstand. Kaum hatte die Wärme von seinem Kopf über seinen Rumpf auch seine Arme und Beine ergriffen, torkelte er benommen und wurde nur mühsam von seinem Schöpfer gestützt, der ihm unter größter Anstrengung versuchte, einen alten Kittel über den nackten Leib zu stülpen.
„Ganz ruhig“, versuchte Djascha den Mann in seinen Armen zu besänftigen und schob ihn ächzend zur Tür.
„Helft mir, schnell“, stöhnte Djascha, als er die Tür mit einem flüchtigen Fußtritt zum Aufschwingen gebracht hatte. Sogleich hastete die Kundin aus dem Haus und kehrte kurz darauf mit zwei Männern zurück, die vermutlich ihre Gondolieri waren, und zu Djaschas Erleichterung den schlaffen Körper sogleich ergriffen und aus dem Haus trugen.
„Was ist mit ihm?“, vernahm er die forsche Stimme der Kundin, die schon glaubte, betrogen worden zu sein.
„Nichts. Alles wie immer.“, stieß Djascha mühsam hervor und lehnte sich dabei haltsuchend an den Türrahmen. „Es wird einige Tage dauern, bis er - sprechen - und auch einige Monate, - bis er gehen - kann. Er muss zuerst die Kontrolle ...“. „Ja ja, schon gut“, unterbrach sie ihn, die das Gestöhne nicht länger erdulden wollte. „Hier ist dein Lohn. Wie besprochen, habe ich einen kleinen Teil der verabredeten Summe abgezogen. Ihr wisst, warum.“ Sie deutete auf ihre Nase und warf ihm dann einen kleinen, prall gefüllten Lederbeutel vor die Füße. Ohne eine Erwiderung von Seiten Djaschas abzuwarten, drehte sie sich um und verließ eilig das Haus.
Langsam bückte er sich nach dem Säckchen und wog es prüfend in seinen Händen. Es war ihm egal, warum die Menschen ihm derartige Aufträge erteilten. Das Wichtigste war, dass sie zahlten – und sie zahlten gut.
Freude über den neuen Geldsegen wollte sich bei Djascha allerdings nicht einstellen. Sie war weg. Seine letzte Seele. Soeben gondelte sie über das Wasser davon und ließ ihn, nun nur mehr ein gewöhnlicher Puppenmacher, zurück.
Gedankenverloren nestelte Djascha an der dünnen Kordel, die den Beutel notdürftig verschloss. Von einfachen Puppen konnten er und Mina nicht leben, denn die erwarb ein Wohlhabender nicht im einfachen Arbeiterviertel von Venedig, sondern eher in den großen Manufakturen dieser Welt. Es musste ihm gelingen, an Seelen zu gelangen und wenn er keinen Händler ausfindig machen konnte, der ihm diese beschaffte, so musste er sie wohl selbst fangen.

Unschlüssig lungerte Djascha mit schmerzendem Rücken an einer Häuserfassade und hoffte, mit dem Schatten der Nacht verschmolzen zu sein. Den ganzen restlichen Tag über hatte er sich in seiner Werkstatt eingeschlossen und über sein Vorhaben nachgedacht, doch er sah keinen anderen Weg. Er wagte nicht, sich irgendwelchen wildfremden Händlern anzuvertrauen und sein Geheimnis zu offenbaren. Zu groß war die Gefahr, dass jener ihn in Angst verraten könnte.
Vorsichtig löste er sich aus seiner Erstarrung und reckte den Kopf, sodass er ohne Weiteres durch das über ihm liegende Fenster lugen konnte. Im Zimmer brannte kein Licht. Das Haus lag da in völliger Stille, das Fenster weit geöffnet. Die Alte war schon immer leichtsinnig gewesen. Es würde Djascha nicht wundern, wenn auch ihre Haustür die ganze Nacht über unverschlossen war. „Bei mir gibt’s nüscht zu klaun“, hatte sie immer inbrünstig geschrieen, doch da irrte sie sich.
So leise, wie es ihm möglich war, schob er seinen Körper über das brusthohe Fensterbrett hinein ins Zimmer. Der gläserne Kolben schlug lautlos gegen seinen Gürtel, das kalte Metall der Messerklinge drückte sich in vorfreudiger Erwartung an seine Haut. Er schauderte und, kaum hatte er sicheren Halt auf dem Zimmerboden gefunden, zog er es hastig zwischen seinen Kleidern heraus. Es war ein Werkzeug, das er schon so oft für die Herstellung seiner Puppen verwendet hatte. Er wusste es zu führen. Doch in diesem Augenblick schien es ihm, als hätte er es noch niemals in der Hand gehalten.
Ein leises Rascheln ließ Djascha zusammenschrecken. Nur wenige Schritte von ihm entfernt, lag die alte Schneiderin schlafend auf der Seite, die Arme schützend vor der Brust verschränkt, fast so als wüsste sie von ihrem nächtlichen Besucher und dessen Vorhaben.
Vorsichtig trat Djascha auf Zehenspitzen an das massive Bettgestell heran und betrachtete sie.
Es fiel ihm schwer, seine Augen vor dem, was kurz bevor stand, nicht zu verschließen. Er musste wachsam sein, er musste den Anblick ertragen, damit ihm der richtige Moment nicht entging. Eine offene Wunde, soviel hatte Arval ihm erzählt, war unabdingbar, um eine Seele aus ihrem Körper zu entlassen.
Das Schnitzermesser fest in seiner Hand verschlossen, spürte er den Schweiß, der sich vor Nervosität in seiner Handinnenfläche gebildet hatte.
Lauernd beobachtete er das gleichmäßige Senken ihrer Brust. Ein und aus atmete sie, schnalzte im Schlaf mit der Zunge und knirschte kurz mit den Zähnen, doch stets atmete sie dabei im immer währenden Rhythmus.
Plötzlich drehte sich die Alte auf den Rücken, die Arme weit von sich gestreckt.
Nun stoß zu!, trieb Djascha sich in Gedanken an. Sie wird es kaum spüren.
Und bereits im nächsten Moment warf sich der nächtliche Besucher, das Messer auf Brusthöhe voraus, auf die schlafende Frau. Das Geräusch, als das kalte Metall die dünne Stoffschicht des Nachthemdes durchstieß und tief in die pergamentfarbene Haut der alten Schneiderin eindrang, ging Djascha bis ins Mark, doch noch weit schlimmer, war der Schrei, den das Opfer in dieser Situation noch auszustoßen vermochte. Die Augen weit aufgerissen, sodass die Augäpfel leicht hervortraten, starrte sie ihm mitten ins Gesicht, den Mund dabei zu einem schmerzerfüllten, hysterischen Kreischen verzogen. Er musste ihr Herz um wenige Zentimeter verfehlt haben und während die Schneiderin noch immer aus Leibeskräften brüllte und unter Schmerzen versuchte, sich vor ihrem Mörder in Sicherheit zu bringen, fasste dieser den für ihn einzig logischen Entschluss. In blinder Verzweiflung und Angst vor Entdeckung hieb er immer wieder aufs neue auf sein Opfer ein, angetrieben von dem sehnsüchtigen Wunsch nach der altvertrauten Stille. Und sie kam. Erst war es noch ein schwaches Gurgeln und Zischen, dann jedoch kehrte Ruhe ein.
Schweratmend richtete Djascha sich auf und wartete darauf, dass auch die letzten Lebensgeister diesen Körper verließen, auf dass er sie einfangen konnte.
Wie gebannt blickte er, den Glaskolben aus seinem Gürtel ziehend, auf den blutdurchtränkten, vollkommen entstellten Oberkörper der toten Schneiderin, als plötzlich eine kleine silberne Nebelschwade aus einem der Wunden hervortrat. Hastig stülpte Djascha den engen Flaschenkopf über einen Teil der Wunde und wartete.
„Kleider, schöne Kleider. Kauft!“ , vernahm er das leise Flüstern und löste vorsichtig die Öffnung von der nackten Haut. Mit zittrigen Händen presste er das kleine Stückchen Kork darauf und lauschte noch für wenige Minuten der neuen Seele.
Mit einem letzten forschenden Blick richtete Djascha sich auf. Er wollte nur ihre Seele haben, Haare und Fingernägel waren sicher bei jemand anderem in besserer Qualität zu bekommen.

Die Tage vergingen und Djascha hatte bereits neue Aufträge erhalten. Beinahe jede Nacht begab er sich auf die Jagd und glitt wie ein Phantom über die Wasserstraßen Venedigs. Schon bald fürchteten die Menschen nicht nur die auftretende Cholera, die in rasender Geschwindigkeit die ganze Stadt zu befallen drohte.

An einem dieser Nächte arbeitete Djascha wieder an der Fertigstellung einer seiner Puppen. Die Wimpern waren schon befestigt, die Haare in sorgfältiger Detailarbeit am Schädel angebracht und die Augen strahlten in ihrem individuellen Glanz, als ein leises, schleifendes Geräusch von der Tür zu ihm herüberdrang. Erschrocken griff er nach einem Messer, bereit, den Dieb zu stellen, der sich des nachts in seinen Laden wagte. Mit entschlossenem Griff riss er die Tür auf und – erstarrte.
Vor seinen Füßen lag seine siebenjährige Tochter und rührte sich nicht.
„Mina!“, stieß Djascha entsetzt aus und ging neben ihr in die Knie, doch sie zeigte weiterhin keine Regung. Panisch zog er sie auf seinen Schoß und schüttelte sie, doch ihr Kopf fiel leblos hin und her, ihre Arme hingen schlaff am Körper herunter, wie die einer Puppe. „Was ist mit dir? Wach doch auf!“, rief Djascha immer wieder und konnte nicht aufhören, am Körper seiner Tochter zu zerren.

Cholera – so lautete die Diagnose des hiesigen Medicus.
„Eingefallene Wangenknochen, Untertemperatur, Bewusstlosigkeit. Die Krankheit vollzieht sich schleppend. Nun hat sie ihren Höhepunkt erreicht. Haben Sie denn die Anzeichen nicht bemerkt?“, hatte der Arzt Djascha mit vorwurfsvoller Miene befragt. Nein, hatte er nicht. Sie war doch schon immer sehr dünn gewesen, doch Djascha kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er sich in den letzten Wochen kaum um Minas Wohlergehen gesorgt hatte. Zu groß war die Last auf seinen Schultern, die er sich selbst jeden Tag und jede Nacht aufgebürdet hatte. Zu sehr war er vernarrt in die Idee, Puppen in Menschen zu verwandeln, dass er nicht sah, wie der einzig wahre Mensch in seinem Leben ihm immer mehr entglitt.

Er wollte beten, doch hätte Gott ihn überhaupt erhört? Ihn, der sich mit ihm jahrelang auf eine Stufe gestellt und letztendlich sogar die göttliche Schöpfung selbst vernichtet hatte? Diese Strafe sollte nicht Mina treffen. Djascha war überzeugt, dass sie ihm galt, doch er wollte es nicht hinnehmen. Nur noch einmal wollte er sich mit Gott messen, nur noch einmal eine Puppe zum Leben erwecken.

Mit tränenverschleiertem Blick starrte Djascha auf den leblos wirkenden Körper seines Kindes herunter. Die flache Brust hob und senkte sich kaum. Hätte Djascha es nicht besser gewusst, er hätte geglaubt, sie sei tot.
„Du wirst leben, mein kleiner Schatz, in einem neuen, gesunden Körper.“, versprach er ihr und zog entschlossen ein kleines Messer aus seiner Gürteltasche. Wie ein Damoklesschwert schwebte es über der Brust des kleinen Mädchens. In Djaschas Gedanken schoben sich die Erinnerungen. Er hörte das wilde Kreischen der Schneiderin, sah das blutdurchtränkte Laken und die tiefen, fleischigen Wunden. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Diesmal musste es schnell gehen. Sie durfte nicht leiden.
Und bevor ihn erneut Zweifel über sein Vorhaben überkamen, stieß er zu. Er wollte seine Augen verschließen, seine Ohren, doch es gelang ihm nicht. Es war nur ein leises Gurgeln, nicht mehr, doch es brach Djascha das Herz.
Hastig verschloss er die Seele seines Kindes in dem Glaskolben und bedeckte Minas Körper mit einer dünnen Wolldecke. Er konnte ihren Anblick, in dem blutverschmierten, dünnen Nachthemdchen nicht länger ertragen.
Eilig stellte Djascha den Glaskolben zurück an seinen angestammten Platz und machte sich an die Arbeit. Er formte und schnitze, malte und schliff, doch nichts war so, wie es sein sollte. Die Nase viel zu spitz, die Augen so kalt, die Lippen zu schmal und das Haar zu dünn. Dies war nicht seine Tochter, nicht einmal annähernd! Tagelang hatte er gearbeitet ohne Schlaf und ohne Essen, doch er hatte versagt.
In blinder Verzweiflung ergriff er einen der zierlichen Porzellanfüße und schmetterte ihn mit voller Kraft gegen das alte Eichenregal. Mit einem lauten Knall zerbarsten Tiegel und Platten, tropften Flüssigkeiten auf den Holzboden und vermischten sich zwischen den abertausenden von Scherben des Kinderfußes zu einer übelriechenden Masse.
Anstelle der Wut trat Hilflosigkeit. Was hatte er nur getan. Das Gesicht in den Händen vergraben, bohrte er die Fingernägel tief in seine Kopfhaut. Er wollte Schmerz empfinden, leiden, wie seine Tochter gelitten haben musste.
„Es tut mir Leid“, wimmerte Djascha in die Innenflächen seiner verkrampften Hände. Kraftlos rutschte er von seinem Schemel auf den kalten Dielenboden und blickte auf das Chaos, das sich nur wenige Meter vor ihm aufgebaut hatte. „Es tut mir Leid, so Leid“.
Als er den bunten Scherbenhaufen erreichte, ließ er seine zittrigen Hände suchend durch das undurchsichtige Gemisch fahren. Er spürte nicht die scharfen Glasscherben, die sich mit Leichtigkeit in seine Haut trieben. Wie in Trance klaubte er alle Einzelteile des zerschmetterten Fußes, die er finden konnte, in seiner Hand zusammen und presste sie an seinen Mund. „Verzeih mir“, immer wieder küsste er unter Tränen seine zusammengeschlossene Faust und drückte sie an seine Wange. „Verzeih mir. Die nächste Puppe wird eine bessere sein. Ich verspreche es.“
Entkräftet brach Djascha auf dem Boden zusammen und hörte nicht mehr das leise, liebliche Flüstern, das aus einem rußverschmiertem Glaskolben mit abgeschlagenem Flaschenhals drang, der zwischen den anderen Trümmern auf dem Boden lag.

„Guten Abend, gute Nacht,
mit Rosen bedacht
mit Näglein besteckt
Schlupf unter die Deck
Morgen früh, wenn Gott will
Wirst du wieder geweckt
Morgen früh, wenn Gott will
Wirst du wieder geweckt.“

Impressum

Texte: Das Cover stammt von:http://browse.deviantart.com/?q=porcelain doll&order=9&offset=48#/d1m7h3p
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte ist in der Gruppe "Mit Feder statt Schwert" zum Thema "Der Usurpator" entstanden.

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