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Vorwort




Geduldig saß Fidor auf dem Rand des metallenen Krankenhausbettes und betrachtete den grauhaarigen, gebrechlich wirkenden Greis, der vor ihm lag und an mehrere Geräte angeschlossen war.
Seine Augen waren eingefallen, seine Lippen spröde und dünn. Um seine Mundwinkel herum konnte Fidor kleine Fältchen erkennen, die neben den markanten, tiefen Falten, die sich über sein ganzes Gesicht zogen, kaum wahrzunehmen waren.
Ja, dachte sich Fidor, dieser Mann hatte wirklich ein glückliches Leben geführt, voller Freundschaft, Liebe und Vertrauen. Doch dann war er krank geworden. Das Herz. Und er lachte immer weniger, hatte immer weniger Freude am Leben und hatte sogar einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen.
„Beinahe hätten sie dich bekommen“, flüsterte Fidor mehr in Gedanken und umschloss mit seiner einen Hand ein kleines ovales Medaillon, das er stets um seinen Hals trug. Das Oval an sich war mit einer hellblau strahlenden Flüssigkeit gefüllt und es schien, als ob ein fast durchsichtiger Nebel darin schwimmen würde. Doch das Oval war kaum zu sehen, da zwei übereinander gekreuzte Hände, aus Silber angefertigt, schützend auf ihm ruhten und es somit überdeckten.

Ein leises kraftloses Husten drang aus der Kehle des Kranken und ließ Fidor zusammenschrecken. Es wird nicht mehr lange dauern, dachte er sich und ließ seinen Blick durch das spartanisch eingerichtete Zimmer schweifen. Alles war in weiß gehalten.
Wie er solche Räume hasste. Sie wirkten so steril, ohne Leben - und ohne Schönheit. Aber dafür sind die Menschen ja bekannt, Fidor schnaubte verächtlich. Sie haben keinen Sinn für die wahre Schönheit der Welt. Es ist grausam in solch einer Umgebung sterben zu müssen.
Und noch grausamer ist es, allein zu sterben.
Fidor erhob sich vom Bett und ging mit anmutigem Schritt ans Fenster.
Es war ein stürmisch, kalter Tag, Ende Oktober und es sah aus, als ob es bald zum ersten Mal in diesem Winter schneien würde.
Auf einem Gehweg konnte er drei Personen erkennen. Es waren eine Frau, ein Mann und ein Kind, das von seinen Eltern an den Armen in die Luft gehoben wurde und vor Vergnügen laut jauchzte.
Fidor wandte sich von diesem Anblick ab. Sie hatten erst vor wenigen Minuten das Zimmer verlassen, um etwas frische Luft zu schnappen und ein bisschen Zeit mit ihrem Kind zu verbringen. Die letzten Nächte hatten sie am Bett des alten Mannes Wache gehalten.
Es wird das letzte Mal gewesen sein, dass sie ihn lebend gesehen haben und sicher werden sie sich selbst lange Zeit Vorwürfe machen, weil sie denken, dass er allein gestorben ist.
„Aber du bist nicht allein“, flüsterte Fidor dem Mann ins Ohr und es klang, wie das leise Rauschen des Windes. „Ich bin bei dir. Ich war es immer.“
Und das stimmte. Seit dessen Geburt war Fidor bei ihm gewesen, hatte ihn vor Dummheiten bewahrt und ihm Mut zugesprochen, wenn er in seinem Leben keinen Sinn mehr sah.
Langsam öffnete der alte Mann die Augen und sah mit seinen gräulich, trüben Augen an die Decke ins Leere. Sein Atem ging flach und seine Arme lagen regungslos auf dem Bett.
Auf seinem Bauch lag aufgeschlagen ein Fotoalbum, dass er sich von seiner Familie vor einigen Tagen von Zuhause hatte mitbringen lassen.
Müde blinzelte er und legte seinen Kopf auf die Seite. Er sah direkt in Fidors Augen, so schien es, doch in Wirklichkeit sah er durch ihn hindurch.
Lautlos sog er die Luft ein zu einem letzten Atemzug, ehe er die Augen wieder schloss. Und diesmal für immer.

Schweigend stand Fidor neben dem Bett und wartete. Auf ein Lebenszeichen, auf eine kleine Bewegung, ein Geräusch. Und dann hörte er eines. Ein leises monotones Geräusch, dass von einer der wuchtigen Maschinen ausging, an die der alte Mann angeschlossen war.
„Piiiiiiiiiiiiiiiiiiiep.“
Niedergeschlagen senkte Fidor den Kopf und erhaschte dabei einen Blick in das Fotoalbum.
Die kleine Familie, die vermutlich immer noch draußen vergnügt die frische Luft genoss, lächelte ihm entgegen.
Als ob er den Mann trösten wolle, legte Fidor ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du wirst nicht leiden, denn du wirst dich nicht an sie erinnern. Du hast sie vergessen, als dein Herz den letzten Schlag getan hat.“
Ein plötzliches Gefühl der Leere ergriff Fidor und ließ ihn zusammenzucken. Er umschloss mit seiner Hand das Medaillon, wie eine Klaue. Fast hatte er vergessen, wie es war, einen Schützling zu verlieren.

Unter seiner Hand spürte er, wie sich das Medaillon zu bewegen schien und er löste den festen Griff. Die silbernen Hände, die zuvor schützend das eisblaue Oval verborgen hatten, begannen sich langsam auseinander zu ziehen, bis sie einander nicht mehr berührten. Angespannt betrachtete er, wie das einst so beruhigende eisblau des Ovals, dass ihn über Jahre begleitet hatte, langsam zu einem ausdruckslosen Weiß verblasste und auch kein Nebel war mehr zu sehen. Er hatte seine Aufgabe erfüllt, doch er hatte keine Zeit, sich darüber zu freuen oder über den Tod eines Menschen zu trauern. Er musste zurück in seine Welt. Er brauchte einen neuen Schützling, ehe sich die Leere zu sehr in ihm ausgebreitet hatte.

„Vielleicht werden wir uns wiedersehen. Mache deine Sache gut“, hauchte Fidor dem alten Mann zu und verließ das Zimmer. Auf dem Flur kam ihm die kleine Familie entgegen, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Sie gingen einfach durch ihn hindurch.


* * *




Es ist kalt, so kalt, dachte der junge Mann, als eine erneute Schneewehe ihn traf und ihm in das von Tränenspuren durchzogene Gesicht peitschte. Er stand auf einer verschneiten Brücke und sah hinaus auf den sich dahinwindenden Fluss.
„Wenn ich doch auch nur frei sein könnte“, schluchzte er leise und wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen.
„Du kannst es.“, flüsterte eine leise, samtene Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum, denn er hatte niemanden bemerkt. Unsicher ließ er seinen Blick über die weite Brücke schweifen, doch es war niemand zu sehen.
Für einen kurzen Moment rang der junge Mann nach Fassung, ehe er sich wieder seinen Gedanken widmete.
„Nein, ich werde nicht mehr heulen, wegen diesem Rabenvater! Ich entscheide selbst, was gut für mich ist! Ich will frei sein!“ Dabei krallte er die vor Kälte steifen Finger in das Brückengeländer und starrte entschlossen auf den Fluss hinaus.
„Du kannst frei sein“, hörte er wieder diese sanfte, einschmeichelnde Stimme. Sie war nur ganz leise, dicht an seinem linken Ohr.
„Was muss ich tun?“, fragte er mit hoher Stimme, ohne dass er überhaupt sehen konnte, wer da zu ihm sprach.
Für eine Zeit hing eine gespenstisch Stille in der Luft und diese Ruhe ließ ihn frösteln.
„Spring.“
Der junge Mann schloss die Augen und genoss den Klang der Stimme. Ein so einfaches Wort konnte seine Lösung bedeuten? Er musste einfach nur springen und dann war er frei? Nie wieder überzogene Ansprüche, nie wieder Zwänge und das alles nur durch einen einfachen Sprung?
„Ich bin bei dir. Hab keine Angst.“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. Er würde frei sein. Noch heute.
Der Gedanke machte ihn ganz rasend und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
„Ja!“, rief er entschlossen aus. „Ich werde frei sein.“
Hastig zog er sich am Brückengeländer empor, bis er schließlich auf ihm stand und sich nur noch an einer Laterne festhielt.
„Nein! Tu es nicht!“, hörte er eine andere Stimme an seinem rechten Ohr panisch rufen.
Erschrocken fuhr er herum, doch wieder sah er niemanden.
„Ich bin allein“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. „Allein.“
Doch er war nicht allein.
Die Hände vor der Brust verschränkt lehnte Even, eine junge Frau mit schwarzer Lockenpracht an der Laterne, an der sich der junge Mann festhielt. Trotz der beißenden Kälte trug sie ein weißes Kleid mit dünnen Trägern und keine Schuhe. Um ihren Hals baumelte ein Medaillon. Es zeigte ein eisblaues Oval und zwei aus Silber angefertigte Hände, die das Oval oben und unten einrahmten. Ihr Gesicht war nach rechts gewandt und in ihren Augen tanzte die Wut.
Sie starrte einen älteren Mann an, der rechts neben dem Jungen stand. Auch er trug ein weißes Gewand, keine Schuhe und ein Medaillon um seinen Hals. Doch es war ein anderes, als das der Frau. Sein Medaillon unterschied sich von ihrem nur in der Anordnung der Hände. Seine Hände waren schützend übereinander gekreuzt, sodass man das eisblaue Oval kaum sehen konnte.
„Spring nicht. Denk doch nach“, die Verzweiflung war dem alten Mann deutlich anzuhören.
Mit einem leisen Seufzer löste sich die junge Frau von der Laterne und ging mit entschlossenem Schritt auf den alten Mann zu.
„Verschwinde!“ Evens Stimme klang barsch und keineswegs mehr freundlich und sanft.
„Du verwirrst ihn.“
Der Alte fixierte sie mit einem feindseligen Blick.
„Es ist meine Aufgabe, ihn zu schützen.“
Even schnaubte leise. „Er hat sich bereits entschieden. Er will sterben. Er hat sein Schicksal angenommen. Du kannst nichts mehr tun.“
Fassungslos sah der Alte zu, wie Even neben dem jungen Mann auf das Geländer kletterte und sich seinem Ohr langsam näherte.
„Spring“, hauchte sie und der Junge schloss die Augen. „Spring.“
„Nein!“, schrie der alte Mann und versucht den Jungen zufassen zu kriegen, doch seine Hand ging wie durch dessen Körper hindurch. Und so sprang der Junge ungehindert in die Tiefe. Kurz darauf, hörten sie ein leises Klatschen.
Für einen kurzen Moment schloss Even die Augen und atmete erleichtert ein und aus. Diesen Sprung hatte er unmöglich überleben können und wenn doch, würde er im eiskalten Wasser erfrieren. Sie hatte ihren Auftrag erfüllt.
Ein leises Schluchzen ließ sie aufhorchen. Der alte Mann starrte immer noch wie gebannt auf die Stelle, an der der Junge ins Wasser gefallen war. Dann nahm er sein Medaillon in die Hände und wartete.
Als sich nichts regte, seufzte er erleichtert.
„Er lebt. Er hat den Sturz überlebt. Ich habe gewonnen.“ Er hob triumphierend den Blick und starrte Even mit einem schadenfrohen Lächeln an. „Und du - hast verloren.“
Nun nahm auch Even ihr Medaillon in ihre Hand und betrachtete es aufmerksam.
Beinahe zeitgleich begannen sich die Medaillons der beiden zu verändern. Beim Medaillon des Alten schoben sich die beiden Hände auseinander und gaben das darunter liegende Oval preis, bei Even zogen sich die Hände zusammen, bis sie genau übereinander lagen.
Der Wind blies stark, doch er schien durch diese beiden hindurchzuwehen. Weder Evens Haare, noch das Gewand des Alten bewegten sich. Wie versteinert standen sie auf der Brücke und warteten wieder.
Plötzlich begann die blaue Flüssigkeit in Evens Medaillon zu verblassen, bis sie von einem schlichten Weiß war und sie sah erleichtert auf.
„DU hast verloren.“ Und wie zum Beweis zeigte sie ihm ihr Medaillon. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen musste der Alte nun beobachten, wie die Flüssigkeit in seinem Medaillon nicht heller, sondern zunehmend dunkler und dickflüssiger wurde. Sie wurde zu Blut.
Ein plötzlicher Schmerz in der Brust ließ den alten Mann aufschreien und er umschlang mit beiden Händen das Medaillon, um es an dem Bevorstehenden zu hindern. Doch es ließ sich nicht verhindern.
Das Medaillon gab ein leises Knacken von sich, dass sich anhörte, als würde Glas brechen.
Einen kurzen Moment darauf sah Even, wie sich ein dunkelroter Tropfen an der Hand des Mannes sammelte und dann in den Schnee fiel.
„Nein“, wimmerte der Alte und sank neben dem Tropfen auf den kalten Boden. Er ließ die Hände fallen und die Sicht wurde frei auf ein gebrochenes Medaillon, aus dem das Blut heraustropfte.
Ein – zwei – drei, zählte Even in Gedanken die Tropfen, die auf den weißen Schnee fielen. Nach dem dritten Tropfen, war das Oval leer und der alte Mann tot.
Sofort begann seine Gestalt zu verblassen, seine Konturen zu verschwimmen und schließlich war er verschwunden. Für immer.

In Even wuchs das Gefühl der Leere. Sie hatte soeben ihren Auftrag erfüllt. Es wurde Zeit, einen anderen Menschen von seinem Schicksal zu überzeugen.
Even wandte sich ab und verließ die Stelle, an der soeben ein Mensch seinem Leben ein Ende gesetzt und seinen Schutzengel in den ewigen Tod gerissen hatte. Das einzige, was daran erinnerte, waren drei dunkle Tropfen Blut im Schnee und ein leises Sirenengeheul am Ende der Straße, das von einem Krankenwagen ausging. Flüchtig strich Even sich die schwarzen Locken aus dem Gesicht. Er würde zu spät kommen.

Eines neues Leben




Das gläserne Medaillon fest mit der Hand umschlossen, trat Fidor hinter einem Patienten durch die automatisch öffnende Schiebetür der Vorhalle hinaus an die frische Luft. Wohin er auch blickte, erkannte er die Hektik in all ihren Facetten, ganz gleich ob in den Menschen selbst oder in den Dingen, die sie erschaffen hatten. Jeder Backstein auf dem weitläufigen Eingangsbereich glich dem anderen in Form und Färbung bis in die kleinste Pore, ebenso, wie man akribisch beim Verlegen dieser Fläche auf eine einheitliche Fugengröße zwischen jedem einzelnen Stein geachtet hatte. Das verstanden die Menschen unter Perfektion. Makellosigkeit.
Nachdenklich legte Fidor die Stirn in Falten, wobei dabei schon fest eingegrabene Spuren höchster Sorge über bereits vergangene Leben sich umso deutlicher auf seinem Gesicht abzeichneten. Makellosigkeit. Es war ihm unmöglich, nicht mit einer gewissen Verachtung über die menschlichen Definitionen dieser Begriffe zu philosophieren. Was bedeutete makellos? Wohl, dass etwas frei von Fehlern schien. Doch was machte es dann so besonders? Was machte diesen Stein, auf dem er in diesem Augenblick stand, so beachtenswert? Nichts, denn er war jederzeit ersetzbar. Und was ist schön? Fidor schüttelte unverständlich den Kopf. Wie konnte man überhaupt zwischen Schönem und - ja, was eigentlich - Unschönem? unterscheiden? Die Menschen hatten sich hier einen Maßstab gesetzt. Alles in ihrem Leben folgte gewissen Anforderungen. Wurden sie weitestgehend erfüllt, galt es als schön. Wenn nicht, wurde es als unschicklich angesehen und verschmäht. Doch alles, was existierte, war schön. Alles, was nicht mit dem Vorsatz entstand, gewissen Regeln gerecht zu werden, war schön. Alles, was der Mensch unangetastet ließ oder lassen musste, hatte im Laufe der Jahrhunderte nichts von seiner Schönheit einbüßen müssen. – Doch davon gab es nur noch sehr, sehr wenig.
Fidor legte den Kopf in den Nacken und starrte gedankenverloren auf den blendenden kleinen Lichtpunkt am Himmelszelt. Er würde es sicher ewig sein.

Ein leichtes Pulsieren aus dem Inneren seiner Faust veranlasste ihn dazu, dass Grübeln über menschliche Verirrung für diesen Augenblick ruhen zu lassen. Er musste zurück an den Ort, an welchem alles seinen Anfang und sein Ende fand. Er musste nach Hause, ehe sein Herz in abertausende Glasscherben zersplittern würde.
Andächtig öffnete er seine Hand und betrachtete die milchige Flüssigkeit, die ungeduldig in ihrem durchsichten Gefängnis zu toben begann. Kaum größer als der Kopf einer Stecknadel schraubte sich ein silbrig schimmernder Drehverschluss zwischen den geöffneten Händen wenige Millimeter aus der glatten Oberfläche des Glases empor. Noch ehe er erstarrte, umschloss Fidor ihn bereits mit den Fingerkuppen des Daumens und Zeigefingers und begann vorsichtig daran zu drehen. Jedoch löste er sich nur äußerst langsam und es kostete ihn einige Versuche, bis er den Verschluss sicher in seinen Fingern halten konnte. Langsam und vorsichtig öffnete er die Tür zu seinem Herzen, bis er schließlich den kleinen Stopfen von seinen Fingern in die Handinnenfläche hinabgleiten ließ. Plötzlich schien das Klopfen in seinem Medaillon lauter geworden zu sein, fordernder, als wollte es Fidor zur Eile antreiben.
Hastig presste er seine Lippen auf die winzige Öffnung und warf seinen Kopf in den Nacken. Wie ein reißender Fluss strömte der Inhalt des Medaillons in seinen Mund und hinterließ einen Geschmack, den Fidor nie eindeutig zu bestimmen vermocht hatte. Er war bitter, doch zugleich auch süßer als jeder Geruch, den er je wahrgenommen hatte. Nur widerwillig konnte er sich von seinem Medaillon lösen und leckte er sich über die feuchten Lippen. Er genoss Trauer und Wut, aber auch Glück und Zufriedenheit. Er schmeckte das Leben.

Verträumt ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen und sah doch nichts. Ein leises Flüstern drang aus seinen leicht geöffneten Lippen, so zaghaft und schwach, dass selbst der Wind es zu übertönen vermochte.

„Oh Blinder, der du den Weg mir wiesest.
Vor einem Leben vertraut ich dir war.
Erkenne den Fremden und führe mich heim
Die reißenden Flüsse ins gleißende Tal.“

Schwerelos wurden sie von den Lüften davongetragen, ungehört.
Fidor verharrte wartend. Ungehört? Nein. Die Menschen um Fidor herum hielten in ihrer Bewegung inne und rührten sich nicht mehr. Die Steine auf denen sie soeben unbeachtet entlanggehastet waren, erzitterten wie durch unsichtbare Hand. Aus den Fugen stieg dichter Nebel und erklomm schwerfällig den Himmel. Hungrig leckten die Schwaden an den dunklen Mänteln der Bewegungslosen und hinterließen eine feucht glänzende Spur auf dem schweren Stoff. Die Umgebung um Fidor verschwand zunehmend. Wo eben noch das Krankenhaus gestanden hatte, starrte ihm nun eine undurchdringliche Nebelwand trotzig entgegen. Er hörte das Schwappen sich nähernden Wassers. Es wurde lauter, bis es er nur zwei Armlängen von sich entfernt eine Welle erblickte, die sich lauernd näher an ihn heranpirschte. Direkt vor seinen Zehen kam sie zum Stillstand. Mit jeder Sekunde die verging, stieg der Wasserspiegel vor Fidor hinauf, bis er schließlich auf Hüfthöhe verharrte.
Aus der Nebelwand drang ein in gleichmäßigen Abständen wiederkehrendes Geräusch. Dumpf, gefolgt vom sanften Prasseln des Wassers auf die ruhige Oberfläche.
Ein Schatten durchbrach die Undurchdringbarkeit des milchigen Dampfes und glitt sanft auf ihn zu. Es war eine Gondel aus verwittertem Holz mit einer dunklen Gestalt darauf, die in schlafwandlerischer Sicherheit ein längliches Paddel in die Fluten trieb. Das Gewand aus zerwetztem Schwarz, eine Kapuze weit ins Gesicht gezogen und das Gesicht sehnsüchtig in die Ferne gerichtet, hielt der Fährmann vor Fidor in seiner Bewegung inne und sprach kein Wort. Die Situation wirkte abstrus und wurde durch die aufkommende Stille nur noch unheimlicher. Fidor legte eine Hand auf die schmale Rehling der Gondel. Sogleich schnellte das Gesicht des Assiden in seine Richtung und er streckte Fidor fordernd die nach oben geöffnete Hand entgegen.
Der Engel ließ seine Hände über die einzelnen Kettenglieder seines Medaillons fahren, ehe er es am Hals aus seinem Verschluss löste und dem Vermummten in die Hand legte. Die dünnen Finger legten sich wie ein Gefängnis um den gläsernen Körper. Langsam führte der Asside das Medaillon an sein Gesicht und hielt es an sein Ohr. Bedächtig schwenkte er das Gefäß und wandte sich dann wieder Fidor zu.
Wortlos reichte er ihm seinen freien Arm. Fidor stütze seine Linke auf das morsche Holz und ergriff mit der Anderen die Hand des Fremden. Die Gondel ächzte, die Sehnen am Arm des Fährmannes traten deutlich hervor, doch ein Murren kam ihn nicht über die Lippen, während er half den jungen Mann in sein Boot zu wuchten.
Fidor rappelte sich auf dem schwankenden Untergrund auf und balancierte unsicher bis ans andere Ende der Gondel, wo er sich niederließ.
Mit einer unauffälligen Bewegung wischte der Asside sich die Hand an seinem Gewand ab und wandte sich wieder seinem Tagesgeschäft zu. Aus seinen mit Blindheit geschlagenen Augen blickte er auf seine Finger, die erregt über das Medaillon fuhren auf der Suche, nach der winzigen Öffnung, die ihm den Fortbestand seines fragwürdigen Daseins sichern konnte.
Mit geschlossenen Augen ließ er die milchige Flüssigkeit seine Kehle hinunterrinnen bis er den letzten Tropfen in sich eingesogen hatte. Wie in Trance reichte er Fidor das gläserne Herz.
„Wie lang wird es dauern, bis wir zurück sind?“ Der Asside tat, als habe er nichts gehört und begann mit beständigen Bewegungen die Gondel in Bewegung zu setzen.
Fidor lehnte sich zurück. Es war immer schwer, mit diesen Wesen ein Gespräch zu beginnen. Sie behandelten ihre Kunden, als seien sie allesamt Luft und Luft spricht bekanntlich eher selten.
Fidor hoffte inständig, dass die Fahrt sich nicht elend in die Länge ziehen würde.
Den Blick in den Himmel gerichtet, der kaum mehr blau, sondern eher weiß aussah, hing er seinen Gedanken nach. Sein letztes Leben war ein schönes gewesen. Sein Schützling hatte ihm nur selten Sorgen bereitet und Fidor hoffte inständig, dass ihre Wege sich eines Tages erneut kreuzen würden. Vielleicht sah er ihn später noch bei den Neuankömmlingen, während sie in ihr weiteres Dasein eingeweiht wurden oder begegnete ihm auf der Straße an der Seite seines ersten Schützlings. Doch selbst wenn der Zufall es so wollte, würde er sich ihm niemals offenbaren dürfen. Ihm nicht sagen können, wer er war und welche Rolle er in seinem Leben gespielt hatte. Er könnte ihm sagen, was er für ein Mensch gewesen war, dass er Familie hatte und vor allem, woran er gestorben war – auch wenn das in Anbetracht seines Alters nahezu auf der Hand liegen sollte.
Wie oft hatte sich Fidor mit all diesen Fragen gequält, wenn er einem seiner Artgenossen begegnete. Wer von ihnen es wohl war, der ihn begleitet hatte, als er noch als Mensch über die Erde wandelte? Wer hatte ihm beigestanden, als er starb und weshalb war er nicht so alt geworden wie so viele andere?
Abwesend fuhr er sich mit der Hand durch das braune Haar. Er musste jung gewesen sein, etwa dreißig Jahre oder ein bisschen jünger. Wie oft er aufgrund seines Aussehens schon für einen der Anderen gehalten wurde. Empört rümpfte Fidor die Nase. Wie sollte er einer von diesen – Monstern sein, die Menschen das Leben verkürzten und nur darin ihr eigenes Fortbestehen gesichert sahen. Nein, er war stolz, auf das was er war. Ein Schutzengel.

Der Himmel über ihm war heller geworden, beinahe durchsichtig. Fidor richtete sich auf. Bald würden sie anlegen. Das Wasser hatte ein helles türkis angenommen und vereinzelt huschten blasse Schatten unter der Gondel hindurch. Vorsicht beugte Fidor sich vor und ließ eine Hand ins Wasser gleiten. Wie Fische stoben die hellen Schleier vor seinen Fingern davon. Ein Wesen wie er es war, war nicht imstande, sie mit bloßen Händen zu ergreifen.
Beinahe unbemerkt schoben sich strahlend weiße Ufer immer näher an die dahingleitende Gondel heran. Angespannt setzte Fidor sich auf, den Blick schweifen lassend über das belebte Treiben. Seine Aufmerksamkeit wurde gänzlich von einer Person gefangen genommen, die zwischen den Anlegestellen inmitten des kalten Wassers trieb. Je näher der Asside das Boot an den kalkweißen Steg manövrierte, desto überzeugter meinte Fidor, sie zu kennen und als sie kaum drei Armlängen mehr von ihr entfernt waren, bestand kein Zweifel mehr.

Ein Mann mit gräulichem Backenbart tobte in seiner rot-weißen Robe inmitten des belebten Stromes.
“Werdet ihr wohl herkommen“, ächzte er und sprang mit ausgestreckten Armen im Wasser umher. „Ich krieg euch, ihr werdet schon sehen“, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. In seinen Augen blitzte Entschlossenheit.
„Thalen“, seufzte Fidor resignierend auf, ehe er den Namen seines Mentors noch einmal lauter wiederholte, von diesem jedoch nicht wahrgenommen wurde. Zu besessen schien er von dem Gedanken, eine dieser Seelen mit seinen bloßen Händen ergreifen zu können.
„Thalen!“ Es war der tadelnde Unterton, der den alten Mann aufhorchen lies. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Engel, der nur wenige Meter von ihm entfernt aufrecht in der Gondel eines Assiden stand.
„Fidor? Bist du das?“ Nachdenklich strich er sich seine dünnen, feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Ich bin es, Thalen“, bestätige Fidor und musste schmunzeln ob der Tatsache, dass er das Jagen noch immer nicht leid geworden war.
Thalens Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Wie schön, dich zu sehen! Ich habe dich noch nicht zurückerwartet. Nicht, dass ich mich nicht freue“, abwehrend hob er die Hände, doch schon im nächsten Moment verklärte sich sein Blick und er starrte gedankenverloren ins Leere. „Du meine Güte. Ist tatsächlich schon wieder ein Leben vorüber? Es geht so schnell. Aber ich freue mich dich zu sehen.“
Aufgeregt schwamm er auf die Gondel zu und hielt sich an der Rehling fest.
Der Kopf des Assiden schoss herum und beinahe schien es, als ob er den durchnässten Mann, der dort wie ein Ertrinkender an seinem Schiffchen klammerte, sehen konnte.
„Weicht!“, herrschte er Thalen mit barschem Tonfall an.
„Thalen, ihr solltet in der Tat zurückschwimmen, ehe ihr das Boot noch weiter ins Wanken bringt.“
Der Mentor gab ein vergnügtes Glucksen von sich und wandte sich, wie ihm geraten, ab.
Wie ein nasser Hund in aufgeblähtem Purpurgewand paddelte er ungelenk gen Land und Fidor konnte bei diesem Anblick nicht umhin, ebenfalls an der Zurechnungsfähigkeit seines Meisters zu zweifeln.
Das Gesicht wieder zu einer ausdruckslosen Miene erstarrt, steuerte der Asside die Gondel weiter den Fluss entlang.
Fidor ließ neugierig den Blick über ein weißes Meer aus Stoffbahnen und spiegelnden Böden gleiten, die sich an den Ufern des Flusses bis in die Unendlichkeit erstreckten. Es war für ihn das dritte Mal, dass er zurückkehrte.
Die Zelte und Terrassen kamen näher und gewährtem dem Neugierigen einen Blick ins Innere. Am Ufer zu seiner Linken war ein mehrstufiger Bau errichtet worden. Etwa zwei Duzend Engel in blütenweißen Roben lauschten andächtig ihrem Lehrer, während zu seiner rechten zwei Engel in purpurnen Gewändern am Ufer entlang flanierten. Sie schienen ins Gespräch vertieft, doch als sie Fidors Blick auf sich spürten, bedachten sie ihn prüfend, ehe sie sich mit einem Anflug von Abneigung wieder von ihm abwandten.
Schicksalsengel!, dachte Fidor nur und richtete die Augen nach vorne. Es waren nur noch wenige Bootslängen, die ihn von den anderen Engeln trennten.
Gerade zu ragte ein ovales Gebäude aus eben dem selben Material heraus, das auch den Boden zierte. Es bildete das Zentrum allen Lebens.
Mit einem leichten Beben dockte die Gondel an einer der zahlreichen Anlegestellen.
„Ich danke euch für die Überfahrt.“, richtete sich Fidor ein letztes Mal an den Assiden, der jedoch bereits mit einem anderen Engel über den Preis für dessen Überfahrt in die Menschenwelt verhandelte. Fidor zuckte die Schultern und trat leicht schwankenden Fußes auf festen Boden.
Das Getümmel rund um den Weißen Platz erschreckte Fidor. Wohin er auch blickte, wanden sich die schweren Stoffe der Roben über das kalte Material. Ihr Weg war vorgezeichnet. Alle strömten sie zum Brunnen des Magistrats.
„Fidor. Nun endlich wieder zu Hause.“, erkannte er Thalens tiefe Stimme, noch ehe er ihn in der Menge ausmachen konnte. Eine Wasserlache hinter sich herziehend trat sein Mentor an ihn heran und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.
„Wie war die Überfahrt?“ Mit einem leichten Nicken bedeutete er seinem Schützling, einige Schritte zu gehen.
„Schweigsam.“, antwortete Fidor und legte die jugendliche Stirn in Falten.
Thalens Blick glitt hinaus auf den Fluss, auf dem die Assiden elegant ihre Boote tanzen ließen, während er den Saum seines Gewandes in den Händen auswrang.
„So sind sie nun mal. Es ist die Verbitterung und der Neid, die sie unter uns verstummen lassen.“
„Die Schuld obliegt jedoch nur bei ihnen“, wandte Fidor ein. „Sie sind es doch, die ...“
„Ach, Fidor, nein! Was einmal gewesen ist, ist unwichtig. Ich habe es dir doch schon einmal erklärt.“ In gesenktem Tonfall fuhr er fort. „Es ist doch einzig der Magistrat, der sie zu einem solchen Schicksal verdammt hat.“
Vorsichtig blickte Fidor über seine Schulter und zog seinen Meister beiseite.
„Aber wenn sie sich doch selbst töteten. Ist es da nicht gerecht, mit den anderen nicht gleichgestellt zu werden?“
Thalen packte seinen Schützling an den Schultern. „Ist es nicht schon genug, dass sie diese Pracht nicht erblicken können? Das helle Schimmern des Flusses, die prunkvollen Quartiere des Magistrats und den Brunnen? Den Brunnen, Fidor, dessen Anblick einem jeden Engel das gläserne Herz öffnet?“
Fidor senkte beschämt den Kopf.
„Fidor!“
„Ja, Meister. Entschuldigt, ich habe nicht nachgedacht.“
Entrüstet ließ Thalen von ihm ab und wischte sich die mit Schweiß und Wasser feuchten Haare aus der Stirn.
„Lass uns nicht länger über dieses Thema reden. Es genügt mir zu wissen, dass du es nun wohl verstanden hast.“
Fidors Kopf schwirrte.
„Erzähl mir lieber, was du erlebt hast. Komplikationen sind scheinbar ausgeblieben, denn du hast mich kein einziges Mal zu dir gerufen.“
Der junge Engel versuchte ein Nicken, stockte jedoch in der Bewegung.
„Alles lief gut“, murmelte Fidor mit schwerer Zunge und ging vor seinem Meister in die Knie.
„Fidor? Geht es dir nicht gut?“, Thalen beugte sich zu seinem Schützling herunter und ergriff dessen Medaillon. „Die Assiden verstehen ihr Handwerk. Er hat dich beim Fahrtpreis wohl vollkommen über den Tisch gezogen.“
Prüfend drehte er den gläsernen Flacon in seinen Händen. Kein Tropfen war mehr in ihm.
Seufzend schob Thalen seine Arme unter die Fidors und zog ihn hoch.
„Du musst weiter, Fidor. Deine Zeit hier ist abgelaufen.“
Unter den Armen seines Meisters strauchelte er und brachte ihn beinahe zu Fall. In Fidors Blick mischte sich Schwärze.

Impressum

Texte: Alle Rechte bezüglich der Geschichte liegen bei mir.Das Coverbild wurde leicht verändert und ist ursprünglich von:Feryzal - Deviantart
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch - und zwar jeden einzelnen Teil - den Menschen, die noch nicht verlernt haben, das Schöne in der Welt zu sehen. Seid ihr wirklich Menschen oder vielleicht doch eher Engel? und der kleinen Felicitas. Vergiss niemals den Anblick der Welt, wie er dir jetzt durch deine Babyaugen gewährt wird.

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