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Prolog




Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele mit sich selbst. Seneca



Prolog




Der erste laute Schlag der Standuhr ließ den alten Mann in seinem Sessel hochfahren. Es war Mitternacht und damit Zeit sich über die Zukunft des Klosters bewusst zu werden.
Mit seiner kalkweißen Hand stützte der Greis sich an seinem massiven Schreibtisch aus Mahagoni ab und zwang seinen gealterten Körper, ihm zu gehorchen und aufzustehen. Mit zitternden Knien und leicht gebückt stand er in Mitten seines Arbeitszimmers und versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. Hektisch strich er mit seinen Händen über die große Tischplatte, bis er etwas dünnes hölzernes unter seinen Fingern spürte. Ein leises Zischen war zu hören, als er das Streichholz anbrannte und mehrere Kerzen damit entzündete.
Langsam drehte er sich mit dem Kerzenleuchter in der Hand und erhellte den Raum. „Ah, da ist er ja“, flüsterte er erleichtert und griff nach einem Gehstock mit einem goldenen Pferdekopf als Knauf, der nur wenige Meter von ihm entfernt an der Wand lehnte.
Erneut schlug die Uhr und mahnte ihren Besitzer zur Eile. Der Greis warf ihr noch einen nervösen Blick zu, bevor er sich in Bewegung setzte.
Während seine purpurne Robe kaum hörbar raschelte und auch seine schweren Schritte vom dicken Teppich verschluckt wurden, war das gleichmäßige Schlagen des Gehstocks auf den Boden noch dumpf zu hören. Hastig durchquerte er seinen Raum, doch an einem Spiegel, der an der Wand vor ihm hing, hielt er inne. Ja, er war tatsächlich sehr alt geworden, da musste er seinem Sekretär recht geben. Sein einst so jungenhaftes, spitzbübisches Gesicht war übersät mit Altersflecken und tiefen Falten. Leicht schüttelte er den Kopf und seine weißen langen Haare fielen ihm nach vorne. Leise seufzte er und wandte sich von seinem Spiegelbild ab. Es gab wichtigeres zu tun.
Mit einem letzten prüfenden Blick in sein Zimmer bog er auf einen in völliger Finsternis liegenden Korridor ein. Nur die spärliche Beleuchtung der Kerzen in seiner Hand führte ihn weiter.
Am Fuß einer weiten Treppe, die in die Eingangshalle des Kloster führte, blieb er stehen und lehnte sich über das Geländer. Von der Halle mit ihren über zwei Stockwerken hohen Wände, konnte er den Boden nicht ausmachen. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er sich gewahr wurde, dass er eine Hand benötigen würde, um sich beim Treppenabstieg am Geländer abstützen zu können. Auf einen der beiden Gegenstände in seinen Händen würde er also verzichten müssen. Mit zittriger Hand stellte er den Kerzenleuchter auf einen Sockel des Geländers und setzte seinen Weg fort. Vorsichtig, das Dröhnen der Uhrenschläge immer noch im Nacken, schritt er die breiten Stufen hinunter... Laut schlug sein Stock auf uralten Holzfußboden und signalisierte ihm, dass er in der Eingangshalle, die mehr einem prunkvollen Saal glich, angekommen war. Erleichtert atmete er aus und sah sich um. Schemenhaft konnte er die Umrisse von steinernen Säulen erkennen, die die Decke der Halle stützten. Durch die kleinen ovalen Fenster über der riesigen Eingangstür drang kaum Licht zu ihm herunter.
Zielsicher wandte er der Eingangstür den Rücken zu und setzte seinen Weg fort, wobei die Schläge seines Stockes laut von den Wänden wiederhallten. Vor einer Wand blieb er stehen und lehnte seinen Stock gegen eine nahe gelegene Säule. Dann hob er die Arme und näherte sich der Wand, bis er sie mit den Fingerspitzen berührte. Schweigend strich er über den kalten Stein, bis er mit seinem Zeigefinger eine leichte kreisförmige Einkerbung wahrnahm. Mit aller Kraft drückte er seinen Finger gegen die Wand und als er schon spürte, wie die Kraft aus seinem Arm zu schwinden begann, gab der Stein in der Einkerbung nach. Langsam wandte sich der alte Mann um. Nur einen kurzen Moment darauf hörte er hinter sich ein leises Surren und ein mehrfaches helles Klicken. Der Mechanismus hatte ein kleines Loch zwischen den Fenstern in der Wand freigegeben. Gleißendes helles Mondlicht drang in den Saal und eröffnete dem Zuschauer die Pracht des Saales, mit seinen zum Teil steinernen und zum anderen Teil vertäfelten Wänden. Jahrhunderte alte Gobelins bedeckten einen Großteil von ihnen. Doch nicht nur das Alter der Behänge war beeindruckend. Vielmehr waren es die Bilder, die sich dem Zuschauer boten: Kampfszenen und Feste, Taufen und Beerdigungen. Doch der Gobelin, der vom Mondlicht direkt angestrahlt wurde, zeigte die Natur.
Ein riesiger Baum, der sich über eine gesamte Wand erstreckte, erhob sich vor dem alten Mann und ließ ihn wie einen Zwerg aussehen. Ergriffen fasste sich der Greis an die Brust, in der sein Herz so heftig zu klopfen schien, als wolle es aus seinem Körper springen, um diese Pracht selbst zu sehen. Mit der anderen Hand strich er zärtlich über den Stoff. Für Außenstehende war es nur ein Baum, ein zweifellos schöner und in seiner Größe außergewöhnlicher noch dazu, doch nur bei genauerem Hinsehen, und der Greis beugte sich vor, bis seine Nase die Wand berührte und kniff die Augen zusammen, würden sie erkennen, was es wirklich war.
Kleine golden umrahmte Kästchen zierten jeden Ast und in ihnen standen mit goldschillerndem Garn bestickt Namen. Ein Stammbaum, das war es, was dieser Gobelin zeigte, einen Stammbaum von Seinesgleichen.

Plötzlich schoss eine Flamme aus dem Gobelin und erschrocken wich der Greis zurück, doch seinen Bart hatte die plötzlich auftretende Hitzewelle bereits versengt. An immer mehr Ästen des Baumes brachen Flammen hervor, doch der Greis blieb nur in sicherer Entfernung stehen und beobachtete das Geschehen.
Lautes Knacken von brennendem Holz war zu hören und die Temperatur im Raum war schlagartig gestiegen. In seiner schweißdurchtränkten Kutte sank der Mann zu Boden. Dieser Hitze konnte sein Körper nicht mehr lange standhalten. Leise röchelte er, als das Knacken erstarb und die Flammen ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Nur langsam hob er den Blick.
Doch bevor er den Baum näher betrachten konnte, wurde er von einem goldenen Licht geblendet, dass ebenso aus den Ästen hervorbrach, wie zuvor die Flammen. Gebannt waren die Augen des Mannes auf das Schauspiel gerichtet. Der Glanz schien mit jedem glühenden Ast an Kraft zu gewinnen. Schließlich musste er kapitulieren und seine Augen schließen, um sie vor der Helligkeit zu schützen.
Als auch dieses Licht erloschen war, holte der Mann erst tief Luft, bevor er die Augen öffnete. Er hatte Angst, was ihn erwartete.
Vor ihm hing ein Gobelin, der einen Baum darstellte. Doch dieser Baum war nicht mehr derselbe, wie vor wenigen Minuten. Manche Äste ragten noch weiter in die Höhe und waren dicker geworden, andere hatten sich zurückgebildet und einen dicken, verkohlten Stummel hinterlassen. Noch nie war die Zerstörung des Baumes so groß gewesen. Schweratmend erhob er sich und ging zögernd auf den Baum zu. Wieder strich er mit seinen Händen über den Stoff, der immer noch warm zu sein schien. Zwölf verkohlte Stellen zählte er. Zwölf Familien, die in der Zukunft nicht mehr bestehen würden.
Aber auch neue Kästchen mit neuen Namen konnte er erkennen. „Die nächste Generation“, flüsterte er andächtig. „Meine Schüler.“

Nur allmählich trennte er sich vom Gobelin bevor er wieder an die steinerne Wand zurückkehrte und nach der Einkerbung suchte. Wieder drückte er in sie, um das kleine Fenster über dem Eingang wieder zu schließen, doch es blieb still und das Loch in der Wand schloss sich nicht. Verwundert wandte er sich zum Fenster um. So etwas war noch nie passiert. Und dieser Mechanismus war Jahrtausende alt und musste noch nie erneuert werden. Der alte Mann wurde zunehmend nervöser. Immer wieder drückte er mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, gegen die Wand, doch es tat sich nichts. Ratlos lehnte er sich gegen die Wand und versuchte nach einem Ausweg zu suchen, doch es gab keinen. Es war noch nie vorgekommen.

Ein schwach goldener Schein ließ ihn zum Gobelin herumfahren. Am unteren Ende der Wand, nur wenige Zentimeter vom Ursprung des anderen Baumes entfernt, wuchs im Zeitraffer ein kleiner Baum. Für einen Moment schien das Herz des Mannes still zu stehen. Ungläubig starrte er auf dieses zarte Pflänzchen. Langsam näherte er sich dem Behang wieder und ging auf die Knie, um den Ursprung näher betrachten zu können. Auch hier hatte sich ein kleines goldenes Kästchen gebildet, aber so sehr er auch seine alten Augen anstrengte, er konnte keinen Namen erkennen. Das Kästchen blieb leer.

Ein neuer Stammbaum war entstanden. Diese Erkenntnis traf den Greis wie ein Schlag und er erschrak über seinen eigenen Gedanken.
Doch wie konnte das sein? Diese Gabe wurde von Generation zu Generation weitervererbt. Ein Außenstehender konnte und vor allem durfte dieser Gabe nicht mächtig sein!
Mit zitternden Händen strich er sich durch das Haar. In völliger Dunkelheit saß er auf dem Holzboden und suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Doch er hatte noch nie von einem ähnlichen Vorfall gehört oder gelesen.
Ein neuer Baum, eine neue Familie, eine neue Macht. Wie stark war diese neue Quelle und vor allem, welche Gefahr ging von ihr aus? Er musste es herausfinden.
So schnell wie es ihm möglich war, richtete er sich auf. Er besann sich dreier Korridore, die jeweils von einem Gobelin verdeckt wurden und von der Eingangshalle in drei Unterkünfte führten. Sicher wählte er den Gobelin, auf dem eine Waldlandschaft mit den unterschiedlichsten Tieren abgebildet war und schob ihn beiseite. Vor ihm tat sich ein tunnelartiger Korridor auf, der von kleinen Teerfackeln beleuchtet wurde. Während er hastig den Flur entlang ging und einige Türen hinter sich ließ, blieb er gedanklich bei dieser neuen Quelle. Dieses Kloster würde nicht untergehen. Nicht während seiner Amtszeit. Seine Schritte festigten sich und vor einer schweren Holztür blieb er stehen.
Leise zog er sich eine Fackel aus der gegenüberliegenden Wandbefestigung und öffnete die Tür.
Dahinter lag in vollkommener Dunkelheit ein kleiner, spärlich eingerichteter Raum mit zwei Betten, Schreibtischen und einem Kleiderschrank. Sachte durchleuchtete er mit den Fackeln den Raum. An einem der Betten blieb er stehen und betrachtete den schlafenden jungen Mann mit den rabenschwarzen Haaren. Noch kannst du zurück, schoss es dem alten Mann durch den Kopf. Doch schon im nächsten Moment hatte er seine knochigen Finger nach dem Jungen ausgestreckt und flüsterte : „Cassius, wach auf! Ich brauche dich.“

Nur ein Augenblick




I. Kapitel

Nur ein Augenblick




Die Angst umschlang meine Fußgelenke, stieg hinauf zu meinen Knien und kroch unaufhaltsam weiter empor. Keuchend drückte ich mich gegen die feuchte Wand, deren Steine sich mir spitz in den Rücken drückten. Ich spürte wie das Herz in meiner Brust raste und ich befürchtete jeden Moment, dass es herausspringen würde. Nach einem Ausweg suchend glitten meine zitternden Hände über den kalten, moosbewachsenen Stein. Jede Mauerspalte fuhr ich nach, jede auch nur kleinste Einkerbung, die ich ausmachen konnte, versuchte ich mit meinen Fingernägeln zu vergrößern.
Wenn doch nur Licht da wäre. Wenn ich doch nur einen kleinen Schimmer sehen könnte. Wenn mich doch nur jemand finden würde. Ein Stoßgebet nach dem anderen schickte ich in den Himmel, den ich in diesem Kerker nur erahnen konnte, an einen Gott, an den ich bis dahin nicht geglaubt hatte.

Doch die Dunkelheit blieb und mit ihr die Angst, die in mir unaufhörlich weiterwuchs. Meine Finger waren bereits taub und in jedem meiner Glieder spürte ich die Kälte immer weiter in mein Innerstes vordringen.
Beruhige dich. Jemand wird kommen. Man wird dich finden. Du wirst gerettet.
Entkräftet sank ich die Mauer hinab. Die Steine schnitten mir über den Rücken und hinterließen ein schmerzhaftes Brennen auf meiner Haut. Zusammengekauert saß ich in der Finsternis und versuchte krampfhaft an meinem letzten kleinen Hoffnungsschimmer festzuhalten. Stoßweise atmete ich aus und schloss die Augen. Nur allmählich brachte ich meinen Kopf dazu, mir wieder vollends zu gehorchen. Hektisch wühlte ich in meinen Erinnerungen, warf Bilder und Gesprächsfetzen durcheinander, die schienen, als hätten sie sich in meinen Kopf festgebrannt. Bei einer Erinnerung blieb ich hängen.
Ein kleines etwa acht Jahre altes Mädchen mit braunen Zöpfen und grün leuchtenden Augen und rotem Wintermantel stand in mitten eines Vorgarten, der von Schnee bedeckt war. Die kleinen Hände waren ganz rosig von der frischen Landluft und zitterten leicht, als das Mädchen, mit seinen bloßen Händen in den Schnee griff.
„Zieh deine Handschuhe an, Mel. Du erkältest dich sonst“, rief eine Stimme, die immer näher zu kommen schien. Die Augen des Mädchens strahlten und sie nickte eifrig in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Ja, Granny“, rief sie mit ihrer hohen piepsigen Stimme und begann sich ihre Handschuhe anzuziehen.
Diese Kälte, an den Füßen, an den Händen, - ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt, als ich dieses kleine Mädchen war und musste unweigerlich schmunzeln.

Ein Zischen ließ mich aus meinen Erinnerungen hochschrecken und ich riss die Augen auf. Um mich herum hörte ich das Schleifen eines Gegenstandes und hin und wieder ein leises Knacken. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas ausfindig zu machen. Ich hörte das Zischen an meinem linken Ohr und fuhr herum, doch da war es schon wieder verschwunden. Dann war es am rechten Ohr. In Panik riss ich meinen Kopf hin und her und schlug und trat um mich ins Leere. „Verschwinde, geh weg. Was bist du?“ Meine Stimme hallte von den Wänden wieder und wieder. Je öfter ich sie hörte, desto fremder kam sie mir vor. Sie war so hoch, so monoton, so kraftlos.
Meine Augen huschten umher und zu meiner Erleichterung gewöhnten sie sich langsam an die Finsternis. Nach und nach erkannte ich eine Mauer, die mir nur wenige Meter gegenüber lag. Ich erkannte Steine, auf denen ich kauerte und länglichere Gegenstände, die mir wie Seile erschienen. Zaghaft kroch ich an eines der Seile heran und berührte es mit dem Fuß.
Fast zeitgleich schnellte der Gegenstand, den ich zuvor noch für ein harmloses verwittertes altes Tau gehalten hatte, mir entgegen und landete auf meiner Brust. Mit Entsetzen spürte ich ein dumpfes, schwaches Pochen, das gegen meine Brust klopfte. Ein zweites Herz. Wieder kniff ich die Augen zusammen, doch diesmal hielt die Erleichterung nur für den Bruchteil einer Sekunde an. Zwei schwarze Augen starrten mir entgegen, begleitet von einem bedrohlichen Keifen.
Ich spürte wie die Übelkeit in mir Aufstieg und mein Kopf sich meiner Kontrolle immer weiter entzog. Ich warf einen letzten hilfesuchenden Blick in meine Umgebung, doch das einzige was ich sah, waren diese totbringenden Seile, die überall um mich verstreut auf dem Boden lagen. – Schlangen -


Schweißgebadet fuhr ich aus meinem Traum hoch. Fest presste ich meinen Körper gegen die Matratze meines Bettes und versuchte dabei so leise wie nur möglich zu atmen. Meine Ohren lauschten in die Dunkelheit, doch mein Herz raste so sehr, dass ich neben Rauschen kaum etwas anderes in meiner Umgebung ausmachen konnte. Nur meine Augen huschten in ihren Höhlen hektisch hin und her.
Ein Schweißtropfen, der sich auf meiner Stirn gebildet hatte, glitt meine Nase hinunter über meine rechte Wange. Angespannt verfolgte ich seine Laufbahn in meinem Kopf. Wie er mein Kinn hinablief, meinen Hals, um dann vom Kragen meines T-Shirts aufgesogen zu werden.
Mit zitternden Händen griff ich mir an die Brust und schloss die Augen.
Beruhige dich doch, es war nur ein Traum. Nichts weiter... nichts weiter. Mühsam zwang ich mich dazu, gleichmäßig zu atmen. Nur allmählich verlangsamte sich mein Puls und meine bereits versteiften Glieder lockerten sich schmerzhaft. Als ich die Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf die kleine Digitaluhr neben meinem Bett. Ich war viel zu spät dran und das ausgerechnet am ersten Tag des neuen Schuljahres.


Unter Schmerzen brachte ich meine Beine dazu, ihre Funktion wieder aufzunehmen und kroch aus dem Bett. Auf der Suche nach zwei gleichfarbigen Socken stolperte ich durch mein Zimmer ins Bad und wieder zurück. Wieso hat mich Becky nicht geweckt. Das macht sie doch sonst immer! Doch dafür war nun keine Zeit. Eilig klemmte ich mir meine Klamotten unter den Arm und hastete zurück ins Bad.
Unter der Dusche erholte ich mich langsam wieder von meinem alptraumhaften Erlebnis und genoss das warme Wasser auf meiner Haut. Mein Körper entspannte sich und ich lehnte den Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Ich wusste nicht, wie lange ich so in der Dusche stand, doch ein melodisches Klingeln riss mich aus meinem Trancezustand. Schnell stellte ich das Wasser ab und wickelte mir ein Handtuch um den Körper. Vorsichtig schielte ich aus dem Fenster, schließlich sollte mich nicht jeder in diesem Aufzug sehen. In der Auffahrt stand ein pinkes VW Cabrio mit laufendem Motor. Mir entfuhr ein Stöhnen. Jetzt war ich wirklich verdammt spät dran. Halbherzig zog ich mir die Klamotten über, die ich zuvor aus allen Ecken meines Zimmers zusammengekramt hatte. Ein in gleichmäßigen Abständen ertönendes Hupen hielt mich davon ab, die Schminke auch nur in die Hand zu nehmen. Hastig warf ich einen letzten Blick in den Spiegel, den ich sofort bereute. Meine braunen langen Haare hingen nass über meinem T-Shirt, auf dem sich bereits Wasserflecken abzeichneten. Na wenn das mal kein guter Start in den Tag war.
Ich rannte in mein Zimmer, schnappte mir meine Tasche, die ich nach dem letzten Schultag achtlos unter mein Bett geschleudert hatte, und holperte die Treppenstufen hinunter. Mit einem Ruck riss ich die Tür auf und fuhr zusammen. Vor mir stand, die Hände in die Hüften gestemmt und den Mund zu einem dünnen Strich zusammengekniffen meine beste Freundin Eleanor. Mein Blick schweifte zu dem Cabrio, das immer noch hupte. Auf dem Fahrersitz saß ein junger Mann, der mit der einen Hand immer wieder auf die Hupe schlug und mit der anderen ungeduldig das Armaturenbrett malträtierte. Ich schluckte. Wenn das keine herzliche Begrüßung war, wusste ich auch nicht.
„Na, da bist du ja endlich. Wir warten schon eine Ewigkeit auf dich!“ Ich wandte meinen Blick wieder Eleanor zu, die mich feindselig ansah.
„Ich, ich habe...“, begann ich meine Entschuldigung vorzutragen.
„Verschlafen! Ich weiß!“, unterbrach sie mich sofort. „Du verschläfst immer!“
Beschämt senkte ich den Blick. Widerstand war zwecklos. Sie hatte ja recht.
„Wie konnte ich nur glauben, dass sich das jemals ändern würde“, murmelte sie leise. Überrascht sah ich auf. In ihrem Gesicht war die Feindseligkeit verschwunden und sie grinste.
„Ach jetzt guck nicht wie ‚ne Kuh, wenn’s blitzt. Du hast heute Geburtstag, schon vergessen? Du bist jetzt Teil der volljährigen Gesellschaft in Glenn.“
Der letzte Satz strotzte nur so vor Arroganz. Unwillkürlich musste ich grinsen. Glenn – ein Dreitausendseelendörfchen in Michigan, indem um sechs Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt wurden und jeder jeden kannte. Der Tod meiner Mum hatte mich hierher verschlagen und jetzt lebte ich bei Becky, meiner Grandma. Über meinen Vater wusste ich nichts. Er war wohl nach dem Tod meiner Mutter einfach davon gerannt, da war ich gerade vier. Seit vierzehn Jahren machte ich also diese Gegend der Vereinigten Staaten unsicher und nun gehörte ich endlich zur Gesellschaft.
„Hey ihr beiden, können wir jetzt?“ Der Mann hatte sich aus dem Cabrio gelehnt und sah immer abwechselnd zu uns und auf seine Armbanduhr. „Fred, prob keinen Aufstand, wir kommen ja“, maulte Eleanor zurück.
„Na das kann ja heiter werden. Einen Bruder ständig um sich rum zu haben, ist schon schlimm. Dass er sein Referendariat an unserer Schule freiwillig verlängert hat, ist noch schlimmer“, flüsterte sie mir zu.
„Das hab ich gehört!“, mahnte Fred sie. Eleanor rollte mit den Augen.
„Sag bloß. Du hörst immer Dinge, die du nicht hören solltest!“
Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss und wir liefen zusammen den kleinen Steinweg zur Auffahrt hinunter.
„Nett wie ich bin, überlasse ich dir jetzt wieder den Fahrersitz deines Schlittens.“ Mit diesen Worten schwang sich Fred aus dem Auto und ging zur Beifahrertür.
„Das will ich dir auch geraten haben“, keifte sie ihn an.
Mit einer wegwerfenden Bewegung und einem lässigen Grinsen ließ er sich auf dem Sitz nieder und kramte ein Buch aus seiner Tasche.

Bis zur Schule hatten wir es nicht weit. Eigentlich brauchte niemand in dieser Schule ein Auto. Die Wege waren sehr kurz und wären zu Fuß locker zu bewältigen. Doch als wir auf dem Parkplatz ankamen, stellte sich wie jedes Jahr heraus, dass niemand auf diesen Luxus zu Gunsten des Klimaschutzes verzichten wollte.
Kaum war das pinke Ungetüm in einer Parklücke verstaut, schwang sich Fred aus dem Auto und knallte die Tür zu. Das ganze Fahrzeug bebte für einen Augenblick und drohte auseinander zu fallen. Mit einem letzten kritischen Blick auf den wackelnden Schrotthaufen, wandte sich Fred von uns ab und schlenderte auf das Schulgebäude zu.
Verblüfft sah ich ihm nach. „Charmant wie immer, hm?“
Eleanor zischte durch ihre kleine Zahnlücke. „Du weißt gar nicht, wie froh du sein kannst, ein Einzelkind zu sein.“
Ich erwiderte nichts. Wie oft hatte sie diese Bemerkung schon gemacht. Allmählich waren mir die Antworten auf diese Bemerkung ausgegangen. Selbst auf ein Nicken verzichtete ich.
„Und dann bin ich auch noch das einzige Mädchen. Zwei ältere Brüder zu haben. Was haben sich meine Eltern nur dabei gedacht!“
Ein leises Kichern entfuhr mir, für das ich sofort mit einem grimmigen Blick bestraft wurde.
„Ben ist jetzt auch wieder da. Als ob ein Bruder hier an der Schule nicht reichen würde, will der jetzt auch noch hier sein Referendariat machen.“
Verwundert zog ich die Augenbrauen zusammen. Ich kannte Eleanor erst seit dem letzten Schuljahr. Ihr Vater war als Priester nach Glenn gezogen, doch ihren zweiten Bruder Ben hatte ich noch nie gesehen. Aus irgendeinem Grund waren beide Brüder nicht hier zur Schule gegangen, sondern irgendwo in ein Internat.
„Scheinbar liegt der Wunsch, Lehrer zu werden bei euch in den Genen.“ Dabei stieß ich ihr liebevoll in die Seite.
Abwehrend hob sie die Hände: „Oh nein. Ich nicht. Niemals!“


Lachend trotteten wir ins Schulgebäude und schlugen den Weg zum Sekretariat ein. Zu unserem Entsetzen stand die Glastür sperrangelweit offen und eine Menschenmenge hatte sich in einer Schlange aufgereiht, deren Ende bis weit in den Flur hinausragte. Laut stöhnte ich auf. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass uns maximal zehn Minuten blieben um unsere Stundenpläne zu holen und unsere Bücher auszuleihen.
„Das schaffen wir doch nie!“, jaulte nun auch Eleanor. „Und das alles nur, weil du dein Kopfkissen den luxuriösen Schulstühlen vorziehen musstest!“
Ich zuckte kaum merklich zusammen. Sie hatte mal wieder recht, doch ich wollte mir ihre Vorwürfe nicht die restlichen zehn Minuten anhören.
„Gib mir mal deinen Schülerausweis. Ich leihe uns schon mal die Bücher aus und du bleibst hier und versuchst die Stundenpläne zu ergattern.“
Sie nickte kurz und sah wieder besorgt auf die Schlange vor sich. „Ich sehe es noch kommen, dass wir hier rum stehen und nicht wissen, wo wir hin müssen.“
Mit einem Ruck entriss ich ihr den Ausweis und eilte davon. „Wir treffen uns an den Spinten“, rief ich noch über die Schulter, bevor ich um die nächste Ecke bog.

Zu meiner Erleichterung war die Schlange vor der Bücherei wesentlich kürzer und es dauerte nicht lange, bis ich an der Reihe war. Eine Lehrerin mit dicker Hornbrille und strengem Haardutt beäugte mich skeptisch, als ich ihr meinen und Eleanors Ausweis übergab. Diese Frau hatte sich also genauso wenig weiterentwickelt, wie das Umweltbewusstsein der Schüler mit ihren Autos.
Jedes Schuljahr stand ich vor dieser Frau und jedes Mal bombardierte sie mich mit bösen Blicken. Auch wenn ich nun ein Mitglied der Gesellschaft war, so würde ich doch immer noch wegen einem Eselsohr in irgendeinem Schulbuch eine Strafpredigt bekommen.
„Melissa Griffin?“, knurrte sie mich an.
„Ja, das bin ich.“, gab ich leise zurück, in der Hoffnung, sie würde nicht auch noch an meinem Namen irgendetwas auszusetzen haben. Sie warf mir einen kurzen, skeptischen Blick zu, bevor sie mir meine Bücher in die Hand drückte und ihre Aufmerksamkeit auf den zweiten Schülerausweis richtete.
„Und Eleanor Simmons? Bist du das auch?“
Ich schluckte. „Äh, nein, das ist meine Freundin. Sie holt die Stundenpläne im Sekretariat. Wissen Sie, es ist überall so viel los und wir dachten uns, dass ....“
„Bücher werden nur persönlich ausgehändigt“, schnitt sie mir das Wort ab und knallte Eleanors Ausweis auf meinen Bücherstapel. Bevor ich noch irgendetwas erwidern konnte, keifte sie schon bedrohlich. „Der Nächste!“

Unter der Last der Bücher wankte ich die Schulflure entlang, immer darauf bedacht nicht über ein paar Schüler oder Taschen zu stürzen, die kreuz und quer in den Gängen herumlagen.
Von weitem konnte ich unsere grauen, wenig ansprechenden Spinte sehen. Eleanor war noch nicht da. Das Gewicht der Bücher drückte mir auf die Arme und ich beschloss, meine Bücher erst einmal zu verstauen und dann zum Sekretariat zurückzukehren. Ich quetschte mich an Schülerscharen vorbei, den Blick fest auf das Ziel gerichtet. Zu früh glaubte ich alle Hindernisse erfolgreich umgangen zu haben. Aus den Augenwinkeln konnte zwar noch sehen, wie eine Person genau auf mich zugerannt kam, doch zum Ausweichen war es zu spät.
Mit enormer Wucht stießen wir zusammen. Nur mit Mühe konnte ich das Gleichgewicht halten, doch meine Bücher flogen in hohem Bogen durch die Luft, bevor sie verstreut vor mir auf den Boden klatschten.
„Nicht das auch noch!“, stöhnte ich leise und machte mich daran die Bücher wieder einzusammeln.
„Tut mir leid, ich habe dich zu spät gesehen.“ Ein großer Junge mit blondem Haarschopf stand neben mir und lächelte mich entwaffnend an. Wütend begegnete ich seinem Blick.
„Statt dich zu entschuldigen, könntest du mir auch einfach helfen!“
Schlagartig verschwand sein Lächeln und er starrte mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen an.
Habe ich mich so sehr im Ton vergriffen? Nein! Der kann mich doch nicht einfach über den Haufen rennen und dann zu sehen, wie ich über den Boden krieche!
Ich senkte den Blick und setzte damit fort, die Bücher wieder einzusammeln. Weiterhin spürte ich seinen Blick auf mir, doch ich versuchte ihn zu ignorieren. Was bildet der sich überhaupt ein! Mühsam richtete ich mich mit dem Stapel wieder auf und warf ihm einen feindseligen Blick zu. Schlagartig drehte er mir den Rücken zu und ging davon.
„Tut mir wirklich leid“, murmelte er noch kurz und verschwand in der Schülermenge. Wie vor den Kopf gestoßen stand ich da und sah ihm nach.

„Hey Geburtstagskind, was hast du denn mit dem Kerl angestellt?“
Ruckartig drehte ich mich um und um ein Haar wären mir die Bücher wieder aus der Hand gefallen. An einem der Spinte lehnte Alex und grinste lässig zu mir hinüber.
Ich verdrehte die Augen. „Keine Ahnung, was der für Probleme hat“, stieß ich immer noch wütend hervor.
„Naja, ist ja auch egal. Lass dich mal ansehen.“ Wie ein Geier umkreiste er mich und sah mich prüfend von oben bis unten an.
„Verschlafen, hm?“
„Sieht man das?“ Ich erinnerte mich an meine nassen Haare und mein nicht zusammenpassendes Outfit.
„Äh, - fast gar nicht“, lachte er und kniff ein Auge zu. „Wir sollten uns jetzt aber beeilen, der Unterricht geht gleich los.“
„Ich weiß noch nicht, was ich in der ersten Stunde habe. Eleanor steht wahrscheinlich immer noch im Sekretariat.“
Aus seiner Tasche kramte Alex einen ramponierten großen Zettel. „Sag das doch. Wir haben jetzt Biologie. Was Eleanor hat, weiß ich allerdings nicht.“ Ich nickte, sie hatte dieses Fach schon im letzten Schuljahr nicht belegt.
„Verstau deine Bücher, wir müssen jetzt echt los. Du weißt wie Mrs. Peterson auf Zuspätkommer reagiert.“
Es war nicht schwer sich an die letzte Strafe zu erinnern, die sie uns aufgetragen hatte.
„Einen Monat lang die sterblichen Überreste sezierter Tiere wegräumen- das vergesse ich nicht so schnell“, brummte ich und beeilte mich, die Bücher im Spint zu verstauen.
Um das Schicksal nicht herauszufordern, entschied ich, dass es keinen Sinn hatte, länger auf Eleanor zu warten. Sicher würde ich sie in der Pause treffen.


Gerade noch rechtzeitig stolperten wir ins Klassenzimmer. Alle Anderen saßen bereits mit gezückten Heften und Stiften auf ihren Plätzen. Sicherheitshalber zog ich den Kopf ein und ging hastig hinter Alex zu zwei freien Plätzen in der letzten Reihe, ohne einen Blick zum Lehrerpult zu werfen.
Jeden Moment erwartete ich eine Standpauke, weil ich noch nicht saß - Weil ich noch nicht saß, meine Sachen noch nicht ausgepackt hatte und nicht erwartungsvoll an die Tafel blickte.
Doch es folgte kein Gezeter. Nervös kramte ich in meiner Tasche. Im Bruchteil einer Sekunde stellte ich fest, dass sämtlicher Inhalt für den Unterricht überhaupt nicht zu gebrauchen war. Neben Sonnencreme und einem Handtuch fand ich lediglich die diesjährige Schullektüre „Macbeth“ von Shakespeare, die ich zwar in guter Absicht für den Strand eingepackt, aber seitdem auch nie wieder angefasst hatte.
Leise stöhnte ich auf. Hilfesuchend blickte ich zu meiner Linken. Doch meine Hoffnung wurde jäh zerstört. Auch Alex hielt es nicht für nötig, sich in diesem Jahr in Sachen Unterrichtsvorbereitung zu verbessern. Sein Platz war leer, wie immer, doch im Gegensatz zu mir, strahlte er pure Gelassenheit aus. Gerade so, als ob vor ihm eine halbe Bibliothek von Biologiebüchern liegen würde. Verschränkt legte ich die Arme auf den Tisch und beugte mich vor. Das würde zwar nicht von dem Fehlen meiner Unterlagen ablenken, doch zumindest sah ich nun halbwegs interessiert aus.
„Sag mal, ist das nicht der Typ von vorhin. Der, der Körperkontakt sucht?“, witzelte Alex neben mir.
Erst jetzt wagte ich es, nach vorne zu blicken. Am Pult stand ein junger Mann, der sich angeregt mit der unbeliebtesten Lehrerin der Schule unterhielt. Ihm hatten wir also die Schonfrist zu verdanken.


Meiner Meinung nach viel zu früh beendeten die beiden ihr Gespräch. Der Junge drehte sich um und lief an den Bänken vorbei, zielgerichtet auf die letzte Reihe zu. Einige Tische von mir entfernt ließ er sich auf einem Stuhl nieder. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn neugierig. Er ist also ein neuer Schüler. Überrascht stellte ich fest, dass auch er, ebenso wie Alex keine Anstalten machte, ernsthaft am Unterricht teilnehmen zu wollen. Sein Tisch blieb leer. Gelassen lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück und ließ seinen Blick durch die Klasse schweifen.
„Melissa! Würdest du uns bitte erläutern, was auf dieser Folie abgebildet ist?“
Erschrocken wandte ich den Blick nach vorne. Alle Blicke begegneten mir. In einigen konnte ich Mitleid erkennen, in den anderen Ratlosigkeit und in einem pure Schadenfreude.
Mrs. Peterson stand, das Notenheft in der Hand haltend an der Tafel und starrte mich triumphierend an. Mühsam zwang ich mich. meinen Blick von ihrem verhärmtem Gesicht abzuwenden und mich auf die Folie zu konzentrieren.
„Also, was ist das?“, bohrte sie nach.
Ich weiß es nicht! Panisch versuchte ich die schwarzen Linien, die für mich einfach keinen Sinn ergeben wollten, zu einem Bild zusammenzufügen, doch es gelang mir nicht.
Fragend blickte ich zu Alex, doch sein ratloser Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich wohl wieder einen Rückschlag würde einstecken müssen.
Ich resignierte und starrte auf meinen Tisch. „Ich...“, stammelte ich kaum hörbar.
Ein Karyogramm! Erschrocken sah ich auf und starrte in die Runde. Na los, sag es!
Verwundert betrachtete ich die Folie, bevor ich erneut zu einer Antwort ansetzte.
„Ich denke, es ... es ist ein Karyogramm.“
Verwunderung löste die Schadenfreude in ihrem Blick ab. „Das ist richtig“, murmelte sie und sah mich dabei misstrauisch an. „Scheinbar haben sie verstanden, dass sie wegen diesem Fach heute beinahe nicht hier sitzen würden.“ Der verächtliche Unterton in ihrer Stimme hinderte mich daran, etwas zu erwidern.
Bevor sie sich wieder dem Rest der Klasse zuwandte, meinte ich sie noch einmal hämisch Lächeln zu sehen.
Erleichtert atmete ich aus. Für heute würde sie mich in Ruhe lassen. Sie hatte ihre Chance vertan, mich zu blamieren.
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du gelernt hast. Wir hätten uns doch zusammen hinsetzen können.“ Ein beleidigter Alex hatte sich zu mir gebeugt und sah mich nun fragend an.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, woher ich das wusste. Es war auf einmal da.“
Zögernd sah ich ihn an. Ungläubig betrachtete er mich.
„Geraten hast du also, hm?“ Wieder zuckte ich nur mit den Schultern und wandte den Blick von ihm ab. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass sich keiner mehr für mich interessierte. Alle Blicke waren wieder nach vorne an die Tafel gerichtet.
Erschrocken fuhr ich zusammen. Bis auf einer. Zwei braune Augen starrten mich weiterhin an, so als ob ich noch immer keine Antwort auf die Frage gegeben hätte. Immer noch in seiner lässigen Haltung dasitzend, fixierte er mich.

Grimmig sah ich ihn an, doch ich konnte seinem Blick nicht stand halten. Sein Blick huschte über mein Gesicht und blieb an meinen Augen hängen. Seine Augen verengten sich und er legte die Stirn in Falten. Es schien fast so, als ob er versuchte in mir zu lesen. Als er keine Anstalten machte, sich wieder dem Unterricht zuzuwenden, wandte ich den Kopf ab. Dieser Junge war ziemlich merkwürdig und ich fragte mich, was ich ihm getan hatte, dass er seine Merkwürdigkeit ausgerechnet mir offenbaren musste.
Während der restlichen Stunde spürte ich seinen Blick, doch ich drehte mich nicht um. Die ganze Stunde hatte ich stur gerade aus gesehen und doch nicht mitbekommen, worum es im Unterricht gegangen war. Meine Gedanken waren zu dem Traum in der letzten Nacht abgeschweift und nur das Klingeln der Pausenglocke hielt mich davon ab, mir die Schlangen in ihren Einzelheiten vorzustellen.


* * *




Die Arme verschränkt und den Blick in die Ferne gerichtet stand Cassius am Fenster des Arbeitszimmers seines Meisters. Ungeduldig warf er einen Blick über die Schulter, doch sein Meister hatte die Augen immer noch geschlossen. Fast so als ob er schlafen würde. Cassius schnaubte kaum hörbar und wandte sich wieder dem Anblick zu, der sich ihm beim schwachen Mondlicht bot.
Das Kloster lag auf einem Berg, abgeschottet von jeglicher Zivilisation. Nur ein kleiner steinerner Streifen schlängelte sich über den Schotter bis hinunter in die Täler mit ihren saftigen Wiesen, die durch den Morgentau zauberhaft glänzten.
Kein Geräusch konnte er wahrnehmen. Alles lag in vollkommener Stille. Keine Schritte in den Gängen, kein Windgeheul, ja nicht einmal das Schreien eines Adlers – Nichts.

Fester umschlang er seinen Körper bei diesem Anblick. Wie er diese Einöde doch hasste Tag für Tag. Jeden Morgen die selben Gesichter, jeden Morgen die selben Bräuche, jeden Morgen die selbe eine Pflicht. Lange hatte er gegen seine Gabe rebelliert. Er wollte sie nicht. Doch was sollte er tun. Sie war ein Teil von ihm und so hatte er begonnen das Beste daraus zu machen. Er biederte sich seinem Meister an, stach durch hervorragende Leistungen hervor. Und wofür? Nur um das Privileg zu besitzen, dass Kloster dann und wann zu verlassen, wenn es ihm aufgetragen wurde.
Ein scharfes Räuspern ließ ihn zusammenzucken. Schnell wandte er dem Fenster den Rücken zu. Sein Meister fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick. „Hol mir eine Landkarte“, krächzte er bestimmt hervor und zeigte dabei herrisch mit seinem knöchrigen Finger auf eines der riesigen Bücherregale, die bis hoch an die Decke reichten. Cassius verneigte sich hastig und schritt an die Stelle, auf die sein Meister gedeutet hatte. Schon oft hatte er diese Karten für ihn zu den unterschiedlichsten Anlässen hervorgeholt und kannte sie wie seine Westentasche. Ein Blick genügte, um die richtige ausfindig zu machen. Sachte breitete er sie auf dem riesigen Mahagonischreibtisch aus und sah seinen Meister fragend an. Langsam kam dieser näher und beugte sich über sie.

Mit kreisförmigen Bewegungen strich er mit seinem Finger über das vergilbte Papier. Seine mit Altersflecken übersäten Hände zitterten. Immer kleiner wurde der Kreis, den er zog. Immer schneller ging sein Atem.
„Hier!“, sein Finger war auf der Karte zum Stillstand gekommen und zeigte nun auf einen mit schwarzer Tinte geschriebenen Schriftzug. ROM.

Cassius hatte verstanden und machte sich daran, die Karte wieder einzurollen, doch sein Meister hob abwehrend die Hand.
„Warte!“ Verwundert sah Cassius ihn an. Der Alte hatte seine Stirn in tiefe Falten gelegt und zog mit seinem Finger wieder Kreise auf dem Papier.
„Es fühlt sich anders an“, flüsterte er nach einiger Zeit mehr zu sich selbst. „Ich bin nicht sicher.“
„Was ist los, Meister?“, unterbrach ihn Cassius.
Der Alte schüttelte kaum merklich den Kopf, dann zeigte er erneut auf eine Stelle in der Karte. „Ich möchte, dass du auch dort nach dem Rechten siehst.“
Cassius beugte sich vor und verengte die Augen zu Schlitzen.
„Michigan, Meister?“
Doch dieser hatte sich schon von seinem Schreibtisch abgewandt und stolzierte ans Fenster.
„Finde ihn. Egal wie. Nur tu es bald.“ Seine Stimme klang ruhig und klar.
Cassius richtete sich auf.
„Das werde ich. Und wenn ich ihn gefunden habe?“
Er wusste die Antwort bereits, doch er wollte sie nicht denken. Er wollte nicht selbst auf diese Idee kommen.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Meisters.
„Dann tötest du ihn.“ Er sprach es mit einer solchen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit aus, als ob er einem kleinen Kind erzählen würde, dass auf den Frühling der Sommer folgt.

Cassius überkam eine Gänsehaut, doch er ließ es sich nicht anmerken.
„Und“, er stockte und musste schlucken bei dem Gedanken an das, was er tun würde, „womit?“
Ein lautes Lachen brach aus dem Mund des Alten heraus. Langsam kam er näher und blieb vor dem verdutzten und erschütterten Cassius stehen.
„Du brauchst keine Waffe, um jemanden zu töten.“ Der Meister drückte Cassius seine Hand auf die Brust. „Du bist die Waffe selbst.“


* * *




Kaum hatte die Pausenglocke das Ende meiner Leiden eingeläutet, sprang ich auf und eilte aus dem Klassenraum. An der Tür blieb ich für einen Moment stehen und schielte so unauffällig wie möglich zurück in die letzte Reihe. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Alex versuchte es mir gleich zu tun. Er griff hektisch nach seiner Tasche mit der festen Absicht als zweiter den Raum des Schreckens hinter sich zu lassen. Doch seine Tasche machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Haltegriff riss mit einem leisen surrenden Geräusch und der ganze Inhalt entleerte sich auf dem Boden.

Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass Alex überhaupt Schulsachen dabei hatte. Wie ein Ertrinkender, der nach einem rettenden Holzstück suchte, robbte er über den Boden. Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht lauthals los zu lachen.
Kurz schloss ich die Augen, in der Hoffnung, meine Fassung wieder zu erlangen. Langsam atmete ich ein und aus, aber das Bild eines krabbelnden Alex hatte sich fest in mein Gehirn gebrannt und vermutlich würde ich es so schnell nicht mehr los werden.
Als ich der Meinung war, die erste Lachattacke halbwegs gut überstanden zu haben, öffnete ich die Augen wieder.
Erschrocken fuhr ich zurück. Der Blonde hatte sich zwischen Alex und mich gestellt und sah mich aufmerksam an. Wortlos drehte ich mich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Was sollte nun das schon wieder? Ich war verwundert über seine dreiste Art. Noch nie hatte ich erlebt, dass jemand so unverhohlen einen anderen beobachtet hatte.

„Mel, warte!“, hörte ich Alex hinter mir rufen. Doch ich dachte nicht daran, langsamer zu laufen. Im Gegenteil. Mein Schritt beschleunigte sich zunehmend.
Hinter mir hörte ich ein Keuchen, dass mir immer näher zu kommen schien. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und hielt mich fest.
Genervt fuhr ich herum.
„Was willst du von mir!“, schnauzte ich meinen Gegenüber an, der beinahe in mich hineingelaufen wäre.
Verdutzt sah Alex mich an, bevor er eine beleidigte Miene aufsetzte.
„Eigentlich wollte ich nur, dass du wartest.“
Erleichtert atmete ich aus.
„Es tut mir Leid, Alex. Ich dachte, du wärst jemand anderes.“
Lachend winkte er ab und ging weiter.
Wie so oft war ich froh, dass Alex nicht jede meiner seltsamen Anwandlungen für einen persönlichen Angriff hielt. Er nahm es als gegeben hin und machte sich zu einem späteren Zeitpunkt einen Spaß daraus.
„Was hast du jetzt?“, fragte ich, als ich wieder zu ihm aufgeschlossen hatte.
„van Gogh“, grunzte er, während er sich einen Müsliriegel in den Mund schob. „Und du?“
„Beethoven“, gab ich knapp zurück.
„Dadadadaaaaaaa dadadadaaaaa“, schmetterte er mit vollem Mund, worauf hin ich ihm in die Seite boxte.
Wir waren beide sehr zufrieden mit unserer Fächerwahl. Während Alex irgendwelche Leinwände mit Farbklecksen verzierte und über blaue Perioden sprach, beschäftigten Eleanor und ich uns mit der Tonvielfalt einer Triangel.
„Wir sehen uns dann in der Mittagspause“, rief Alex und verschwand in einem der Korridore.
Ich hatte einen wesentlich weiteren Weg zurück zu legen und je weiter ich kam, desto mehr Klassen verließen ihre Räume und überfluteten die Flure.
Mühsam schlängelte ich mich an kleinen Kindern und ihren riesigen Schultaschen vorbei, bis ich schließlich bei den Musikräumen angekommen war.
Schon von draußen hörte ich, wie mein Lehrer voller Elan in die Tasten des Flügels haute.
„Angeber“, murmelte ich und betrat den Raum.
Eleanor war bereits da und so ließ ich mich schwer schnaufend neben ihr nieder.
Skeptisch sah sie mich an.
„War’s so schlimm?“
Ich legte den Kopf in den Nacken und bedeckte mein Gesicht mit den Händen.
„Furchtbar“, nuschelte ich.
Mitfühlend legte sie mir eine Hand auf die Schulter.
„Hat sie dich wieder irgendwas gefragt und du wusstest es nicht? Ich hab dir von vornherein gesagt, dass du besser daran tätest, zu lernen, sonst wird das nie was. Damit verschaffst du ihr nur Genugtuung und außerdem...“, Eleanor redete sich gerade erst warm.
Seit ich sie kannte, hatte sie ab und zu das Bedürfnis einem anderen einen Vortrag zu halten und so klinkte ich mich einfach aus.
Mein Gehirn machte eine vorgezogene Mittagspause und ich träumte ein wenig vor mich hin.

„Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“, brüllte sie mir in den Gehörgang. Innerlich stöhnte ich auf. Musste sie mich so erschrecken?!
Statt zu antworten nickte ich bloß.
„Dir ist schon wieder alles egal. Willst du dich weiterhin von ihr so bloßstellen lassen?“
Ich spreizte leicht die Finger und lugte hindurch. Eleanor warf mir einen fassungslosen Blick zu und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich hab die Antwort doch aber gewusst“, murmelte ich.
Eleanor beugte sich vor.
„Was? Ich glaub, ich hab mich gerade verhört. Könntest du das liebenswürdiger Weise noch einmal wiederholen, ohne dass ich Angst haben muss, dass deine Finger mit deinem Gesicht zusammen wachsen?“
Genervt rollte ich mit den Augen, folgte ihrer Aufforderung aber und ließ die Hände sinken.
„Ich hab die Antwort gewusst“, wiederholte ich nun wesentlich lauter.
„Das freut uns wirklich alle ungemein Miss Griffin, ich wäre ihnen aber trotzdem überaus dankbar, wenn wir uns nun wieder der Antwort aller Fragen zuwenden könnten. Nämlich: Musik.“
Beethoven, so taufte ich ihn, weil er mit einer solchen Wucht in die Tasten haute, dass wohl selbst der echte Beethoven zu seiner Zeit die Musik hätte hören können, machte eine ausladende Bewegung und verwies an die Tafel.
Allgemeines Gekicher war zu hören und auch Eleanor gluckste verdächtig vor sich hin.

„Du hast es also gewusst?“ flüsterte sie mir einige Minuten später ins Ohr. In der Klasse war es mucksmäuschenstill. Bereits innerhalb der ersten zehn Minuten hatte uns Beethoven eine schriftliche Arbeit aufgehalst.
Ich nickte knapp und versuchte mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Naja, ich versuchte es, danach aussehen zu lassen.
„Ich dachte, du hättest nicht gelernt“, fragte mich Eleanor, die keine Anstalten machte, sich überhaupt mit dem Blatt vor ihr zu beschäftigen.
„Ja, hab ich auch nicht wirklich“, gab ich zu „aber ich wusste es trotzdem – irgendwie.“
„Wie jetzt, irgendwie?“, hakte sie weiter nach.
„Na, ich wusste es eben. Wie das eben so ist, wenn man was weiß. Man weiß es eben.“
Resignierend legte ich den Stift aus der Hand. Es hatte keinen Zweck. Eleanor würde nicht eher Ruhe geben, bis ich ihr irgendwas davon erzählt hätte, dass ich das Thema so unglaublich spannend fand, dass ich es mal irgendwo auf freiwilliger Basis nachgelesen hatte. Und durch Zufall wurde ich genau zu diesem Thema befragt.

„Hmpf“, grummelte Eleanor und stützte sich mit ihren Ellenbogen auf dem Tisch ab. Sie war unzufrieden mit der Begründung.
Ein lauter Ton hinter uns ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Erschrocken hielten Eleanor und ich uns die Ohren zu und drehten uns um. Hinter uns stand Beethoven mit funkelnden Augen und hämmerte wie ein Verrückter auf eine kleine Triangel ein.
„Jetzt ist Ruhe mit dem Getratsche, verstanden!“
Immer noch vollkommen perplex brachten wir nicht mehr als ein Nicken zu Stande.


* * *




Andächtig fuhr Cassius mit den Händen über den schlanken Körper der Ducati.
Dies hier war sein Mittel zur Freiheit. Der Gedanke ließ ihn zittern und er schloss die Augen, um wieder zu sich zu kommen.
Alles wird gut. Du musst nur diesen Auftrag zufriedenstellend erfüllen und dann wirst du in Zukunft das Kloster so oft verlassen können, wie es dir beliebt.
Tief atmete er ein. Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase und er begann zu träumen.
Was das wohl war, was er da roch? Angestrengt dachte er nach und sog den Duft tief in sich ein. Irgendwas mit Mandeln. Kaum merklich leckte er sich mit der Zunge über die Lippen. Das wäre jetzt was.

Nein!, schrie ihn sein Inneres an. Erschrocken fuhr er aus seiner Träumerei heraus. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er stand hier mitten auf der mit Pflastersteinen gebauten Hauptstraße des nächstgelegenen Dorfes, neben einem Bäcker und träumte vor sich hin. Zaghaft sah er die Straße entlang, die sich am Fuße der Berge verlor. Sein Blick wanderte höher. Weit oben thronte das Kloster und sah aus seinen hohen, verdunkelten Fenstern spöttisch zu ihm hinunter.
Was, wenn er mich gesehen hat, wie ich hier stehe – untätig – träumend.
Wenn, wenn, wenn ...!
In ihm stieg die Übelkeit hoch. Keine Frage, natürlich hatte er ihn beobachtet. Er wusste alles, ließ niemanden aus den Augen und erst recht niemanden, dem er einen Auftrag erteilt hatte.
Wie zur Bestätigung begann es in Cassius Tasche zu vibrieren. Er schluckte. Es gab nur einen, der diese Nummer hatte und das war der, der ihm das Telefon gegeben hatte.
Mit zitternden Händen zog er es heraus. Die Nummer war unterdrückt.
Tief atmete er ein, bevor er das Gespräch annahm.
„Ja?“, seine Stimme klang ungewöhnlich hoch und er biss sich auf die Zunge.
Zeig keine Schwäche, mahnte ihn sein Verstand.
Am anderen Ende herrschte vollkommene Stille.
Cassius sammelte alles, was er in diesem Moment an Mut aufbringen konnte und setzte zu einem Erklärungsversuch an.
„Herr, ich...“
„Finde ihn!“, brachte ihn die kühle Stimme seines Meisters zum Schweigen. Unwillkürlich fröstelte er.
„Sofort!“, fügte der Meister harsch hinzu.
Bevor Cassius noch etwas erwidern konnte, hörte er auf der anderen Leitung schon ein leises Klicken. Das Gespräch war beendet. Es gab nichts weiter zu sagen.

Eingeschüchtert warf er noch einmal einen Blick hoch zum Kloster. In einem der Zimmer brannte Licht und er meinte eine Gestalt im Fenster stehen zu sehen.
Sein Herz machte einen Aussetzer und mit einem Ruck wandte er sich um. Die Kette an seinem Hals baumelte durch die heftige Bewegung hin und her. Vorsichtig nahm er den Anhänger in die Hand und betrachtete ihn. Es war ein altes Familienerbstück aus Silber angefertigt und zeigte eine Raubkatze im Sprung, die sich gerade auf ihre imaginäre Beute stürzte. Cassius legte seine Hände in den Nacken und öffnete den alten Verschluss. Es war wohl besser, wenn er sie außerhalb des Klosters nicht tragen würde. Lautlos ließ er sie in seine Tasche gleiten und beugte sich über das schwarze Ungetüm vor ihm.
Mit zitternden Händen drehte er den Zündschlüssel. Ein leises metallisches Schnurren ertönte.
Hastig schwang er sich auf das Motorrad und gab Gas.
Mit einem letzten Blick in den Seitenspiegel, indem er das immer kleiner werdende Kloster sehen konnte, brauste er die Dorfstraße hinunter in die dahinschwindende Nacht.


Aus dem Nichts




II. Kapitel

Aus dem Nichts




Die restlichen Minuten vergingen wie im Flug. Nur gelegentlich wandte ich meinen Blick vom Fenster ab und ließ ihn durch die Klasse schweifen. Während Beethoven wie ein junger Gott an der Tafel herumturnte, waren die meisten Schüler ganz offensichtlich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. So wie ich.

Die Stunde verging, die Mittagspause kam, doch meine Gedanken blieben.
Verträumt saß ich mit Eleanor und Alex in der Cafeteria und durchstocherte mein Schnitzel mit Pommes. Geistesabwesend starrte ich aus den großen weiten Fenstern. Die Sonne schien und die Kinder aus den unteren Klassen rannten schreiend im Grünen herum und lachten. Es war ein ganz gewöhnlicher Frühlingstag.

Nein. Nicht ganz, schoss es mir durch den Kopf. Es ist dein Geburtstag. Zaghaft lächelte ich vor mich hin. Geburtstag. Ein Tag zum Feiern. Meine Freunde, meine Familie und ich.
Meine Familie? Mein Lächeln verschwand und ich schluckte schwer. Meine Freunde, meine Grandma und ich, korrigierte ich meinen Gedanken.
Ich spürte wie die Traurigkeit in mir hochstieg und fühlte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Ganz ruhig, nicht weinen. Heute ist doch ein schöner Tag, beruhigte mich mein Kopf, doch mein Herz sagte das Gegenteil. Ich wagte nicht, meine Augen zu schließen, aus Angst, mir könnte eine Träne entkommen und so heftete ich meinen Blick fest auf einen Punkt in der Ferne.
„Mel, geht’s dir nicht gut? Hallo?“
Vor Schreck verlor ich unbemerkt eine Träne, die auf meiner Hand landete, aber sofort von meiner Haut eingesogen wurde.
Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken und drehte mich um. Besorgt sahen mich meine Freunde an. Ich lachte überschwänglich, um sie zu beruhigen, doch mein Inneres blieb davon vollkommen unberührt. Eleanor warf mir einen letzten skeptischen Blick zu, bevor sie sich wieder an Alex wandte.
„Ich hasse meinen Stundenplan“, quengelte sie. „Wir haben so gut wie kein Fach gemeinsam.“
Alex lachte. „Ja, jetzt bist du wohl mal ganz auf dich allein gestellt“ und streckte ihr keck die Zunge heraus.
Leise lachte ich, doch es war eher ein lustloses, resignierendes Lachen.
„Haben wir nicht Mathe zusammen?“, fragte ich beide, doch sie schüttelten bloß den Kopf.
„Wir haben uns zwar alle drei für den selben Kurs eingeschrieben, aber der war wohl heillos überfüllt, so dass wir auf andere, verschiedene Kurse aufgeteilt worden sind.“
„Zwei Stunden Mathe ohne euch, das überleb ich nicht“, stöhnte ich und stütze meinen Kopf auf meine Hand.
„ Ich komm gleich wieder. Lauft nicht wieder weg.“ Eleanor stand auf und schlenderte aus der Cafeteria.
Verwundert sah ich ihr nach und warf Alex einen fragenden Blick zu. Der zuckte nur kurz mit den Schulter, bevor er sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Essen, hingab.
Beneidenswert, dachte ich bei mir. Er kann essen was er will, er wird immer einen Traumkörper haben.

„Du hast da was“, schmatzte Alex und deutete auf meine Hand. Verwirrt drehte ich sie um. Ein schwarzer Fleck prangte genau auf meinem Handrücken.
„Hm“, brachte ich verwundert hervor. Wo kam der denn her? Hastig wischte ich meine Hand an meiner Jeans ab.
Zufrieden hielt ich Alex meine Hand unter die Nase. „Weg!“

Knapp nickte er und aß weiter. Die restliche Zeit der Mittagspause verbrachten wir schweigend. Erst in den letzten Minuten kam Eleanor zurück und setzte sich gut gelaunt wieder an unseren Tisch. Stirnrunzelnd sah ich sie an. Was war denn mit ihr los. Hatte sie vielleicht einen Verehrer, von dem ich nichts wusste. Nein, unmöglich! Sie erzählte mir doch immer alles.
Als sie meinen Blick bemerkte, warf sie mir ein scheues Lächeln zu. Also doch, sie war verliebt! Neugierig drehte ich mich um und betrachtete jeden Typen, der mir begegnete. Wer es wohl war?

„Was machst du denn heute noch, an deinem Ehrentag?“
Widerwillig drehte ich mich wieder zu Eleanor um. Ich hatte gerade einen Kandidaten ausfindig gemacht. Konnte die Frage nicht warten?
Ich zuckte mit den Achseln.
„Keine Ahnung was Granny so geplant hat. Ich habe sie heute überhaupt noch nicht gesehen.“
„Du darfst nur heute nicht zu lange feiern“, warf sie ein.
Fragend sah ich sie an.
„Wieso?“
Eleanor lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du bist jetzt volljährig. Das hat seine positiven und negativen Seiten.“
Genervt zog ich eine Augenbraue hoch.
„Das Positive dürfte dir bekannt sein, das Negative scheinbar nicht.“
Ich rollte mit den Augen.
„Komm zum Punkt, Eleanor.“
Geheimnisvoll lehnte sie sich vor und flüsterte, dass nur Alex und ich es hören konnten.
„Diese Nacht hält mein Vater die Ostermesse und ich wette, dass deine Oma dich da mit hinzerren wird.“
Alex begann laute Geräusche von sich zu geben. Welche genau es waren, konnte ich nicht sagen. Es schwankte zwischen Würgen, Lachen und Husten. Das hatte man davon, wenn man unaufhörlich Essen in sich reinschaufelte.

Erst allmählich wurde mir die Tragweite des eben Gesagten bewusst.
„Messe?“ Ich zog das Wort angeekelt in die Länge. „Och nö.“
Verzweifelt schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen. „Muss das sein?“
Eleanor grinste und sagte mit beleidigter Stimme: „Hey, mein Vater hält die, bisschen mehr Respekt und Begeisterung wenn ich bitten darf.“
Ich konnte ihr ansehen, wie sie sich zusammenreißen musste, nicht lauthals loszubrüllen.

Hilfesuchend griff ich nach dem einzigen Strohhalm, der mir in den Sinn kam.
„Du kommst doch mit, oder?“
Doch der knickte unter meiner Last sofort zusammen.
„Nö.“, grinste sie. „Ich bin noch nicht volljährig und die Zeremonie ist nur für die `Erwachsenen´.“
„Ja, aber du bist seine Tochter. Ich finde, du musst da auch hingehen. Die Familie repräsentieren sozusagen.“
Der Strohhalm zersplitterte in seine Einzelteile. Es war aussichtslos. Ich würde da nicht drum herum kommen. Meine Grandma war sehr gläubig und in mir wuchs der Verdacht, dass sie sich über meine Volljährigkeit mehr freute, als ich mich selbst.
Wieder stöhnte ich. Verdammt!

„Ach ja, ich soll dich von meinem Vater zum Essen einladen. Dann feiern wir ein bisschen“, unterbrach Eleanor meine Selbstmitleidsphase.
Vorfreudig lächelte ich. „Super, wann denn?“
Eleanor grinste. „Naja, wenn du den morgigen Tag heil überstehst, dann würde ich sagen am Samstag, wenn das ok für dich ist.“
Ich nickte und stand auf. Gemeinsam wankten wir mit unseren Tabletts zur Geschirrabgabe.
„Dann bis nachher am Auto“, verabschiedete ich mich und trottete los Richtung Naturwissenschaften.

Kaum hatte ich die Cafeteria verlassen, spürte ich wie mein Herz zu rasen begann. Etwas drückte gegen meine Schläfe und verursachte gewaltige Kopfschmerzen. Hektisch blieb ich stehen und lehnte mich gegen die Wand. Mir wurde schwindelig. Kurz schloss ich die Augen und atmete ruhig. Auf meiner Stirn bildete sich kalter Schweiß. Hilfesuchend drehte ich mich um, doch es war weit und breit niemand zu sehen. Ein paar Meter vor mir konnte ich die Toiletten ausmachen. Mühsam wankte ich darauf zu, während mein Herz gerade ein Rennen veranstaltete.
Kraftlos drückte ich gegen die Tür, die zu meiner Erleichterung trotzdem aufschwang. Ich trat an eines der Waschbecken und stütze mich ab. Mein Atem ging stoßweise und ich zitterte am ganzen Körper.
Was war nur los mit mir? Panisch sah ich den Spiegel. Meine Haare hingen wirr in meinem Gesicht und meine Pupillen waren zu kleinen Punkten verengt, dass ich sie kaum noch sehen konnte. Entkräftet ließ ich mich an der nächstgelegenen Wand hinuntergleiten und verbarg meinen Kopf zwischen den Knien.

Nach wenigen Minuten stand ich auf. Die Übelkeit, die Kopfschmerzen, das Herzrasen – alles verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Selbst meine Pupillen hatten wieder eine normale Größe.
Ich ordnete meine Haare und setzte meinen Weg zu den Naturwissenschaften fort.
Der Unterricht hatte schon längst begonnen. Zaghaft klopfte ich an und öffnete langsam die Tür.
Ich lief wie gegen eine Wand. Neugierige Blicke begegneten mir, doch das war es nicht, was mich so erschütterte. Mit dem Rücken zur Klasse stand ein junger Mann mit der Kreide in der Hand an der Tafel und sah mich aus seinen braunen Augen aufmerksam an.
Wie angewurzelt stand ich da.
„Möchten Sie nicht reinkommen?“, fragte er freundlich und strich sich dabei eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Neben mir hörte ich ein leises Kichern. Reiß dich zusammen, mahnte ich mich.
Einen Fuß vor den anderen setzend betrat ich den Raum. Hektisch huschten meine Augen umher auf der Suche nach einem freien Platz. Seinen Blick im Rücken stolperte ich in eine der mittleren Reihen und setzte mich, sehr darauf bemüht, kein Geräusch von mir zu geben.

Dann hob ich den Blick von der Tischplatte. Immer noch sah er mich an. Dann nickte er mir zu.
„Gut, dann können wir ja jetzt weitermachen.“
Als er sich wieder der Tafel zu drehte, tippte ich meinen Tischnachbarn leicht an und flüsterte:
„Wer ist das?“
Noch ehe dieser Antworten konnte, ertönte von vorne eine Stimme.
„Ich bin ihr neuer Mathelehrer.“
Er hatte nicht einmal im Schreiben inne gehalten oder sich mir zugedreht. Es war fast so, als ob er nie geantwortet hätte.
Verdutzt sah ich ihn an. Ein Lehrer? Mein Lehrer?! Er machte so einen jungen Eindruck, höchstens ein, zwei Jähre älter als ich.
„Ich bitte Sie zum Thema nun folgende Aufgaben eigenständig zu bearbeiten, die ich Ihnen hier an die Tafel geschrieben habe“, wandte er sich wieder an die Klasse. „Wir werden sie dann am Ende der Stunde gemeinsam vergleichen.“
Um mich herum wurde in Taschen gekramt, mit Kugelschreibern geklickt, mit Blättern geraschelt und auf Taschenrechnertasten eingedroschen.

Dennoch konnte ich den Blick nicht von ihm wenden. Der Junge, der mich heute Morgen einfach umgerempelt hatte, der Junge, der mich mit Blicken malträtiert hatte, der sollte mein Lehrer sein? Fragend zog er eine Augenbraue hoch, als er meinen Blick erwiderte. Schnell begann ich in meiner Tasche zu kramen, doch an ihrem Inhalt hatte sich in den letzten Stunden nichts geändert. Wieder tippte ich meinem Nachbarn auf die Schulter, der mich genervt ansah.
„Äh, hast du eventuell ein Blatt für mich?“ Hastig gab er mir eines und drehte sich dann schnell wieder um.
Okay, dachte ich bei mir, heute ist wirklich nicht dein Tag. Leise seufzte ich und machte mich daran, die Aufgaben abzuschreiben. Doch konzentrieren konnte ich mich nicht. Meine Gedanken kreisten über meine Familie, meinen plötzlichen Schwächeanfall bis hin zu dem Typen.
Das sieht aber nicht nach einem Gleichungssystem aus!
Erschrocken blickte ich mich um. Alle waren in ihre Aufgaben vertieft, dabei hätte ich schwören können, dass gerade jemand etwas gesagt hatte. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Gestalt neben mir wahr und fuhr herum. Er stand neben mir, doch als ich ihn ansah, löste er seinen Blick von meinem Blatt und ging weiter.
Scheu sah ich ihm nach. Seltsam. Ich beschloss, mich doch den Aufgaben anzunehmen. Mathe war nun wirklich nicht mein schlechtestes Fach. Das müsste doch hinzukriegen sein.
Mein Blick wanderte auf mein Blatt und wieder spürte ich wie ich rot wurde. In Gedanken hatte ich das ganze Blatt mit Kreisen verziert.


* * *




Müde und hungrig fuhr Cassius auf den Parkplatz eines kleinen Cafes, das direkt an der Autobahn lag. Er hatte es nicht mehr weit. Laut der Beschilderung waren es nur noch wenige Kilometer bis zum Flughafen.
Und dort konnte er unmöglich in diesem Aufzug antanzen. Eilig klemmte er sich seine Tasche unter den Arm und betrat das Cafe. Die Leute nahmen keine Notiz von ihm. Nur ein Hund, der in der Nähe des Tresens bei seinem Herrchen saß, hob neugierig den Kopf.

Voller Abscheu begegnete Cassius dem Blick des Hundes. Wie er diese Viecher hasste. Seit er denken konnte, hasste er sie. Wie sie sabberten und bellten und mit ihrem Schwanz wedelten, wenn sie etwas wollten.
Wieder eines dieser göttlichen Geschöpfe, die die Welt nicht braucht, dachte er sich. Er warf dem Hund einen hasserfüllten Blick zu und knurrte kaum hörbar.
Leise begann der Hund zu winseln und versteckte sich hinter den Beinen seines Herrchens.
Cassius lachte in sich hinein. Angsthasen waren sie auch, diese Hunde.

„Guck mal Mama, ein Mönch“, schrie ein kleines Kind aufgeregt durch den Raum. Neugierig drehten sich ein paar Leute zu ihm um.
Cassius zuckte zusammen und eilte zügig auf die Herrentoilette, ehe noch mehr auf ihn aufmerksam wurden.
Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass die Kabinen alle leer waren und verriegelte die Tür. Es sollte ihn jetzt niemand stören.
Langsam ließ er die braune Kutte an sich heruntergleiten und trat nur mit einer Boxershorts bekleidet ans Waschbecken. Sein Körper war muskulös, was man unter der Kutte nicht vermutet hätte. Er trainierte hart für diesen Körper.
Sein Blick huschte über seine Bauchmuskeln und er musste lächeln. Als er jedoch sein Gesicht sah, verschwand der zufriedene Ausdruck sofort.
Es wunderte ihn, dass niemand außer dem Kind auf ihn aufmerksam geworden war, so wie er in der Öffentlichkeit aufgetreten war.
Er sah ungepflegt aus. Seine Augen zeigten deutliche Spuren des nächtlichen Aufbruchs und rasiert hatte er sich auch nicht. Er sah aus wie einer dieser Obdachlosen, die er bei seiner Fahrt an den Straßen liegen sah.

Aus der Tasche zog er ein weißes Hemd und eine hellblaue Jeans und schlüpfte hinein. Zufrieden sah er sich im Spiegel an. Er machte darin wirklich eine ausgezeichnete Figur.
Dann griff er in seinen Kulturbeutel und holte einen Rasierer hervor.

Die ganze Prozedur dauerte nicht lange und zu seiner Zufriedenheit störte ihn niemand.
Als er fertig war, blickte ihm ein völlig anderer Mann entgegen und er warf seinem Spiegelbild ein gewinnendes Lächeln zu. Wieder bückte er sich und zog aus seiner Tasche mehrere Papiere. Sein Meister hatte sehr schnell auf die Situation reagiert und erstaunlich viel in dieser kurzen Zeit bewirkt. In seinen Händen lagen mehrere Pässe aus unterschiedlichen Staaten.
„Mal sehen, wer wäre ich denn gerne“, flüsterte er amüsiert.
„Riccardo Foresta.“
Skeptisch sah er sich im Spiegelbild an.
„Bist du ein Riccardo“, fragte er sich selbst und musste über die Situation lauthals lachen.
„Oder doch eher ein“, er öffnete den nächsten Pass „Stefan?“
Leicht schüttelte er den Kopf und öffnete den nächsten. Er hatte sich entschieden.
John Porter.
„Hi John“, grinste er sein Spiegelbild an und begann seine übrigen Sachen wieder in der Tasche zu verstauen.


* * *




„Wir sehen uns dann morgen. Erzähl mir, wie es war“, lachte Eleanor schadenfroh.
Mit einem lauten Krachen lies ich die Autotür zufallen und streckte ihr die Zunge heraus. Musste sie mich wieder an diese blöde Messe erinnern?
Mit herunterhängenden Mundwinkeln ging ich den kleinen Steinweg zum Haus entlang. Noch bevor ich die Treppe erreicht hatte, öffnete sich schon die Haustür und Granny stand freudestrahlend in der Tür.

„Da ist ja das Geburtstagskind“, rief sie so laut, dass ich mir sicher war, dass jetzt wirklich jeder in Glenn es mitbekommen hatte. Mit einer Schnelligkeit, die ihr ein Außenstehender wohl niemals zugetraut hätte, aufgrund ihrer kleinen kräftigen Figur, hastete sie die Stufen hinunter und umarmte mich stürmisch.
Überrascht sog ich die Luft ein bevor ich ihre Umarmung erwiderte.
„Hi Granny“, japste ich.
„Komm, komm schnell rein. Wir müssen das feiern. Meine Kleine ist jetzt erwachsen.“
Hektisch zog sie mich hinter sich her ins Haus, sodass ich kaum hinterher kam.

Meine Augen weiteten sich vor Überraschung, als ich das Wohnzimmer betrat. Überall hingen bunte Girlanden, es roch nach heißem Kerzenwachs und leise Musik drang an mein Ohr.
„Los setz dich“, drängte mich Granny und schubste mich auf das alte Polstersofa. Leise seufzte ich. So war sie nun mal. Überschwänglich und hektisch und das nicht nur an besonderen Tagen, sondern eigentlich immer.
„So, jetzt nur noch das hier“, hörte ich sie in der Küche sagen. Kurz darauf polterte es laut und sie schimpfte leise vor sich hin. Verstohlen grinste ich.
In mir wuchs die Neugier und da ich Granny die Überraschung nicht verderben wollte, ging ich im Zimmer auf und ab. Am kleinen steinernen Kamin blieb ich stehen und betrachtete die vielen Bilder, die auf dem Sims standen.
Ich sah meine Großmutter und meinen Großvater, den ich nie kennengelernt hatte. Es war eine Aufnahme von ihrer Hochzeit. Sie sahen so unglaublich glücklich aus.
Auf einem anderen konnte ich ein kleines Mädchen auf einer Schaukel erkennen. Ihre blonden Locken wehten im Wind und sie lachte mit einer Herzlichkeit in die Kamera, dass es schmerzte. Meine Mutter. Immer wenn ich sie vermisste, ging ich runter ins Wohnzimmer und sah mir ihre Fotos an.
Und dann gab es da noch sehr viele Bilder von mir. Sie zeigten mich als Kleinkind oder an meinem ersten Schultag.
Granny kam herein und stellte sich hinter mich.
„Deine Mutter wäre sehr stolz auf dich gewesen“, flüsterte sie und ich hörte ein verdächtiges Beben in ihrer Stimme.
„Komm wir feiern jetzt. Heute ist kein guter Tag zum Traurig sein“, rief ich lachend und zog sie zum Sofa.
Ihr Gesicht hellte sich auf und das Zittern in ihrer Stimme verschwand.
„Ja, du hast recht. Heute ist dein Tag.“
Vor dem Sofa stand ein kleines hölzernes Tischchen mit kunstvoll verzierten Beinen. Granny hatte ihn eingedeckt, während ich die Bilder betrachtet hatte. Ein Kuchen zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. 18 stand groß darauf geschrieben.

„Danke Granny“, flüsterte ich und betrachtete die vielen Kerzen, die im äußeren Rand des Kuchens steckten.
„Wünsch dir was, mein Schatz“, flüsterte sie zurück und ich tat es.

„Natürlich gibt es zu so einem Tag auch Geschenke“, rief Granny aus, als wir eine zeitlang kauend da gesessen hatten.
„Du weißt“, und sie sah mich dabei entschuldigend an, „dass ich dir im Moment kein Auto kaufen kann.“ Ich lächelte. Wie oft hatte ich ihr schon gesagt, dass sie das nicht brauchte.
„Aber“, hob sie den Finger, bevor ich etwas erwidern konnte, „ich habe hier zwei andere Dinge für dich, die ich schon lange für dich aufbewahrt habe.“
Mein Herz schlug schneller. Lange aufbewahrt? Was konnte das sein?

Zur Antwort auf meine unausgesprochene Frage zog sie aus ihrer hellblauen Küchenschürze ein kleines Päckchen.
„Sie ist schon eine Ewigkeit in meinem Besitz und ich freue mich schon sehr lange auf diesen Tag, an dem ich sie dir endlich geben darf. Deine Mutter hat sie zu ihrem 18. Geburtstag bekommen und da sie“, ihre Stimme brach und sie schluckte schwer.
„Da sie sie dir heute nicht geben kann, übernehme ich das gerne für sie. Ich habe mir aber erlaubt, ein paar Änderungen vorzunehmen.“
Endlich übergab sie mir das in rotes Seidenpapier eingewickelte Päckchen. Wie in Trance öffnete ich es. Eine kleine, aus dunklem Holz angefertigte Schatulle kam zum Vorschein.
Andächtig strich ich mit meinen Fingerspitzen über die glatte Oberfläche.
„Mach es auf“, Granny lächelte mich aufgeregt an.
Langsam ließ ich den goldenen Verschluss aufschnappen und klappte den Deckel auf.
Überrascht warf ich Granny einen Blick zu.
Darin lag eine goldene Kette mit einem ovalen Anhänger.
„Ein Medaillon?“
Granny nickte.
Wie in Zeitlupe nahm ich es in die Hand. Kalt und schwer lag es in ihr. Angespannt öffnete ich den Anhänger.
Zwei Bilder waren darin eingelassen. Eines zeigte meine Mutter, als sie so alt war wie ich. Um ihren Hals trug sie eben diese Kette. Ich schluckte. Granny deutete mit ihrem Zeigefinger auf das andere Bild.
Wieder war meine Mutter darauf abgebildet und ich. Das Foto musste kurz vor ihrem Tod aufgenommen worden sein.
„Danke Grandma. Vielen vielen Dank“, flüsterte ich und umarmte sie liebevoll.
„Das ist das Schönste, was ich jemals geschenkt bekommen habe.“
Voller Freude strahlte sie mich an.
„Ich hätte es dir schon so gerne früher gegeben, aber“, stotterte sie.
„Ich weiß, Grandma. Du hast es mir ja jetzt gegeben und damit machst du mich gerade unglaublich glücklich“, beruhigend legte ich ihr die Hand auf den Arm und sah sie mit leuchtenden Augen an.
„Machst du sie mir zu?“ Ich konnte es kaum erwarten, sie endlich zu tragen.
Granny nickte.

Mit angezogenen Knien saß ich auf dem Sofa und spielte gedankenverloren mit dem Medaillon in meinen Händen.
„Granny?“
„Hm?“ Sie schaute vom Geschirr auf, dass sie gerade in die Küche bringen wollte.
„Was für Bilder waren hier drin, als meine Mutter sie trug?“
Kurz hielt sie inne, dann fuhr sie mit dem Abräumen fort.
„Nichts von Belang.“
Fragend sah ich ihr nach. Wie konnte etwas, dass meiner Mutter wichtig gewesen war, ohne Belang sein? Das sah Granny überhaupt nicht ähnlich.

„Ich habe hier noch etwas für dich“, unterbrach sie meine Gedanken. In ihren Händen hielt sie eine größere Schachtel aus Pappe.
„Du hast ja sicher gemerkt, dass ich heute morgen nicht da war“, sie legte die Schachtel vor mich und setzte sich selbst in den Sessel, der mir gegenüber stand.
Zur Antwort nickte ich nur.
„Ich war bei Pfarrer Simmons, Eleanors Vater.“ Kurz schwieg sie.
„Du weißt sicherlich schon, dass er in der Osterzeit eine Messe abhält, die für die Mitglieder der Gesellschaft von Glenn abgehalten wird.“
Wieder nickte ich. Es war offensichtlich worauf sie hinaus wollte.
„Und da du nun – da du nun volljährig bist, würde ich dich bitten, mich auf diese Messe zu begleiten.“
Flehend sah sie mich an.
Ich schluckte. Dieser Blick. Das war nicht fair.
„Mach doch mal das Päckchen auf. Ich möchte wissen, wie es dir gefällt.“

Sachte hob ich den Deckel an. Lavendelfarbener Stoff war das erste was ich erkennen konnte. Ich griff hinein und holte ihn heraus.
Es war ein Kleid.
„Ich habe es selbst gemacht.“ Ihre Augen leuchteten und sie war stolz auf ihre Arbeit.
Kritisch betrachtete ich es. Es war nicht unbedingt das, was ich als meinen Kleidungsstil bezeichnen würde.
„Würdest du es mal anziehen? Für mich? Bitte?“
Anziehen? Oje!
„Granny, ich“, setzte ich an.
„Ich möchte doch nur wissen, ob ich es noch an irgendwelchen Stellen ändern muss.“
Resignierend zuckte ich die Achseln und verschwand mit dem lavendelfarbenen Kleid in meinem Zimmer.

Kurz darauf trat ich wieder hinaus. Die Begeisterung stand Granny ins Gesicht geschrieben.
„Es sitzt perfekt“, rief sie entzückt aus. „Du siehst wunderschön darin aus.“
Lüge, brüllte mein Kopf. Tatsächlich hatte ich es gewagt, mich vorher im Spiegel zu betrachten. Ich sah aus wie eine Frau aus dem frühen 18. Jahrhundert.
Eine weiße Schleife war um meine Hüfte gebunden und der Saum war mit Spitze verziert.
„Natürlich habe ich es dir nicht ganz uneigennützig genäht“, Granny zwinkerte mir zu.
„Ich dachte mir schon, dass du darin gut aussehen würdest. Daher habe ich mir gedacht, dass du es doch auch auf der Messe anziehen könntest.“
„Was?“, platzte es aus mir heraus. Der Schock saß tief. Das konnte sie unmöglich ernst meinen. So? In die Öffentlichkeit?
Verletzt sah sie mich an und ihre Unterlippe zuckte verdächtig.
„Du würdest mir damit wirklich eine große Freude machen.“
Meine Hand glitt hoch zu meinem Hals und umfasste das Medaillon. Ich seufzte. Sie hatte mir damit eine so große Freude gemacht. Hatte ich das Recht, ihr eine genauso große Freude zu verwehren?
„Okay“, stöhnte ich und schickte dabei ein Stoßgebet zum Himmel, dass mir auf dieser Messe niemand aus meinem Bekanntenkreis begegnen würde.
Freudestrahlend nahm sie mich in ihre Arme und drückte mich.
Toll, was hatte ich mir damit nur wieder eingebrockt.

„Ich werde jetzt ins Bett gehen. Es ist schon spät geworden. Das solltest du auch tun.“
Ich nickte. Alles würde ich tun, nur um aus diesem altmodischen Kleid heraus zu kommen.
Geistesabwesend ging ich ins Bad, putzte mir die Zähne und abschließend die Hände.
Etwas Dunkles auf meiner Haut ließ mich zurück in die Realität kommen. Ein schwarzer Fleck zierte den Rücken meiner rechten Hand. Verstört sah ich ihn an. Merkwürdig, ich hatte ihn doch weggewischt, nachdem mich Alex darauf aufmerksam gemacht hatte.
Ich griff nach einem Handtuch und rubbelt auf meiner Hand herum, bis sie ganz warm wurde.
Als ich unter das Handtuch lugte, war der Fleck verschwunden.
Vielleicht war es einfach nur eine Sache der Müdigkeit, dachte ich und legte mich ins Bett.
Doch einschlafen konnte ich nicht und so lag ich lange Zeit hellwach.
Der Mond schien durch die kleinen Löcher meines Rollladens.
Der Wecker zeigte 23:59Uhr.
„Happy Birthday, Melissa”, flüsterte ich leise zu mir selbst.
Suchend strich ich mit meiner Hand über meinen Hals. Ich fühlte etwas Kaltes, Ovales und umfasste es ganz mit meiner Hand. Durch das Mondlicht war es gerade hell genug, um die Bilder ansatzweise zu erkennen.
Meine Mutter lächelte mir glücklich entgegen. Ihre grünen Augen leuchteten und ich musste unwillkürlich mitlächeln.
Das war das einzige, woran ich mich noch bei ihr erinnern konnte. Wenn sie lachte, füllte sie den ganzen Raum mit Leben und Freude und jeden, der sich darin aufhielt.
Zärtlich strich ich mit meinem Zeigefinger über die kleine Glasscheibe. Wie sie lächelte. Es versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich vermisste sie so sehr.


* * *




Ungeduldig tippte Cassius mit seinen nagelneuen Sportschuhen auf den beigen Linoleumboden des Flughafens. Er stand nun schon über eine Stunde in der Warteschlange an einem der Schalter und es ging nur allmählich voran.
Neugierig betrachtete er das Personal, dass sich bemühte, die zukünftigen Passagiere so schnell wie möglich wieder los zu werden.
Zwei Männer und drei Frauen waren es. Bitte lass es eine Frau sein, dachte Cassius als er ganz vorne an der Schlange angekommen war.
Einer der Männer bediente gerade eine ältere Frau. Sie schienen fertig zu sein. Cassius sank das Herz in die Hose. Hastig sah er sich um. Alle Schalter, die von Frauen besetzt waren, waren belegt. Enttäuscht seufzte er und fluchte leise vor sich hin.
Mach langsam, Alte. Du hast Zeit, sagte er sich.
Und tatsächlich nestelte die Frau umständlich an dem Reißverschluss ihrer Handtasche.

„Der nächste bitte“, ertönte eine Stimme aus der anderen Richtung.
Erstaunt wandte Cassius sich um und sah in das Gesicht einer etwa 25-jährigen Frau, die ihn erwartungsvoll ansah.
Das lies er sich nicht zweimal sagen und eilte zu ihr.
Er stützte sich auf den Schalter und beugte sich leicht zu ihr vor, damit sie sein Aftershave riechen konnte.
„Ich brauche sofort ein Platz in der nächsten Maschine nach Rom.“
Zufrieden stellte er fest, wie sie ihn von oben bis unten musterte, ehe sie sich ihrem Computer zuwandte.
„Es tut mir Leid, Mr.“
„Porter. John Porter“, stellte er sich vor und lächelte sie dabei mit einem strahlenden Lächeln an.
„Äh ja, äh, Mr. Porter“, stotterte sie und lachte kindisch. „Es tut mir sehr Leid, aber in der nächsten Maschine um 13:47 Uhr ist leider nichts mehr frei.“
Cassius setzte ein entsetztes Gesicht auf.
„Wie bitte? Das darf nicht sein. Hören Sie, ich habe einen wichtigen Termin. Ich muss nach Rom. Sofort“. Flehend sah er sie an.
„In der nächsten Maschine wären noch Plätze frei“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
Cassius fuhr sich mit seiner Hand nervös durch sein schwarzglänzendes Haar. Er wusste, wie gut er damit aussehen musste.
„Können Sie da gar nichts machen. Es ist wirklich wichtig, Mrs.?“, fragend sah er sie an.
„Mein Name ist Joanne“, hauchte sie ihm entgegen.
„Joanne“, bettelte er.

Er konnte ihr ansehen, wie sie mit sich rang. Sie wollte eine Lösung finden, nur um ihm einen Gefallen zu tun.
„Wir hätten noch Plätze in der Business Class.“ Skeptisch sah sie ihn an. Jeans und Hemd. Nicht gerade das, was ein Passagier in der gehobenen Klasse trug, aber ein Versuch war es wert.
„Ja, den nehme ich“, rief er freudestrahlend.
Ebenso erfreut lächelte sie ihn an. „Das ist ja wunderbar. Dann brauche ich nur ihren Pass. Wie möchten sie zahlen?“
Hastig kramte Cassius den richtigen Ausweis hervor und drückte ihn ihr in die Hand.
Kurz berührten sich ihre Hände und er sah, wie sie errötete. Er lächelte ihr verführerisch zu, bevor er sich wieder seiner Tasche zuwendete.
„Ich zahle bar“, sagte er und legte ihr ein Bündel Geldscheine auf den Schalter.
Überrascht sog sie die Luft ein und starrte ihn an.
„Das müsste reichen, denke ich“, sag Cassius lächelnd.

Zufrieden lief er wenige Minuten später mit seinem Ticket nach Rom in der Hand zum richtigen Gate.
Wie leicht Frauen doch zu beeinflussen waren, dachte er bei sich.
Wie hieß sie noch gleich?
Er zog einen Zettel aus seiner Hosentasche. Sie hatte ihm ihre Telefonnummer gegeben. Wie süß. Spöttisch lachte er in sich hinein.
„Joanne“, las er auf dem Zettel. Amüsiert schüttelte er den Kopf und knüllte das kleine Papierchen zusammen. Lässig warf es im Vorbeigehen in einen Mülleimer.
„Machs gut, Joanne.“


Lautlos




III. Kapitel

Lautlos




Ich wusste nicht wo ich war. Ich wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war und ich wusste auch nicht wie ich von diesem Ort wieder verschwinden konnte.
Nur in einem einzigen Punkt war ich mir sicher.
Ich war nicht alleine.

Um mich herum war alles weiß. Ich konnte nicht einmal genau erkennen, wo der Boden endete, die Wände begannen und wo die Decke verlief. Dieser Raum, falls es überhaupt einer war, schien vollkommen isoliert zu sein. Mir war weder kalt noch warm, es war weder hell noch dunkel und das Schlimmste war, es war vollkommen still.
Und dann sah ich sie. Eine Gestalt, die weit entfernt von mir zu sein schien, kam auf mich zu. Je näher sie kam, desto kühler wurde es und desto lauter wurde das rhythmisches Geräusch, das von ihr auszugehen schien. Ein Schauer durchlief mich. Zitternd sah ich an mir hinunter. Das einzige was ich trug waren meine Schlafsachen. Nicht einmal Schuhe hatte ich an.
Wie um Himmelswillen war ich bloß hierher gekommen?
Ein lauter Schlag ließ mich aufsehen. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück. Die Gestalt war mir nun so nahe, dass ich nur die Hand nach ihr hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren.
Auf den ersten Schrecken folgte eine Welle der Erleichterung. Es war ein Mensch. Aus der Ferne hatte ich das nicht sicher ausmachen können. Es hätte alles sein können. Ein wildes Tier, das mich anfällt oder irgendetwas anderes Lebensgefährliches.
Skeptisch musterte ich meinen Gegenüber. Wusste er vielleicht, wo wir hier waren?
Über meine Erleichterung legte sich Argwohn, als ich die Person betrachtete. Sie trug eine weite purpurne Robe, die ihr bis zu den Füßen ging. Ihr Gesicht war durch eine Kapuze verdeckt, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte.
Ich konnte nicht einmal sagen, ob es sich hierbei um einen Mann oder eine Frau handelte.
Überhaupt konnte ich nichts von ihrem Körper sehen, außer einer knochigen Hand, die einen Gehstock umklammert hielt.
Dieser Mensch war mir nicht geheuer, doch vermutlich war er der einzige, der mir aus dieser Situation helfen konnte und so überwand ich meine Abneigung gegen ihn.
„Wo bin ich?“, setzte ich an, doch aus meinem Mund kam kein Wort.
„Hallo?“, versuchte ich es noch einmal, doch wieder blieb es vollkommen still.
Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund. In mir breitete sich Panik aus.
Wieso konnte ich nicht sprechen? Wieso zeigte mir dieser Mensch sein Gesicht nicht? Wieso stand er einfach nur da und beobachtete mich?

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung war. Die Person hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Immer näher kam sie mir und immer weiter wich ich zurück. Ihr Gehstock schlug regelmäßig auf den Boden, während sie einen Fuß vor den anderen setzte.
Trotz seiner Gehhilfe lief die Gestalt wesentlich schneller als ich, oder kam mir das nur so vor? Auf einen Schritt von mir entfielen zwei von ihm, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte einfach nicht schneller laufen.
Wie in Zeitlupe hob sie die Hand, die bis zu diesem Zeitpunkt von der Robe verborgen worden war und streckte sie mir entgegen. Doch nicht auf die Weise, auf die jemand wortlos nach der Hand eines anderen fragt. Nein, eher auf die Weise, auf die man nach etwas greift.
Zu spät bemerkte ich, dass ich mich nicht mehr bewegte. Ihre Hand näherte sich und ich wollte zurückweichen, doch es ging nicht. Ungehindert berührte sie mein Gesicht und strich über meine linke Wange. Ihre Hand war eiskalt. Wieder fröstelte ich. Ich wollte meine Arme um meinen Körper schlingen, doch auch diese Muskeln meines Körpers gehorchten mir nicht mehr.
Langsam glitt die Hand mein Kinn entlang.
Nimm deine Finger von mir, schrie ich in meinem Inneren. Mein Herz pochte wild. Ich war mir sicher, dass mein Gegenüber das hören konnte.

Plötzlich legte sich die Hand wie eine eiserne Kralle um meinen Hals. Überrascht öffnete ich den Mund, um nach Luft zu schnappen, doch ich konnte nicht mehr atmen.
Wehr dich!, schrie mir mein Inneres entgegen. Greif sie an!
Ich wollte mit meinen Händen um mich schlagen, meinen Gegner abwehren, doch ich konnte nicht.
Stocksteif stand ich vor ihr und rührte mich nicht, während sie ihren Griff um meinen Hals immer weiter verstärkte.
Zu meinem Entsetzen spürte ich, wie mir die Luft ausging. Meine Augen weiteten sich, mein Kopf schmerzte und mein Hals brannte.

Die Dunkelheit tropfte von der Decke, floss die Wände hinunter und kroch den Boden entlang. Alles um mich herum wurde langsam schwarz und auch die in purpurroten Stoff gehüllte Person verlor an Konturen.
Ich spürte, wie die Müdigkeit wie eine Welle über mir zusammenbrach. Mich verließ die Kraft, die Augen länger geöffnet zu halten.
Flehend sah ich die Person an, die mein Leben in ihrer Hand hielt. Noch bevor ich meine Augen ganz geschlossen hatte, wusste ich, dass sie nicht loslassen würde.

Kurze Zeit später meinte ich die Hand auf meiner Schulter zu spüren. Sie schüttelte mich, erst sanft, dann jedoch zunehmend fordernder.
„Melissa“, wisperte mir eine Stimme ins Ohr. „Wach auf.“
Schlagartig griff ich mir mit meiner Hand an den Hals. Der Druck auf meine Kehle war verschwunden. Mein Atem ging gleichmäßig. Verwundert öffnete ich langsam die Augen.
Ich war nicht mehr an einem mir unbekannten Ort voller Finsternis. Ein Lichtschein suchte sich durch einen Türspalt den Weg in mein Zimmer. Granny stand über mich gebeugt und musterte mich besorgt.

Schweigend sahen wir uns an. Mein Blick glitt über ihr Gesicht, das von Falten durchzogen war. Jede Falte erzählte ihre ganz eigene Geschichte. Über die Jahre, seit ich bei ihr lebte, waren viele hinzugekommen, Kleine, Unscheinbare. Doch eine Falte war schon immer da gewesen. Ich kannte meine Großmutter nicht ohne sie. Sie war tief und verlief quer über ihre Stirn.
Ich hatte Granny nie gefragt, welche Geschichte diese Falte erzählte. Ich selbst hatte sie erlebt, diese Geschichte. Bei mir hatte der Tod meiner Mutter jedoch keine Falte hinterlassen, sondern eher eine offene Wunde in meinem Herzen.

„Genug gestarrt“, unterbrach Granny die Stille. „Es wird Zeit, dass du dich fertig machst. Ich bin noch nie zu spät gekommen. Das soll sich dieses Jahr nicht ändern, nur weil du dabei bist.“
Die Messe, schoss es mir durch den Kopf und ich stöhnte laut auf.
„Du hast es mir versprochen“, hob sie mahnend den Zeigefinger und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
Ich schluckte. Ja, das hatte ich wohl. Leichtsinniger Weise.
„Ich habe dir dein Kleid über den Stuhl gelegt. Du hast zwanzig Minuten.“
Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, rauschte sie aus meinem Zimmer.
Das Kleid! Verzweifelt schlug ich mir mit der Hand gegen die Stirn und ließ sie kraftlos mein Gesicht hinuntergleiten.
Ich hatte viel zu wenig geschlafen und dieser Traum war nicht gerade von erholsamer Natur gewesen.
Das soll ein Traum gewesen sein? Hastig schlug ich die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Mit der Hand strich ich mir vorsichtig über den Hals, doch ich spürte keinen Schmerz. Alles fühlte sich so an wie immer. Ich ging ins Bad und schaltete das Licht an.

Ungläubig betrachtete ich mich im Spiegel. Egal aus welcher Position ich meinen Hals auch betrachtete, ich konnte nichts erkennen, was auch nur im entferntesten an Würgemale erinnerte. Ich konnte mir das unmöglich eingebildet haben. Diese kalten Finger, diese unbändige Kraft, mit der sie mir die Luft abschnitten, meine Panik...Das alles schien so real gewesen zu sein.


Im nächsten Moment kam ich mir unglaublich albern vor. Ich hatte etwas geträumt, wachte auf und hielt es für die Realität. Ich musste verrückt geworden sein.
Über mich selbst verärgert schüttelte ich den Kopf und ging zurück in mein Zimmer.
Als ich das Licht einschaltete, sah ich es sofort. Es lag, feinsäuberlich auf einen Kleiderbügel gehängt, über der Lehne meines Stuhls.
Leise seufzte ich. Es half alles nichts. Da musste ich nun durch.
Eilig zog ich mich um, sehr darauf bedacht nicht in den Spiegel zu sehen, weil ich mir sicher war, dass mich sonst der Mut verlassen würde.
Aus dem Flur hörte ich schon, wie Granny nervös mit den Autoschlüsseln klimperte. Schnell ging ich ins Bad, warf mir etwas Wasser ins Gesicht und griff nach der Schminke.

„Melissa! Komm jetzt!“, rief Granny. Aus ihrer Stimme konnte ich hören, wie sie sich zurückhalten musste, nicht zu brüllen.
Sie hasste es, zu spät zu kommen.
Ich wollte sie nicht noch provozieren und beschloss, mich auf der Fahrt fertig zu machen. Hektisch stopfte ich alles, was mir in die Hände viel, in eine kleine schwarze Handtasche und rannte aus dem Zimmer.
Der Flur war leer und auch sonst konnte ich Granny nirgendwo entdecken.
Ein quietschendes Geräusch klärte mich auf. Granny hatte es wohl mit der Warterei nicht mehr ausgehalten und hatte bereits den Wagen aus der Garage gefahren. Laut quietschend und ratternd schloss sich das Garagentor.
Ein silberner BMW, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte, parkte an der Straße.
Granny kurbelte das Wagenfenster herunter und deutete genervt auf ihre Armbanduhr.

„Jaha, ich komme ja schon“, rief ich ebenfalls genervt von dieser Hektik zurück. Ich warf die Haustür hinter mir ins Schloss und rannte die Stufe hinunter.

Kaum saß ich im Auto und hatte die Beifahrertür geschlossen, strahlte Grannys Gesicht.
„Toll, siehst du aus! Na dann kanns ja jetzt los gehen.“
Ich glaubte ihr nicht. Schrecklich sah ich aus. Ich besann mich der Schminke in meiner Tasche und beschloss, wenigstens mein Gesicht ein wenig auf Vordermann zu bringen.

Während ich mich darauf konzentrierte, mich mit der Schminke nicht noch vollends zu verunstalten, kroch Granny über den Highway. Jetzt war mir auch klar, warum sie so eine Hektik verbreitet hatte. Bei dem Tempo würden wir niemals pünktlich da sein.
„Wenn du so weitermachst, siehst du bald aus wie ein bunter Hund“, sagt Granny schnippisch.
„Da wird schon keiner sein, den du kennst.“
Ich klappte den Spiegel zu. Keiner meiner Freunde ging mitten in der Nacht auf eine Messe. Niemand von meinen Freunden hatte eine Grandma, die so hinterlistig sein konnte, dachte ich und musste schmunzeln. Granny würde schon Recht haben. Da war sicher niemand, den ich kannte.


* * *




Lässig lehnte sich Cassius gegen die Wand des Flughafengebäudes und steckte sich eine Zigarette in den Mund.
Der Gedanke, den Auftrag nicht erfüllen zu können, hatte ihn während des gesamten Fluges nicht losgelassen und an seinen Nerven gezerrt. Was, wenn er den Tridentifer Doni - den Gabenträger – nicht finden würde? Was würde sein Meister mit ihm tun, im Falle seines Versagens?
Gedankenverloren schnippte er mit seinem Daumen den Verschluss des Feuerzeuges auf. Eine kleine Gasflamme schoss heraus, die er an das Ende seiner Zigarette hielt.

Sofort begann das Papier an dieser Stelle zu verbrennen. Es wurde gelblich, bräunlich, gräulich. Ein Windhauch kam und wehte das verkohlte Ende fort.
Fasziniert nahm er die Zigarette aus dem Mund und verfolgte das Spektakel. Unaufhörlich kroch die Flamme weiter die Zigarette empor, bis er eine langsam auftretende Hitze an seinen Fingern spürte. Wie in Trance ließ er sie aus seinen Fingern gleiten.
Er hob den Fuß, um die Flamme zu ersticken, hielt jedoch plötzlich in seiner Bewegung inne.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf und er lächelte. Er würde es genauso machen, wie diese Flamme. Er würde sich an sein Opfer anschleichen, es auskundschaften, es langsam aber sicher zerstören. Wie das Feuer, so würde auch er keine Spuren hinterlassen.

Mit hinterlistigem Blick beobachtete er, wie der Rest der Zigarette auf dem Boden langsam verkohlte.
Wieder lächelte er, zog aus seiner Hosentasche erneut das Päckchen Zigaretten und steckte sich eine davon in den Mund. Die hatte er sich nun wirklich verdient.


* * *




Schweigend liefen wir, gefolgt von ein paar anderen Pilgern, den nur spärlich beleuchteten Feldweg entlang. Zu meinem Entsetzen konnten wir nicht bis zu der Kapelle fahren, in dem die Messe abgehalten wurde. Stattdessen mussten wir das Auto auf einem kleinen Parkplatz abstellen, der eindeutig nicht für so viele Autos ausgerichtet war, wie sie in dieser Nacht dort parkten.

Es war eine unheimliche Situation. Kleine aufgestellte Laternen, die in gleichmäßigen Abständen am Wegesrand standen, zeigten uns den Weg. Um uns herum war es dunkel. Der Wind blies stark und ich bereute, keine Jacke mitgenommen zu haben.
Granny lief vor mir und zerrte mich an ihrer Hand hinter sich her.
Mit einem Blick nach hinten stellte ich fest, dass sich der Abstand zwischen uns und den anderen zunehmend vergrößerte. Das kam mir gerade Recht.
Sie sahen alle so aus, als wären sie einem Horrorfilm entsprungen. Alle waren sie fein herausgeputzt mit Anzug und Krawatte, die Damen in eleganten Abendkleidern. Ihre vor Kälte zu Grimassen verzogenen Gesichter wurden von den Laternen angestrahlt und wirkten nur noch schauriger.
Irgendwann konnte ich sie nicht mehr sehen. Die Dunkelheit hatte sie verschluckt.
Erleichtert atmete ich aus. Spitze Steine bohrten sich in meine Schuhsohlen und ich verlangsamte meinen Schritt. Doch Granny zog mich weiter unbeirrt den Weg entlang.
„Granny“, zischte ich. „Wir werden nicht die Letzten sein. Hinter uns sind doch auch noch welche.“
„Aber die Ersten werden wir so auch nicht“, zischte sie zurück ohne sich umzudrehen.
Ich rollte gereizt mit den Augen. Gut, dass sie das nicht sehen konnte.

Ruckartig blieb sie plötzlich stehen.
„Weißt du Melissa“, sie drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht sah durch die Beleuchtung schrecklich aus.
„Ich bin alt und ich habe einfach keine Lust die ganze Messe lang irgendwo von einem Bein aufs andere treten zu müssen.“
Noch ehe ich irgendetwas darauf erwidern konnte, zog sie mich weiter.
Sie und alt, dachte ich. Bei diesem Tempo konnte sie wahrscheinlich einem Marathonläufer Konkurrenz machen.

Mühsam versuchten wir eine kleine Anhöhe hinaufzuklettern, was in unserem Aufzug ein schweres Unterfangen war.
„Pass auf, dass dein Kleid nicht schmutzig wird“, raunte Granny wenige Zentimeter neben mir.
Als ob das nun meine einzige Sorge wäre! Ich hatte Mühe mit meinem leichten Schuhwerk überhaupt Halt auf dem steinigen Feldboden zu finden.
Schwer schnaufend erreichten wir die Anhöhe, die von oben betrachtet eher wie ein lächerlicher kleiner Hügel aussah. Die Hände auf die Knie gestemmt und um Luft ringend stand ich da.
„Los, los komm“, drängte Granny mich weiter und griff nach meinem Arm.
„Wir sind doch auch gleich da. Meine Güte, die Jugend von heute – überhaupt nicht mehr belastbar!“
Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass sie Recht hatte, was die Entfernung betraf.
Die Laternen schlängelten sich den Feldweg entlang, bis dieser an einem hellerleuchteten Gebäude endete.
Das Ziel fest vor Augen spurtete Granny los, mich an der Hand hinter sich herschleifend.
Je näher wir kamen, desto heller wurde es um uns herum. Ich konnte die Felder genau erkennen und auch Bäume, die etwas abseits standen.

Auf dem freien Platz vor der Kapelle hatten sich bereits viele Leute eingefunden. Ich ließ meinen Blick verstohlen durch die Menge schweifen. Hier war niemand, den ich kannte. Die Zielgruppe dieser Messe war wohl eher ältere Leute, denn ich konnte nirgends ein junges Gesicht ausmachen.
Während Granny sofort auf eine kleine Gruppe zusteuerte, lief ich planlos umher.
Ein wenig von dem ganzen Trubel entfernt, setzte ich mich auf einen großen Stein und betrachtete das Geschehen.

Die Kapelle war weiß gestrichen und um sie herum führte eine ebenfalls weiße Veranda.

Oben im Turm funkelte etwas Goldfarbenes, vermutlich eine Glocke.
„Melissa“, Granny hatte sich scheinbar von ihren Bekannten losgeeist und kam auf mich zu.
„Komm, ich möchte dir ein paar Leute vorstellen.“
Widerwillig stand ich auf und folgte ihr zu einer Gruppe weißhaariger Rentner.
„Mrs. Hudson, das ist meine Enkelin Melissa“, schrie Granny.
„Waaas?“, erwiderte diese mit zittriger Stimme.
Granny wandte sich mir zu und rollte genervt mit den Augen
„Sie ist ein kleines bisschen schwerhörig musst du wissen.“
Na darauf wäre ich nun wirklich nie gekommen!
„Das“, dabei deutete sie auf mich „ist – meine“, sie deutete auf sich selbst „Enkelin – Melissa!“
Eifrig nickte Mrs. Hudson und schüttelte meine Hand.
„Freut mich sehr dich kennen zu lernen, Lisa.“
„Me-li-ssa“, Granny betonte jede Silbe so extrem, dass ich mich zum ersten Mal zu fragen begann, wer sich eigentlich so einen bescheuerten Namen ausgedacht hatte.

Noch ehe Mrs. Hudson meinen richtigen Namen verstanden hatte, erklang eine Abfolge lauter, metallisch klingender Töne.
Aufgeregt begannen alle durcheinander zu reden. Es hörte sich an wie das Summen eines riesigen Bienenschwarms.
Suchend sah ich hinauf zum Turm. In regelmäßigen Abständen konnte ich ein goldenes Blitzen erkennen. Es war die Glocke, die alle so in Aufruhr versetzte.
In meinem Kopf hallte jeder ihrer Schläge wieder, doch plötzlich war der letzte Ton verklungen und es wurde still, andächtig still.
Das Summen erstarb und die ganze Gemeinde starrte erwartungsvoll auf die zwei geschlossenen Flügeltüren der Kapelle.
Auf einmal begann es um uns herum dunkler zu werden. Die Laternen verloren ihre Leuchtkraft, bis der ganze Platz in vollkommene Dunkelheit gehüllt worden war.

Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen. Was ging hier vor?
Als ob jemand den Lautstärkeregler wieder nach oben gedreht hätte, wurde das Summen schlagartig wieder lauter. Neugierig sah ich zur Kapelle. Die Flügeltüren hatten begonnen sich zu öffnen.
Mit dem Öffnen der Türen ging ein Ruck durch die Menge. Es wurde geschoben und gedrückt, gedrängelt und geschubst. Alle wollten sie als Erstes in der Kapelle sein.
Ich spürte eine Hand, die meine umschloss und mit sich zog. Granny hatte der Eifer gepackt. Trotz ihrer korpulenten Gestalt quetschte sie sich in jede Lücke, die sich vor ihr auftat. Ich hatte Mühe es ihr gleich zu tun. Ohne Rücksicht auf Verluste bucksierte sie einen älteren Herren vor sich beiseite.
Erst als wir an den Flügeltüren waren, viel mir der helle Lichtschein auf, der von ihnen auszugehen schien.
Mr. Simmons stand in der Tür und überreichte jedem Teilnehmer eine weiße, brennende Kerze und ein rotes kleines Päckchen, das kaum größer war, als ein gewöhnlicher Würfel. Als er Granny und mich sah, wie wir uns durch die Menge kämpften, lächelte er uns amüsiert an.
„Es freut mich, dich hier zu sehen, Melissa. Eleanor hat mir schon erzählt, wie sehr du dich auf die Messe freust.“ Bevor ich auch nur ein empörtes Gesicht ziehen konnte, zwinkerte er mir wissend zu und übergab mir eine Kerze und eines der Päckchen.
Durch das Gedrängel hinter uns, wurden wir immer weiter in die Kapelle hineingeschubst. Ich wollte Mr. Simmons fragen, was ich mit diesen Dingen anstellen sollte, doch als ich mich nach ihm umdrehte, hatte er sich bereits wieder dem Begrüßen und Verteilen zugewandt.

Erleichtert stöhnte Granny neben mir auf, als sie sich auf die mit marineblauem Polster bespannte Bank setzte.
An Hinsetzen war für mich überhaupt nicht zu denken. Aufrecht stand ich in der Sitzreihe und drehte mich nach allen Seiten um.
Von außen sah diese Kapelle so klein aus und ich hatte mich bereits gefragt, wo die vielen Menschen Platz finden sollten, doch von innen wirkte sie riesig. Der Raum, der mehr einer Halle glich, war in zwei Sitzblöcke unterteilt. In der Mitte befand sich ein Gang, der direkt auf eine kleine hölzerne Bühne im vorderen Teil der Halle führte. Links und rechts des Raumes befanden sich kleine Nischen, in denen Statuen auf ihren Sockeln standen und neugierig das Geschehen um sie herum beobachteten.
Ich legte den Kopf in den Nacken, um die Decke zu betrachten, doch ich wurde enttäuscht. Statt kunstvoller Deckenfresken sah ich ins Nichts. Die ganze Halle wurde nur durch das Licht unserer Kerzen erhellt und mit jedem Eintretenden kam ein Stück mehr von der Schönheit der Kapelle zum Vorschein.
Mein Blick glitt über mit Stuck verzierte Wände, die weißen Blumen, die jedes Ende einer Sitzreihe zierten, und über die faszinierten Gesichter der Anderen.
Granny sollte wohl Recht behalten. Tatsächlich kam mir keiner der hier Anwesenden bekannt vor.
„Melissa, setz dich!“, wies Granny mich an.
Mit einem verzückten Lächeln auf dem Gesicht wandte ich mich zu ihr um.
Schlagartig erstarb es. Mein Blick huschte über Grannys Gesicht hinweg in das einer anderen Person. Lässig stand er da, die Hände in den Hosentaschen seines schwarzen Anzugs. Er stand ihm gut. Es bildete einen schönen Kontrast zu seinen blonden Haaren. Im nächsten Moment ohrfeigte ich mich gedanklich selbst. Es bildet einen schönen Kontrast, äffte ich mich selbst nach.
Was machte er überhaupt hier? Das hier war doch bestimmt nicht sein Ding.
Was machst du dann hier. Das ist doch auch nicht dein Ding, erinnerte mich mein Verstand.
Neugierig musterte ich ihn. Ihm schien der ganze Trubel wenig auszumachen. Gelangweilt blickte er ins Leere.
Erst jetzt wurde mir klar, dass er mich wohl noch nicht gesehen hatte. Hastig kam ich Grannys Aufforderung nach und setzte mich. Ich musste es ja nicht unnötig provozieren, dass er mich entdeckte.

Angespannt lehnte ich mich leicht nach vorne, um ihn weiter beobachten zu können, doch er war nicht mehr da. Verwundert drehte ich mich um und suchte den Raum nach ihm ab. Ich konnte ihn nirgendwo entdecken.
Als sich die Reihen um uns herum zunehmend mit Menschen füllten, beschloss ich, dass ich ihn mir wohl nur eingebildet hatte. Die Kapelle war zwar groß, aber nicht so groß, dass jemand einfach so hätte verschwinden können. Es konnte also gar nicht anders sein, ich musste es mir eingebildet haben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schienen alle Besucher ihre Plätze eingenommen zu haben. Mir stockte der Atem. Ich saß in einem Meer aus Kerzen. Krampfhaft versuchte ich, jedes Detail in mich aufzunehmen. Dieser Anblick war einfach so wunderschön, dass ich ihn niemals vergessen wollte.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Flügeltüren der Kapelle wieder geschlossen wurden und Mr. Simmons den mittigen Gang zur Bühne einschlug.

„Granny“, ich beugte mich leicht zu ihr herüber und hielt ihr mein rotes Päckchen unter die Nase.
„Was das mit den Kerzen jetzt auf sich hat, weiß ich, aber was soll ich mit diesem Ding hier?“, leicht schüttelte ich es hin und her.
„Lass das“, zischte sie und legte ihre Hand auf meine. „Das wirst du nachher schon noch sehen. Geduld, meine Liebe, Geduld.“
Pah, Geduld. Davon musste sie gerade reden!
Resignierend steckte ich das Päckchen in meine Handtasche und wartete ab, was sich auf der Bühne tun würde.

Zu meiner Enttäuschung tat sich überhaupt nichts, womit ich bei einer Messe nicht gerechnet hätte. Mr. Simmons begrüßte seine andächtigen Zuhörer, mich ausgeschlossen, und begann dann aus verschiedenen Teilen der Bibel zu zitieren. Gelegentlich wurde ein Lied angestimmt, das alle begeistert mit zu singen schienen, außer ich, denn ich kannte den Großteil davon überhaupt nicht.
Während alle um mich herum jedes Wort des Pfarrers in sich einsaugten, kramte ich in meiner Tasche nach dem roten Päckchen. Das erschien mir dann doch spannender.
Granny nahm von mir überhaupt keine Notiz. Ihr Blick war fest nach vorne gerichtet. Ihre Lippen bewegten sich verdächtig. Vermutlich konnte sie jedes Zitat auswendig und sprach es leise mit.

Leicht beugte ich mich über das Päckchen und betrachtete es genauer. Für seine Größe erschein es mir ungewöhnlich schwer. Ich drehte und wendete es in meiner Hand, doch ich konnte nichts Auffälliges erkennen. Es war eingepackt wie ein Weihnachtsgeschenk.
Neugierig begann ich die Ecken an den Seiten zu lösen und das Papier abzuwickeln.
Hellbrauner Karton kam zum Vorschein. Meine Neugier war nun vollends geweckt und ich öffnete den Karton leicht.
Schwarze Kügelchen sprudelten aus dem Riss und verteilten sich auf meiner Hand. Erschrocken hielt ich das Loch zu und sah mich verstohlen um. Niemand hatte etwas bemerkt.
Kritisch beäugte ich das schwarze Zeug auf meiner Hand. Es kam mir bekannt vor, doch ich wusste nicht woher. Ich hob meine Hand an die Nase. Es roch verbrannt, wie Asche.
Schwarzpulver, schoss es mir durch den Kopf. Was um Himmels willen wollten die hier mit Schwarzpulver anfangen? Es war zwar keine große Menge, aber dennoch sicher nicht ungefährlich.
Verstört zupfte ich Granny am Ärmel.
„Hm?“; murmelte sie wie in Trance.
„Das ist Schwarzpulver“, ich hielt ihr meine Hand unter die Nase. „Was zum...“
„Wirst du das wohl wieder einpacken!“; schnauzte Granny mich leise an. „Ich werde noch wahnsinnig mit dir. Das Päckchen ist nicht dazu gedacht, dass DU es auspackst!“
Die ersten Köpfe drehten sich zu uns um und ich schloss schnell die Hand.
Mit einem letzten warnenden Blick in meine Richtung wandte sich Granny wieder der Messe zu.
Mehr schlecht als recht versuchte ich, das Päckchen wieder in seinen Urzustand zu bringen, was sich ohne Klebstoff als aussichtslos erwies.
In meiner Hand lag nun weniger ein Würfel, sondern vielmehr ein aufgeplatztes Sofakissen.
Während der restlichen Messe versteckte ich es in meinen Händen.
Als Mr. Simmons zu sprechen aufgehört hatte, erhoben sich die ersten Sitzreihen auf jeder Seite und gingen, in einer Reihe aufgestellt auf die Bühne zu. Jeder bekam eine Hostie in den Mund gelegt und verließ dann die Kapelle.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Granny und ich an der Reihe waren. Ich konnte es nicht erwarten, die Messe endlich hinter mich zu bringen.
Mrs. Simmons legte mir eine der hauchdünnen Teigscheiben in den Mund und ich schloss ihn wieder. Erschrocken fuhr ich zurück und verschluckte mich an meiner Oblate. Nur wenige Meter vor mir stand er wieder, der Blonde in seinem Anzug.
Laut hustete ich, während mir jemand von hinten auf den Rücken klopfte.
Ich spürte wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Wenn er mich bis dahin nicht bemerkt haben sollte, dann aber ganz sicher jetzt. Als ich wieder nach ihm Ausschau hielt, trafen sich unsere Blicke tatsächlich. Hastig ließ ich meinen Blick an ihm vorbeischweifen.
Er war also doch hier. Ich hatte ihn mir nicht bloß eingebildet. Erleichtert atmete ich aus. Doch im nächsten Moment wurde mir die Bedeutung meiner Gedanken bewusst. Er war hier. Jemand den ich kannte und er sah mich - so. Ich blickte an mir herunter auf das lavendelfarbene Kleid aus dem 18. Jahrhundert. Wieder schoss mir die Röte ins Gesicht. Am liebsten hätte ich ein Loch in den Kapellenboden gegraben und mich darin versteckt.

Allmählich näherten Granny und ich uns der Tür. Immer wieder versuchte ich mich vor seinen Blicken zu verstecken, was jedoch nicht so einfach war. Wie ich schon vorher festgestellt hatte, war die Zielgruppe dieser Messe über siebzig angesiedelt und daher zählte ich auch mit zu den Größten bei dieser Veranstaltung.
Kaum an der frischen Luft angelangt, ergriff ich die Initiative und zog Granny hinter mir her. Ich wollte jetzt gehen. Ich hatte keine Lust mehr, auf irgendwelche Gespräche mit mir wildfremden Leuten. Ich wollte einfach nur noch nach Hause in mein Bett, weg von diesem Blonden, der überall zu sein schien, wo ich auch war.
„Wo willst du denn hin?“ Granny war einfach stehen geblieben und hielt mich fest. „Die Messe ist doch noch gar nicht zu Ende.“
Es traf mich wie ein Hammerschlag. Was sollte das heißen, noch nicht zu Ende?
Ich drehte mich um und sah, wie die Menge sich in einem Kreis aufstellte, um etwas, das ich nicht erkennen konnte.
„Wie jedes Jahr, lassen wir auch etwas Moderneres in unsere Zeremonie mit einfließen“, dröhnte Mr. Simmons Stimme zu uns herüber.
Granny zog mich mit sich. Widerstand leistete ich nicht. Zu tief saß der Schock, dass es noch weiter ging.
Die Menge stand um eine Feuerstelle, in der Holz und Stroh aufgeschichtet worden waren. Mrs. Simmons beugte sich vor und entzündete es.
Einer nach dem Anderen zog sein rotes Päckchen aus der Tasche und hielt es in beiden Händen an die Brust gedrückt.
„Was machen die da?“, fragte ich Granny.
„Sie denken über ihre Sünden nach, die sie seit dem letzten Jahr begangen haben und sperren sie in dieses Päckchen. Dann...“
Ein lauter Knall ertönte und eine Rauchschwade stieg empor.
„... werfen sie es ins Feuer“, beendete Granny den Satz und drückte ihr Päckchen an die Brust. Ich tat es ihr gleich.
Aufmerksam sah ich zu Mr. Simmons. Neben ihm sah ich, zum ersten Mal an diesem Abend, seinen Sohn Fred in einem schwarzen Anzug. Die Hände der beiden waren leer.
„Granny? Warum haben Mr. Simmons und sein Sohn keines von diesen Päckchen?“
„Das ist der Pfarrer und sein Sohn“, tadelte sie mich. „Die sündigen nicht!“
Einer nach dem Anderen warf sein Päckchen ins Feuer, ein aufs andere Mal knallte es laut. Als Granny an der Reihe war, schloss sie die Augen und warf es ins Feuer. Als der Knall ertönte, lächelte sie befreit.
Ist doch alles nur Hokuspokus, dachte ich. Achtlos warf ich mein mit Schwarzpulver gefülltes Päckchen ins Feuer. Endlich konnten wir gehen.
Um mich herum, wurde leise gemurmelt und erst da fiel es mir auf. Es hatte nicht geknallt. Nicht bei mir. Mein Päckchen war einfach lautlos verbrannt.
Verwundert sah ich Granny an, die meinen Blick ebenso verwundert erwiderte. Nur langsam kam die Zeremonie wieder in Gang, doch ich spürte die Blicke. Mein Blick wanderte zu Mr. Simmons, der mich aufheiternd anlächelte. Fred starrte teilnahmslos vor sich hin. Neben Fred stand der Blonde. Sein Blick durchbohrte mich und ich wich einen Schritt zurück.
Warum sah er mich so an. Es war doch nichts dabei. Es hatte nicht geknallt. Na und? Gab es nichts Spannenderes in seinem Leben, als mich mit seinen Blicken zu malträtieren?

Viel zu langsam warfen die Übrigen ihre Päckchen ins Feuer und immer knallte es.
Die Luft roch verstaubt und nach Asche.
Kaum hatte der Letzte seine Sünden verbrannt, löste sich die Veranstaltung langsam aber sicher auf.
Erleichtert stellte ich fest, dass mich nun niemand mehr beachtete. Alle redeten aufgeregt über die Messe und wie schön sie doch gewesen war.

Granny hatte während des ganzen Rückweges zum Parkplatz versucht mit Mrs. Hudson zu kommunizieren, was von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Am Auto angekommen, öffnete ich erleichtert die Beifahrertür und ließ mich auf den weichen Sitz fallen.
„Schatz, wir fahren Mrs. Hudson noch nach Hause. Würdest du dich also bitte nach hinten setzen?“
Es war weniger eine Bitte, sondern vielmehr eine höfliche Aufforderung.
Ich zuckte leicht mit den Achseln und setzte mich auf die Rücksitzbank. Noch bevor wir den Parkplatz verlassen hatten, schlug die Welle der Müdigkeit über mir zusammen und begrub mich unter sich. Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und lehnte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Das Letzte, was ich sah, war ein blonder Hinterkopf.
Hatte der Blonde eigentlich ein Päckchen ins Feuer geworfen? Bestimmt, dachte ich und schlief ein.


* * *




Zum wiederholten Male spürte Cassius den skeptischen Blick des dicklichen Taxifahrers auf sich ruhen.
Er denkt, ich bin verrückt. Cassius huschte ein Lächeln über das Gesicht.
Er stand gebeugt vor einem weißen Taxi mit roter und grüner Beschriftung. Vor ihm lag eine Straßenkarte Roms ausgebreitet auf der Motorhaube. Zaghaft fuhr er mit seinen Händen über die Karte. Seine Augen waren geschlossen. Wahrscheinlich denkt er, ich meditiere. Wieder musste Cassius grinsen.
Hör auf! Konzentrier dich, mahnte ihn sein Verstand.
Leise seufzte er und begann mit seinen Händen Kreise auf dem vielfach geknickten, an manchen Stellen schon eingerissenen Papier zu ziehen.
Wo bist du? Wer bist du, der du meinem Meister soviel Kopfzerbrechen bereitest? Die Fragen hallten in seinem Kopf immer wieder. Die Umgebung um Cassius herum verschwand. Er nahm das Hupen der Autos nicht mehr wahr, hatte nicht mehr den Geruch von stinkenden Abgasen in der Nase, hörte nicht mehr das Klicken der Fotoapparate der Touristen um ihn herum.

Als sein Zeigefinger endlich an einer Stelle stehen blieb, atmete er erleichtert aus.
Er wusste nicht, wie lange er da gestanden hatte, doch der Taxifahrer tigerte bereits nervös hin und her.
„Dio mio“, er streckte seine speckigen Hände nach oben und sah in den Himmel. „Wohin wollen sie nun?“, fragte er barsch. „Ich habe auch noch andere Kunden. Ich kann nicht ewig auf sie warten.“
„Ich werde sie schon angemessen für ihre Unannehmlichkeiten entschädigen“, gab Cassius gereizt zurück und setzte sich auf die Rücksitzbank.
„Bringen Sie mich zur Via die Gracchi!“
Laut ächzte der Taxifahrer, als er seinen Körper auf den Fahrersitz wuchtete.
„Via di Gracchi?“, er zog seine Augenbrauen hoch und sah sich seinen Kunden durch den Rückspiegel an.
„Sind Sie sicher, dass...“
„Ganz sicher“, schnitt ihm Cassius mit kühler Stimme das Wort ab.
Resignierend zuckte der Taxifahrer mit den Schultern und startete den Motor.
Cassius wusste, dass er nicht gerade aussah wie jemand, der sich in der Via die Gracchi heimisch fühlte. Die Straße befand sich am Rande des römischen Villenviertels.

Während der Fahrt sah er aus dem Fenster. Die Gebäude flogen an ihm vorbei. Er hatte keine Zeit sie zu bestaunen. Wie vom Teufel gejagt, raste der Römer durch die italienische Hauptstadt, schnitt andere Autos und fuhr ungebremst in scharfe Kurven ohne mit der Wimper zu zucken.

„Wir sind da“, schnarrte der Taxifahrer und fixierte seinen Fahrgast wieder durch den Rückspiegel.
„Das macht 22 Euro“, fordernd streckte der die Hand nach hinten.
22 Euro? Für eine zehnminütige Fahrt? Scheinbar hatte der Taxifahrer seine Unannehmlichkeiten als sehr hoch eingeschätzt und die dafür zu entrichtende Entschädigung selbst bestimmt.
Cassius schnaubte empört, schluckte seine Verärgerung aber hinunter.
Fest drückte er dem Taxifahrer das Geld in die Hand und stieg aus.
Du solltest dir deine Kräfte sparen, erinnerte ihn sein Verstand.
Kaum merklich nickte Cassius, dennoch ließ er es sich nicht nehmen, die Tür mit aller Kraft zu zuschlagen. Laut schepperte es und der Taxifahrer warf ihm einen erschrockenen Blick zu.
Wortlos drehte Cassius sich um und ging davon.


Katzenjammer




IV. Kapitel

Katzenjammer




Im dichten Geäst der Olivenbäume versteckt betrachtete Cassius das prunkvolle Anwesen, das sich vor ihm erstreckte.
Ein rechteckiger Bau, der sich drei Stockwerke in die Höhe schraubte, stand vor ihm. Seine sandfarbene Fassade mit den weißen einladenden Fenstern, ließen das Haus freundlich wirken. Eine große überdachte Terrasse im Untergeschoss, die von einer Balustrade umgeben war, wurde von den oberen Stockwerken mit Hilfe von massiven, schmucklosen Säulen getragen. Genau über der ersten Terrasse befand sich eine zweite im ersten Obergeschoss, die wiederum von Säulen getragen wurde.
Flüchtig sah Cassius auf seine Armbanduhr. Fast eine Stunde war vergangen, seit er über die steinerne über drei Meter hohe Mauer geklettert war, die die Villa vor neugierigen Blicken schützte. Es war nicht leicht gewesen, ungesehen die unebene Fläche zu besteigen, doch nach anfänglichen Fehlversuchen, gelang es ihm nach einiger Zeit tatsächlich.
Er hatte seine Hände tief in jede Mauerspalte gegraben, die er auf die Schnelle hatte finden können. Seine Hände waren aufgeschürft, ebenso wie seine Knie.

Seit eben dieser einen Stunde saß er, zusammengekauert, in seinem Versteck. Nichts hatte sich während dieser Zeit in der Villa geregt und in ihm war bereits der Verdacht aufgekeimt, dass sich niemand im Haus befand. Ein angelehntes Fenster im ersten Stock belehrte ihn jedoch eines besseren. Niemand, von solchem Wohlstand, würde eine meterhohe, fast unüberwindbare Mauer um sein Grundstück errichten und dann sein Heim in seiner Abwesenheit nicht wie eine Festung verbarrikadieren.
Dieses offene Fenster würde seine Eintrittskarte sein.
Beschwerlich richtete er sich auf. Seine Knochen knackten leise, als sie aus der erstarrten Position befreit wurden. Vorsichtig schob er die mit ledrigen, grau-grün schimmernden Blättern versehenen Äste beiseite, in dessen Schutz er sich versteckt gehalten hatte.
Geschmeidig wie eine Raubkatze erklomm er Ast für Ast, immer näher kam er dem Boden, bis er sich schließlich am grauen, glatten Stamm des Olivenbaumes hinuntergleiten ließ.
Für einen kurzen Moment verharrte er in dessen Schatten, bevor er sich mit geduckter Haltung der Terrasse im Untergeschoss näherte. Sein Herz schlug Cassius bis zum Hals. Es war mitten am Tage und somit schwer unentdeckt ins Haus zu gelangen.
Schwer schnaufend erreichte er eine der Ecksäulen, die die Terrasse im Obergeschoss trugen.
Verstohlen warf er einen Blick durch die Fenster ins Haus, doch zu seiner Erleichterung sah er niemanden.
Kritisch beäugte er die Säule, die sich meterhoch über ihm auftürmte. Er hatte weder die geeignete Ausrüstung zum Erklimmen eines Gebäudes bei sich, noch bröckelte an den Hauswänden der Putz, sodass er sich an diesen Einkerbungen hätte festhalten können.
Cassius zog sich die kleine Balustrade hoch, die ihm bis zur Schulter reichte, und hoffte inständig, dass während der nächsten Zeit niemand aus dem Fenster sehen würde. Er legte seine Arme um die Säule ebenso wie seine Beine und kletterte unbeholfen und langsam empor. Der Schweiß lief ihm über die Stirn und seine Arme schmerzten von der rauen Fassade der Säule, die sich in seine Haut bohrte.
Für einen kurzen Moment verließ ihn die Kraft und er rutschte einige Zentimeter hinunter. Fast hätte er vor Schmerz aufgeschrieen.
„Reiß dich zusammen, du hast es doch gleich geschafft“, zischte Cassius leise mit zusammengebissenen Zähnen.
Als er das Kapitel der Säule erreichte, stöhnte er erleichtert auf. Hektisch tastete er mit der einen Hand über ihm nach der Balustrade der zweiten Terrasse. Zu seinem Glück konnte er sie ertasten und klammerte sich an sie. Es kostete ihn große Überwindung, auch seine zweite Hand von der Säule zu lösen.
Du kannst nicht ewig hier an der Hauswand hängen, man wird dich entdecken, mahnte ihn eine Stimme in seinem Kopf.
Cassius hielt die Luft an und spannte seine Beine so sehr an, dass es schmerzte. Als er mit beiden Händen die Balustrade umklammerte, begann er sich langsam an ihr hochzuziehen.

Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, die er dort hing, bis er endlich seinen gesamten Oberkörper über die Balustrade gehievt hatte und seine Beine nachzog.
Erschöpft stemmte er die Hände in die Knie und rang nach Luft, doch jeder Atemzug schmerzte ihm in der Lunge. Mit zitternder Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn und sah sich um. Direkt vor ihm befand sich das offene Fenster. Langsam schritt er darauf zu und lugte hinein.

Vor ihm erstreckte sich ein langer Flur, an dessen Wänden prunkvolle Teppiche, von weit entfernten Ländern und lebensgroße Gemälde, die in ihren vergoldeten, massiven Rahmen noch viel eindrucksvoller wirkten, hingen.
Der Boden war mit dunkelbraunen, blank polierten Holzdielen verkleidet, in denen sich die Pracht der Wände in ihren Farben ansatzweise wiederspiegelte.
So leise wie es ihm möglich war kletterte Cassius auf den schmalen Fenstersims und mit dem Rücken leicht gekrümmt durch das Fenster.
Kritisch betrachtete er den Fußboden. Seine Angst beim Aufkommen auf den Boden ein polterndes Geräusch von sich zu geben, verflog jedoch schlagartig, als er den fein zurechtgelegten elfenbeinfarbenen Teppich unter sich sah.
Das ist ja eine Einladung für jeden Einbrecher, dachte sich Cassius und grinste schadenfroh.
Leichtfüßig landete er mit einem Satz auf dem Teppich. Bis auf ein kurzes dumpfes Geräusch blieb es still.
Erleichtert atmete Cassius aus. Der körperlich anstrengendste Teil seines Auftrages lag hinter ihm. Das Töten an sich war für ihn nur eine Kleinigkeit, obgleich er noch nie einen Menschen getötet hatte. Es wird nicht anders sein, als bei einem Tier, sprach er sich selbst in Gedanken Mut zu. Das Wesen wird zappeln, um sein Leben winseln und doch umsonst gebettelt haben.
Ein leises Kichern ließ Cassius aus seinen Gedanken fahren. Nach der Quelle suchend fuhr er mit dem Kopf hektisch hin und her. Ich bin noch nicht soweit, schrie eine Stimme panisch in seinem Kopf.
Doch entgegen Cassius schlimmsten Erwartungen, blieb der Flur leer. Niemand hatte ihn bei seiner abenteuerlichen Klettertour beobachtet, niemand würde ihn aufhalten.
Schleichend durchschritt er den Flur. An jeder Tür hielt er inne und lauschte, bis er das Zimmer gefunden hatte, aus dem die Geräusche kamen, die ihn zuvor so erschreckt hatten.

Lautlos drückte er die messingfarbene Türklinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt breit. Wieder lauschte er, doch bis auf ein vergnügtes Quietschen war nichts zu hören.
Vorsichtig reckte Cassius seinen Kopf durch den Spalt und lugte ins Zimmer.
Ein kleiner Junge, den Cassius auf etwa zwei Jahre schätzte, saß mit dem Rücken zu ihm auf dem weißen Teppichboden und spielte gedankenverloren mit mehreren, um ihn herum verteilten Spielzeugautos.

Cassius schloss für einen Sekundenbruchteil die Augen. Die Gabe des Jungen war stark und somit auch für Cassius leicht zu entdecken. Er ist es, schoss es ihm durch den Kopf und sein Herz begann wild zu hämmern. Sachte zog er den Kopf zurück und schloss die Tür wieder. Suchend blickte er sich um. Seine Augen huschten durch den Flur, über Gemälde und anderen Wandschmuck, bis sie an einer Stelle verharrten. Hastig eilte Cassius auf diese Stelle zu und kam erst wenige Zentimeter vor der Wand zum Stehen. Ein mit goldenen Blumenornamenten verzierter, ovaler Spiegel, der bis zum Boden reichte, hing vor ihm und zeigte Cassius einen blassen, aber durchaus attraktiven jungen Mann Anfang Zwanzig, dem das rabenschwarze Haar tief in die Stirn fiel und dessen Augen mit ihrer hellgrauen Färbung kälter wirkten, als jeder Schnee.
Scharf sog Cassius die Luft ein und schloss die Augen.
Konzentriere dich auf das, was du bist, sagte er sich und wiederholte diesen Satz immer und immer wieder in seinem Kopf.
Die Dunkelheit vor seinem inneren Auge wurde durch das Scheinen zweier heller Nebelschwaden verdrängt, die auf ihn zu zu schweben schienen. Erst als sie sich ihm ganz genähert hatten, konnte Cassius Unterschiede in ihrer Gestalt erkennen. Während von der einen Schwade nur ein gedämpftes Licht ausging, strahlte die andere eine derart große Helligkeit aus, dass man sie mit der der Sonne vergleichen konnte.
Die leuchtende Schwade hatte eine schlichte, weiß-graue Farbe, während die andere leicht grünlich schimmerte.
In Gedanken streckte Cassius die rechte Hand nach der grünen und die linke Hand nach der weißen Schwade aus, woraufhin beide Nebelschleier begannen, liebevoll seine Hände zu umschmeicheln.
Während Cassius linke Hand sich zunehmend wärmer anfühlte, behielt die rechte Hand ihre Temperatur bei.

Mühsam verdrängte Cassius jeden weiteren Gedanken an seine Umgebung und konzentrierte sich vollends auf seine linke Hand. In Gedanken entzog er der weißen Nebelschwade ihre Energie, die damit ihre Helligkeit verlor und nun ebenso gedämpft leuchtete wie der andere Nebelschleier und sammelte ihre Wärme in seiner Hand. Langsam ließ er die Wärme seinen Arm hinauffließen, über seine Schulter, seine Brust bis hin zu seiner rechten Hand.
Für einen kurzen Augenblick fühlte Cassius sich leer, als er die Wärme freiließ und diese von der grünen Nebelschwade aufgesogen wurde. Erst als sie begann immer heller zu strahlen, beruhigte sich Cassius.
Die beiden Schwaden verschwanden in der Ferne, zurück blieb die Dunkelheit in seinem Kopf.
Langsam öffnete Cassius die Augen. Mit einem flüchtigen Blick in alle Richtungen stellte er sicher, dass ihn niemand beobachtet hatte und wandte sich wieder seinem Spiegelbild zu. Eingehend musterte er es, noch hatte sich an seinem Erscheinungsbild nichts geändert.
Fest heftete er seinen Blick auf sich selbst. Er liebte und hasste diesen Augenblick seiner Verwandlung. Er liebte ihn, weil es ihn faszinierte und er hasste ihn, weil er das Erleben dieser Faszination mit Schmerz bezahlen musste.

Es dauerte nicht lange, bis er spürte, wie sein ganzer Körper leicht pulsierte. Das Erste, was sich an ihm veränderte, waren seine Augen. Das ursprüngliche kalte Grau seiner Iris vermischte sich mit der Schwärze seiner Pupille zu einer dunkelgrauen, milchigen Masse. Für eben diesen Moment war Cassius blind.
Sein Herz schlug ihm vor Aufregung und Nervosität bis zum Hals. Es machte ihn jedes Mal unruhig, nicht sehen zu können.
Ebenso schnell wie sein Augenlicht verschwunden war, kehrte es wieder zurück und dem ersten Anschein nach, hatte sich nichts verändert. Erst ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass seine Verwandlung ihrem geregelten Verlauf nachging. Seine schwarze Pupille hatte fast wieder ihre ursprüngliche Größe angenommen und auch sonst wäre einem Außenstehenden an Cassius Augen nichts Sonderbares aufgefallen. Als Cassius jedoch in den Spiegel sah, begegnete er dem Blick zweier eisblauer Augen, die ihn herausfordernd anstarrten.

Ein leichtes Kribbeln an seinen Unterarmen riss Cassius aus dem Bann seiner Augen. Seine Arme zuckten leicht, als im Zeitraffer immer dichter werdendes, weißes und gelegentlich auch schwarzes Haar aus seiner Haut spross, bis sie diese vollkommen überdeckte. Wieder sah er in den Spiegel, diesmal auf seinen Haaransatz. Vereinzelt hatten sich weiße Haare in sein dichtes schwarzes Haar geflochten, sodass er auf den ersten Blick wie ein Mann mittleren Alters aussah. Doch bei diesen vereinzelten hellen Strähnen blieb es nicht. Schnell färbte sich sein kompletter Haaransatz weiß. Wie Wasser, das über Cassius Kopf gegossen wurde, floss die weiße Farbe seine Haare hinunter, tropfte auf seine Brust und seinen Rücken und bahnte sich ihren Weg bis zu den Füßen.
Wie in einen Pelz aus weißem Fell, mit vereinzelten langen schwarzen Streifen, die gleichmäßig seinen Körper durchzogen, gekleidet, stand Cassius im Flur. Ein plötzliches Ziehen im Mund, ließ ihn zusammenzucken. Er spürte, wie sich sein Kiefer nach vorne schob und seine Zähne wuchsen. Schmerzerfüllt biss er die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben.
Kaum hatte sich dieser Schmerz gelegt, fühlte er, wie die Haut um seine Nase sich spannte. Cassius wandte den Blick von seinem Spiegelbild ab. Mehr wollte er nicht sehen, es genügte ihm schon, es zu spüren. Er drehte dem Spiegel den Rücken zu und ergab sich seinem Schicksal.
Das leise Knacken seiner Knochen jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Im nächsten Moment zog sich sein Brustkorb mit einem solchen kraftvollen Ruck zusammen, dass Cassius nach Luft schnappte. Auch der Rest seines Körpers veränderte sich in rasendem Tempo. Seine Arme und Beine wurden kräftiger, seine Fingernägel wurden länger und verhärteten sich.

Seine Verwandlung dauerte zwar nur wenige Sekunden, dennoch war dies die tiefgreifendste Veränderung, die ein Wesen durchmachen konnte.
Sachte wandte Cassius sich um und betrachtete sein Spiegelbild.
Das einzige, was ihn noch an einen Menschen ansatzweise erinnerte, waren seine blauen Augen. Mit leicht wippendem Gang ging Cassius auf seinen Fußballen vor dem Spiegel auf und ab. Sein Körper bewegte sich anmutig, strotzte aber dennoch vor Kraft. Neugierig betrachtete er eine seiner Vorderpfoten und fuhr seine großen, stabilen Krallen aus. Er gab wirklich einen passablen weißen Tiger ab, dachte Cassius stolz, während er im Spiegel seine langen, gelblichen Reißzähne bewunderte.
Nur widerwillig wandte Cassius sich von seinem Anblick ab und konzentrierte sich wieder auf seinen Auftrag. Vollkommen lautlos schlich er auf seinen Pfoten an die Tür, hinter der er das Kind immer noch spielen hörte. Leicht bäumte er sich auf und drückte mit seinen schweren Pfoten die kleine Klinke herunter und öffnete die Tür wie zuvor einen kleinen Spalt breit. Im Zimmer hatte sich nichts verändert. Immer noch saß der kleine Junge auf dem Fußboden seines Kinderzimmers und spielte. Er war allein.

Cassius Muskeln spannten sich an. Langsam schob er seinen kraftvollen Körper durch die geöffnete Tür, immer darauf bedacht, dass ihn das Kind nicht bemerkte.
Vergnügt quietschte das Kind auf, während es eine wilde Verfolgungsjagd mit seinen Miniaturautos nachspielte. Sein kleiner Mund war leicht geöffnet und er gab leise Geräusche, die quietschenden Rädern und brummenden Motoren glichen, von sich.
Lautlos setzte Cassius eine Pfote vor die anderen, sein Herz bebte vor freudiger Erwartung und seine weißen Schnurrbarthaare zitterten leicht. Dieses Kind war sein Auftrag und diesen würde er nun erfüllen.
Plötzlich verstummten die Laute des kleinen Jungen. Er hatte seinen Kopf vom Boden abgewendet und starrte leicht nach rechts. Cassius folgte dieser Richtung und erstarrte schlagartig. Einige Meter von ihnen beiden entfernt stand ein massiver Kleiderschrank, der mit Spiegeln verkleidet war.
Aus seinen blassgrünen Augen starrte der Junge die weiße Raubkatze mit den schwarzen Streifen, die nur wenige Zentimeter hinter ihm stand, durch eben diesen Spiegel an.
Wie in Zeitlupe drehte sich das Kind um und blickte die Raubkatze neugierig an. Nachdenklich legte es den Kopf schief und musterte Cassius von Kopf bis Fuß, während dieser wie eine Statue darauf wartete, was als nächstes passieren würde.
In Cassius Kopf arbeitete es. Während er den Jungen fest mit seinem Blick fixierte, überdachte er, wie er das Kind am Schnellsten und vor allem am Unauffälligsten töten konnte. Es war nicht seine Art, seine Opfer von vorne anzugreifen, aber nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Jeden Moment rechnete er damit, dass es laut losschreien und somit das ganze Haus auf ihn aufmerksam machen würde. Dies musste er unbedingt verhindern.

Zu seinem Erstaunen blieb es im Zimmer vollkommen still. Das Kind schien keine Angst vor seinem Gegenüber zu haben und streckte Cassius seine kleinen, fleischigen Finger entgegen.
„Zebra“, flüsterte es leise und kroch neugierig näher an Cassius heran, bis seine Finger die wippenden Schnurrbarthaare berührten. Verzückt lachte er, bevor er sich mit seinen Händen Cassius Nase näherte.
Bedrohlich knurrte Cassius und zeigte dabei seine scharfen Zähne, die er jederzeit bereit war, in den Körper des Kindes zu bohren. Erschrocken zog das Kind seine Hände zurück, doch seine Augen spiegelten immer noch keine Angst wieder.
Genervt stieß Cassius seinen warmen Atem durch seine Nasenlöcher. Er hatte keine Lust, die Erfüllung seines Auftrages ewig in die Länge zu ziehen, nur weil seine Erscheinung im Kopf des kleinen Knirpses Neugier auslöste. Es wurde Zeit, die Streicheleinheiten hier und jetzt zu beenden.
Ruckartig löste Cassius sich aus seiner Erstarrung und ging einige Schritte auf den Jungen zu, der von der plötzlichen Bewegung überrascht nach hinten überkippte. Auf dem Rücken liegend starrte er nach oben in das Gesicht des weißen Tigers, der nun genau über ihm stand und ihm den warmen, stinkigen Atem ins Gesicht blies. Wie ein kleiner Käfer, der auf dem Rücken hilflos zappelt, dachte Cassius amüsiert bei diesem Anblick.
Zu seiner Zufriedenheit, mischte sich zwischen Erstaunen und Neugier nun auch Angst in den Blick des Kindes. Seine Augen füllten sich mit Tränen und sein Mund begann verdächtig zu zittern.
Cassius war alarmiert. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er losheult, dachte er bei sich.
Ungeduldig knirschte er mit den Zähnen und legte eine seiner Vorderpranken auf die Brust des kleinen Jungen. Er konnte es sich nicht leisten, sein Opfer zu verfehlen.


Ein spitzer Schrei hinter Cassius ließ ihn zusammenzucken. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen. Dieser kehlige, langanhaltende Laut ließ ihm fast das Blut in den Adern gefrieren. Kaum war der Schrei verklungen, riss Cassius die Augen auf und ließ seinen Kopf suchend herumschnellen, die Tatze immer noch auf der Brust des Kindes.

„Wie kannst du es wagen!“, kreischte eine weibliche Stimme.
Eine junge, schlanke Frau mit wallenden roten Haaren starrte ihn zornig an. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Cassius erwiderte ihren Blick und knurrte laut genug, dass sie es hören konnte.
Immer diese Störungen, dachte er genervt und malte sich vor seinem inneren Auge aus, wie er diese Frau mit Leichtigkeit aus dem Weg räumte.
„Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen!“, keifte sie ihn an. „Wenn du nicht sofort von meinem Sohn ablässt, dann Gnade dir Gott! Weißt du etwa nicht, mit wem du es zu tun hast?!“
Mir scheint, mit einer Lebensmüden. In Gedanken wog Cassius ab, wen der Beiden er als Ersten beseitigen sollte.
Diese hysterische Ziege kann sowieso nicht viel gegen mich ausrichten. Sie präsentiert sich mir ja geradezu auf dem Silbertablett. Sicher wird sie auch noch dort stehen, wenn ich ihren Sohn schon längst ins Nirvana befördert habe.
Verärgert über die Störung wandte die Raubkatze sich wieder ihrer Beute zu. Genau dieses Theater hatte er verhindern wollen. Doch auch diese hysterische Frau würde ihn nicht davon abhalten, seinen Auftrag zu erfüllen.

Ein sanfter Wind blies ihm durch das Fell und ließ ihn aus seinen Gedanken fahren. Wo kam dieser Windhauch her. In diesem Zimmer waren alle Fenster geschlossen, als er es betreten hatte.
Zu spät erkannte er die Quelle, die diesen Wind hervorbrachte.
Vor Schmerz jaulte er auf, als sich mehrere scharfe Objekte in seinen Rücken bohrten. Überrascht drehte er den Kopf, um nach seinem Angreifer zu sehen. Zwei riesige adlerähnliche Vögel kreisten über ihm und funkelten ihn aus ihren schwarzen Augen bedrohlich an. Ihr im Nacken schwarzfarbenes Gefieder war aufgestellt und ihre Flügel weit ausgebreitet. Der Bauch der Vögel war schneeweiß, die Flügel und der Rücken hingegen schwarz wie die Nacht.
Harpyien, schoss es Cassius durch den Kopf, als er die langen, blitzenden Krallen und den leicht gebogenen, schwarzen Schnabel erkannte. Die beiden Vögel setzten zu einem erneuten Angriff an und gingen in den Sturzflug über.

Erschrocken wich Cassius von dem kleinen Jungen zurück, der sofort von seiner Mutter aus dem Zimmer getragen wurde, während sie ihm beruhigende Worte ins Ohr flüsterte.
Wieder und wieder bohrten sich die kräftigen Krallen in Cassius Rücken. Er jaulte laut auf und warf einen hilfesuchenden Blick durch das Zimmer.
So hatte er keine Chance, sich vor den Attacken dieser Wesen zu schützen. Er musste hier weg, bevor sie ihm noch mehr zusetzen konnten.

Der einzige Weg den Cassius kannte, um das Haus zu verlassen, nämlich durch eben die Tür, durch die er hineingeschlichen war, wurde ihm von den beiden Harpyien versperrt. Es bestand keine Möglichkeit für ihn, sich im Schutz irgendwelcher Gegenstände der Tür zu nähern.
Während er weiterhin panisch nach einem Ausweg aus dieser Situation suchte, entfernte sich eine der Harpyien von Cassius und dem anderen Greifvogel und ließ sich auf dem Teppichboden nieder.
Der andere setzte zu einer weiteren Attacke an und stürzte sich auf die Raubkatze, die sich in einer der Zimmerecken verkroch und versuchte, durch bedrohliches Fauchen, ihren Gegner einzuschüchtern.
Unbeeindruckt stürzte sich der Vogel immer und immer wieder auf seine Beute, wobei er geschickt den Tatzenschlägen auswich.
Kraftvoll gruben sich die scharfen Krallen des Adlers in Cassius Körper. Unermüdlich versuchte dieser, seinen Angreifer abzuschütteln, wobei sich die Krallen jedoch nur noch tiefer in sein Fleisch bohrten.

Kapitulierend sackte Cassius auf dem Boden zusammen und schloss die Augen, wartend auf den nächsten Schmerz. Scharf sog er die Luft ein. Es roch nach Blut. Das quälende Pochen in Schulter und Rücken verriet ihm, dass es sein eigenes war.
„Genug!“, beendete eine leise, tonlose Stimme den Kampf.
Überrascht sah Cassius auf. Wem hatte er dieses Machtwort zu verdanken, das ihm vermutlich das Leben rettete?

Ein großgewachsener Mann mit schwarzem kurzem Haar stand an genau der Stelle, an die sich zuvor die zweite Harpyie gesetzt hatte und starrte Cassius hasserfüllt aus seinen dunklen Augen an.
„Lass unseren Gast erst einmal verschnaufen, Silvio.“ In seiner Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton, der Cassius nicht entging.
Sofort ließ der zweite Adler von dem Eindringling ab und ließ sich neben dem Mann nieder.
Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich die Harpyie, die ihn zuvor beinahe umgebracht hätte, in einen Mann, der dem Anderen an Größe nicht nachstand. Wohl aber im Alter, denn der zweite Mann, den der Erste Silvio nannte, war um einiges jünger.
Besiegt von einem Teenager, dachte sich Cassius. Was für eine Schmach.

„Mir scheint, du wolltest gerade mein Kind töten“, die Gelassenheit in der Stimme des älteren Mannes ließ Cassius einen Schauer über den Rücken laufen. „Mein einziges Kind“, fügte er mit eiskalter Stimme hinzu.
Harpyien, schoss es Cassius durch den Kopf. Harpyien. Welche Familie war dafür bekannt, dass sie sich in Harpyien verwandeln konnten? Panisch überlegte er. Die Antwort fiel ihm recht schnell ein.
Die Forencis.
Als hätte der Ältere seine Gedankengänge verfolgt, sprach er immer noch mit gedämpfter Stimme:
„Willst du dich nicht rechtfertigen?“
Als ob das etwas bringt, dachte Cassius bei sich.
Der Ältere grinste hämisch, bevor er erneut zu sprechen begann:
„Du bist in mein Haus eingedrungen. In ein Haus der Familie Forenci. In das Haus des Oberhauptes dieser mächtigen Familie, Riccardo Forenci.“
Mit jedem Satz wurde seine Stimme eindringlicher und in Cassius wuchs zunehmend der Wunsch, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen – lebend.
„Verwandle dich in deine menschliche Gestalt! Ich gestatte es dir nicht, dich so in meinem Haus aufzuhalten!“
Cassius Herz schlug ihm bis zum Hals. In seiner menschlichen Gestalt würde er eine leichte Beute für Riccardo und Silvio darstellen.
Riccardo fasste Cassius Zögern als Verweigerung seines Befehles auf und gab Silvio ein Handzeichen.
„Scheinbar hast du die kleine Rückenmassage meines Neffen genossen“, raunte er an Cassius gerichtet.
Entsetzt beobachtete Cassius, wie Silvio ihn mit einem vorfreudigen Grinsen bedachte und begann, sich zu verwandeln.
Nein!, schrie die Stimme in Cassius Kopf auf. Noch so einen Angriff überstehst du nicht!
Noch bevor Silvio vollends in seine tierische Gestalt zurückgekehrt war, verwandelte sich Cassius wieder in einen Menschen.
„Sehr schön, sehr schön“, flüsterte Riccardo und gab Silvio erneut ein Handzeichen, woraufhin dieser in seiner Verwandlung inne hielt und allmählich wieder zum Menschen wurde.
Wie ein Adler umkreiste Riccardo den jungen Mann, mit den ungewöhnlich grauen Augen und dem zerfetzten Hemd, unter dem sich blutige Wunden abzeichneten.
„Was suchst du hier?“, hauchte Riccardo Cassius von hinten ins Ohr.
„Nichts“, log dieser und ohrfeigte sich in Gedanken selbst für diese schlechte Lüge.
Riccardo lachte heiser und stellte sich vor ihn.
„Nach nichts sah mir das aber nicht aus.“
Cassius wusste nichts darauf zu antworten.
„Wer hat dich geschickt?“, dabei riss er Cassius am Hemdkragen zu sich und sah ihm tief in die Augen. „Wer hat dich geschickt, meine Familie für alle Zeiten auszulöschen?!“
Das Blut rauschte laut in Cassius Ohren und er begann unweigerlich, leicht zu zittern.
„Sag es“, keifte Riccardo wieder, „oder hast du noch nicht genug von unseren Krallen? Sei dir sicher, dass ich Silvio diesmal nicht daran hindern werde, dich lebendig aufzuspießen!“
Cassius brauchte Silvio nicht anzusehen, um zu wissen, dass dieser dem Befehl seines Onkels mit Freude nachkommen würde.
„Ich wollte Euren Sohn nicht töten“, stotterte er und ermahnte sich in Gedanken, die Ruhe zu bewahren.
„Seltsam, das sah aber gerade eben anders aus. Die Situation erschien mir eindeutig.“
Er glaubt dir kein Wort, schoss es Cassius durch den Kopf.
„Ich wusste nicht, um wessen Sohn es sich handelt. Ich...“, Cassius Stimme versagte und er sah Riccardo verzweifelt an.
Dieser legte Cassius eine Hand auf die Schulter, woraufhin Cassius vor Schmerz aufschrie und zurückwich. Riccardo grinste, ebenso wie Silvio.
„Für wen hast du meinen Sohn denn dann gehalten, wenn nicht für den Erben einer der mächtigsten Familien unserer Welt?“
Beschämt sah Cassius zu Boden.
„Für einen Unwürdigen.“
Ungläubig sahen Silvio und Riccardo ihn an.
„Einen Unwürdigen? Eine solche Person gibt es nicht! Es hat sie nie gegeben und wird sie auch niemals geben.“
Riccardo klang dermaßen überzeugt, dass Cassius ihn fragend ansah.
„Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?“
Verächtlich schnaubte dieser und ließ Cassius Hemdkragen los.
„Unsere Gabe wird vererbt, durch unsere Gene. Ein Außenstehender, der nicht Mitglied einer dieser Familien ist, kann diese Gabe nicht besitzen.“
Cassius nickte. Das klang tatsächlich logisch, doch sein Meister hätte ihn niemals in die Welt entlassen, wenn er nicht von der Existenz des Unwürdigen überzeugt wäre, dessen war Cassius sich sicher.
Sicherheitshalber entschied er, den Auftrag seines Meisters nicht zu erwähnen. Riccardo würde mir diese Geschichte sowieso nicht glauben, so überzeugt wie er von der Nichtexistenz eines Unwürdigen ist.
Und so begann er zu erzählen.
„Ich spürte eines Nachts die Anwesenheit einer Gabe auf dieser Welt. Doch als ich herauszufinden versuchte, zu wem diese gehörte, fand ich nichts. Ich ging davon aus, dass es sich hierbei nur um einen Unwürdigen handeln konnte und so machte ich mich auf die Suche nach diesem, um ihn zu töten und unsere Welt vor ihm zu beschützen.
Ich kam nach Rom und hier fand ich euren Sohn vor, der ganz ohne Zweifel unsere Gabe besitzt. Ich hielt ihn für den Unwürdigen und hatte vor, ihn zu töten.“
Grimmig sah Riccardo ihn an, doch irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck ließ Cassius zu dem Schluss kommen, dass das Oberhaupt der Forencis seiner Geschichte Glauben schenkte.
Allmählich fasste Cassius neuen Mut und so setzte er seine Erklärung, nachdem Riccardo keinerlei Anstalten machte, etwas zu erwidern, mit bissigem Unterton fort:

„Mir scheint, ihr habt euern Sohn im Kloster nicht gemeldet. Woher hätte ich also wissen sollen, dass es sich bei dem Gabenträger in Rom um euren Sohn handelt. Ihr hättet diese Situation verhindern können, indem ihr euren Sohn nicht vor unserer Welt versteckt hättet“, konterte Cassius und fixierte Riccardo mit herausforderndem Blick.
Das Gesicht des Familienoberhauptes blieb ausdruckslos. Erst nach einigen Sekunden des Schweigens, sprach er leise:
„Wir hätten dem Kloster nach der Geburt meines Sohnes Bescheid geben müssen, da gebe ich dir Recht. Ungern zwar, aber das muss ich wohl eingestehen. Meine Frau und ich hielten es für besser, unserem Sohn eine normale Kindheit zu bescheren und ihn langsam auf sein Schicksal vorzubereiten.“
Erleichtert atmete Cassius aus. Das aufkommende Gefühl des Sieges jedoch, wurde von Riccardo jäh unterbrochen.
„Dennoch rechtfertigt es nicht, dass du mein Kind und damit die ganze Familie auslöschen wolltest.“
„Es war ein Irrtum“, betonte Cassius.
Riccardo beugte sich leicht nach vorne und flüsterte in Cassius Ohr:
„Ich rate dir, dass dies der letzte Irrtum in dieser Sache war, der dir unterlaufen ist.“
Hastig nickte Cassius und wandte sich zum Gehen, doch Riccardo zog ihn an der Schulter zurück. Cassius biss sich, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, auf die Lippe, die sogleich aufplatzte.
„Solltest du meinem Rat nicht folgen...“, er hob seine Hand, die sich sofort in eine Harpyienkralle verwandelte.
Wieder nickte Cassius eilig. Riccardo brauchte den Satz nicht beenden, er – Cassius- hatte die Bedeutung der Handbewegung durchaus verstanden.
Mit einladender Bewegung öffnete Silvio ihm die Tür und er trat hinaus auf den Korridor.
„Du weißt besser als ich, wie du mein Haus betreten hast. Du wirst den Weg nach draußen also sicher alleine finden“; hörte er Riccardos spöttische Stimme. Kurz darauf, fiel die Zimmertür hinter Cassius zu.
„Ich habe Hunger“, hörte Cassius seine gedämpfte Stimme durch die Tür. „Wie wäre es mit Tigerbraten?“
Das Lachen der beiden Männer trieb Cassius an, das Haus schleunigst zu verlassen.

Nur unter Qualen überstand er den Weg, den er gekommen war. Als er die Säule herunterkletterte und seine Arme um diese legte, spannte sich die Haut an seinem Rücken schmerzhaft. Ächzend erreichte er den Boden und lief in geduckter Haltung über die Wiese. Auf dem Hinweg war er geduckt gerannt, um nicht gesehen zu werden. Nun rannte er so, weil es ihm sein Rücken verbot, sich gerade aufzurichten.
Vor der steinernen, hohen Mauer blieb er stehen und starrte empor. Mit leidendem Gesichtsausdruck machte er sich daran, Zentimeter für Zentimeter zu erklimmen. Nur noch eine Armlänge musste er erklettern, als er plötzlich abrutschte und rücklings mit einem dumpfen Schlag auf der Wiese aufschlug. Eine Welle des Schmerzes durchfuhr ihn und er konnte es nicht verhindern, dass ein lauter Aufschrei aus seinem Mund hervorstieß.
Sachte rollte er sich auf den Bauch und blieb auf dem Gras liegen, bis der Schmerz soweit verebbt war, dass er einen neuen Versuch starten konnte, die Mauer zu überwinden.

Noch einmal verlor er den Halt und schlitterte die Mauer hinunter, bis er es beim dritten Versuch endlich schaffte. Kurz blieb er auf der Mauer sitzen und verschnaufte. Sein Blick wanderte über die Olivenbäume, die saftigen Wiesen bis hinüber zum Haus. An einem der Fenster konnte er eine Gestalt erkennen, die ihn wohl während der ganzen Zeit beobachtet hatte.
Cassius wusste, auch ohne die Gestalt genauer erkennen zu können, dass es Riccardo war.
Demonstrativ wandte er den Blick ab.
„Ich habe versagt“, zischte er leise durch die zusammengebissenen Zähne.
Im nächsten Moment fiel ihm die Situation in der Schreibstube seines Meisters wieder ein. Er solle nach dem Rechten sehen, hatte ihm der Meister aufgetragen.
In Rom ging alles seinen geregelten Gang. Die Person, die er und sein Meister für unwürdig gehalten hatten, war Mitglied einer der angesehensten Familien seiner Welt.
Michigan – schoss es ihm durch den Kopf, das zweite Ziel seiner Reise.
Seines Wissens nach lebte kaum eine der Familien, die diese Gabe besaßen, in Amerika.
„Das lässt die Wahrscheinlichkeit sinken, dass ich dort ebenfalls auf ein unbekanntes Mitglied des Klosters treffen werde.“
Cassius schnaubte leise und in seinem Blick spiegelte sich Entschlossenheit.
„Diesmal werde ich den Unwürdigen finden und ihn töten.“
Mit diesen Worten sprang er die Mauer auf der anderen Seite hinunter und verschwand in einer kleinen Seitenstraße.


Stille




V. Kapitel

Stille



Das nervige, schrille und monotone Klingeln meines Weckers riss mich aus dem Schlaf. Mit einem lauten Seufzer drehte ich mich um und schlug mit der flachen Hand auf den kleinen roten Knopf, der oberhalb des Weckers aus ihm herausragte. Sofort kehrte wieder Stille ein und ich hatte Mühe, den Gedanken „Nur-noch-fünf-Minuten“ gar nicht erst in meinen Kopf schleichen zu lassen.
Verschlafen öffnete ich die Augen allmählich und starrte auf das Ziffernblatt. Es zeigte sieben Uhr.
„Vier Stunden Schlaf“, grummelte ich und verbarg mein Gesicht in den Händen.
„Wer braucht schon Schlaf! Der wird doch völlig überbewertet“, versuchte ich, mich zum Aufstehen zu motivieren. Mit aller Kraft schwang ich meine Beine aus dem Bett und richtete mich auf, wobei ich leicht ins Straucheln geriet, sodass ich mich an meiner Kommode festhalten musste.
Barfuss tappte ich immer noch leicht unsicher auf den Beinen in die Mitte meines Zimmers und sah mich um. Es sah wüst aus. Unterhalb eines riesig erscheinenden Wäscheturms fand ich das Objekt meiner morgendlichen Begierde. Mit einem gezielten Tritt brachte ich den Wäschestapel zum Einsturz und schlüpfte in die darunter liegenden Hausschuhe und setzte meinen Weg ins Badezimmer fort. Auf halbem Weg blieb ich stehen. Hatte ich etwa...?
Ich ging ein paar Schritte rückwärts, bis ich direkt vor meinem Spiegel stand. Ich hatte!
Letzte Nacht war ich scheinbar so müde gewesen, dass ich mir nicht einmal die Zeit genommen hatte, mich umzuziehen. Stattdessen war ich mit samt dem Kleid ins Bett gegangen. Kopfschüttelnd schlurfte ich mit halb geöffneten Augen ins Badezimmer. Es grenzte an ein Wunder, dass ich wenigstens meine Schuhe ausgezogen hatte.
Ich stützte meinen Oberkörper auf das Waschbecken und lehnte mich nach vorne , bis meine Nasenspitze beinahe den Spiegel berührte. Langsam weiteten sich meine Augen und ich musterte mein Spiegelbild eingehend. Mein schwerfälliger Versuch, meine Motivation aus ihrem Koma zu erwecken, wurde schlagartig im Keim erstickt.
Meine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab und die restliche Schminke vom Vorabend war kreuz und quer in meinem Gesicht verteilt.
„Super“, nuschelte ich und musste mir eingestehen, dass das alltägliche Schnellwaschprogramm da nicht viel Abhilfe schaffen würde.

Ein leises, melodisches Klingeln, das aus meinem Zimmer kam, ließ mich aufhorchen.
Mein Handy!, schoss es mir schlagartig durch den Kopf und alle Vorhaben zum Thema Renovierungsarbeiten wurden in den Wind geschlagen. Ich stolperte zurück in mein Zimmer und starrte auf das Display meines Handys. Es war eine neue Nachricht von Alex:
„Hey Mel, warte halb acht bei ´Timmothy’s ` auf dich.“

Hastig eilte ich durchs Haus, suchte ein Paar Socken zusammen, steckte mir dabei einen Toast in den Mund und sammelte meine Schulsachen zusammen.
Ein Blick auf meinen Stundenplan hob meine Stimmung merklich.
„Die letzten beiden Stunden Sport“, jubelte ich und dachte dabei vergnügt an die letzte Stunde vor den Ferien. Endlich stand Schwimmen und alles, was mit Wassersportarten zu tun hatte, auf dem Lehrplan, was sowohl die Jungs als auch die Mädchen mit Begeisterung aufgenommen hatten.

Mit lautem Gepolter rannte ich die Treppe hinunter und verabschiedete mich mit einem flüchtigen „Ciao, Granny“ von meiner Grandma, deren Blick mir vom Küchenfenster folgte, bis ich in die nächste Straße gebogen war.
Ein erneuter Blick auf das Display meines Handys zeigte mir eine neue Nachricht an.
„Brauchst dich nicht beeilen, komme etwas später. Alex“
Genervt drosselte ich mein Tempo.
Dafür habe ich mich jetzt so abgehetzt?
Ich stöpselte mir die Kopfhörer meines mp3-Players in die Ohren und trabte dem Treffpunkt entgegen, der etwa einen Fußmarsch von fünfzehn Minuten betrug.
Verträumt ging ich durch den Ort, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Hier kannte ich jeden und jeder kannte mich – leider. Alles war wie immer, seit eben dieser Zeit, seit Granny mich zu sich geholt hatte. Mrs. Collins, unsere Nachbarin, pflanzte immer noch jeden Frühling die selben roten Geranien in ihren Vorgarten, das verwitterte Straßenschild unserer Straße war auch nie erneuert worden und ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass ich im kleinen Schaufenster des `Timmothy’s´ , dem einzigen Supermarkt, den es in Glenn gab, jemals eine andere Werbung gesehen hatte, außer dieser lächerlichen Kaffeewerbung aus den Neunzigern.

Ein plötzlicher Stich, der sich wie ein kleiner Stromschlag anfühlte, durchzuckte meinen Kopf und veranlasste mich, stehen zu bleiben. Erschrocken griff ich mir an die Ohren, doch der Schmerz hatte bereits wieder nachgelassen. Verwundert zuckte ich mit den Schultern und ging weiter. Erst nach einigen Metern, bemerkte ich, dass aus den Kopfhörern keine Musik mehr zu hören war. Genervt zog ich den mp3-Player aus meiner Hosentasche. War die Batterie etwa schon wieder leer, das konnte doch nicht wahr sein!
Zu meiner Überraschung leuchtete das Display sofort auf, als ich mit meinem Zeigefinger auf den Läutstärkeregler drückte.
Ich drückte solange darauf, bis das Gerät nicht mehr lauter zu schalten war, doch immer noch hörte ich nichts. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine ältere Frau ihre Einkäufe nach Hause verfrachtete. Sie hielt mich durch ihre Anwesenheit davon ab, laut loszufluchen und so schimpfte ich in mich hinein.
Das kann doch nicht wahr sein. Ist das blöde Ding jetzt etwa auch noch kaputt?
Gereizt klopfte ich gegen das silberne Plastikgehäuse, immer und immer wieder. Doch es blieb still.
Toll! Ganz toll!, jaulte ich innerlich und zog mir die Kopfhörer aus den Ohren, bevor sie mich noch ganz zur Weißglut trieben. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie die ältere Frau mich von der anderen Straßenseite beobachtete. Ich hob den Blick und nickte ihr freundlich zu, doch sie schüttelte missbilligend den Kopf und drehte mir dann demonstrativ den Rücken zu. Irritiert sah ich ihr nach, wie sie sich die wenigen Treppenstufen zu ihrem Haus hinaufquälte.
Was war nur heute wieder los? Resignierend zuckte ich erneut mit den Schultern und ging weiter. An einer Straßenlaterne, nur wenige Meter von mir entfernt, lehnte Alex und winkte mir zu. Ich beschleunigte meine Schritte, wobei ich Alex kaum aus den Augen ließ. Ich konnte sein breites Grinsen sehen, dass jeden in seiner Umgebung dazu veranlasste, unwillkürlich mitzulächeln und ich konnte seine Grimasse erkennen, als sich seine Augen vor Schreck weiteten und sich sein Mund hektisch zu bewegen begann. Es schien, als würde er mir etwas entgegenschreien, doch ich hörte nicht, was er sagte. Lächelnd winkte ich ab. So leicht konnte er mich am frühen Morgen nicht täuschen. Zu meinem Erstaunen beließ er es jedoch nicht dabei. Er löste sich ruckartig aus seiner lässigen Haltung und kam auf mich zugerannt. Erschrocken fuhr ich herum, als mir klar wurde, dass er mich nicht erschrecken, sondern warnen wollte.
Nur wovor?
Ich wandte meinen Blick nach rechts in eine kleine Seitenstraße, aus der ich ein schwarzes Auto auf mich zuschießen sah. Entsetzt stand ich einfach nur da, unfähig mich zu bewegen.
Ich spürte eine Hand, die mein Handgelenk fest umklammerte und mich mit sich auf den Bürgersteig riss. Alex sah mich entgeistert an und kurze Zeit darauf an mir vorbei. Ich folgte seinem Blick und sah in die vor Wut sprühenden Augen eines älteren Mannes, der in seinem Wagen nur wenige Meter neben uns zum Stehen gekommen war und der, genauso wie Alex wenige Sekunden zuvor, hektisch seinen Mund bewegte. Fragend sah ich Alex an, der scheinbar mit dem Fahrer sprach und beschwichtigend die Hände hob.
Was war hier los? Wieso konnte ich nicht verstehen, was sie sagten?
„Alex, was...“, setzte ich an, doch aus meinem Mund kam kein Laut. Erschrocken fuhr ich mir mit der Hand an den Mund. Fragend sah Alex mich an und ich wagte einen erneuten Versuch.
„Was...“, doch wieder konnte ich mich nicht hören.
Misstrauisch zog er die Augenbrauen zusammen und starrte mich an. Er bewegte die Lippen, doch er schien die Worte, die er formte, nicht auszusprechen.
Verständnislos sah ich ihn an und schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe dich nicht“, schrie ich ihm lautlos entgegen. „Was ist hier los, was passiert hier?“
Das Misstrauen in Alex Blick verschwand und er legte seine Stirn in Falten. Er hob die Hände, legte sie mir auf die Schulter und schüttelte mich, wobei er immer und immer weiter seinen Mund bewegte.
Verzweifelt schloss ich die Augen und schrie. „Ich kann dich nicht hören! Ich verstehe dich nicht! Hilf mir! Bitte!“
Ein erneuter Stromschlag schoss durch meinen Kopf, schwächer als der Erste, aber dennoch deutlich spürbar. Panisch schlug ich die Hände über meinem Kopf zusammen und sank auf den Bürgersteig.

„Melissa! Was ist los?“, drang plötzlich Alex eindringliche Stimme an mein Ohr.
Überrascht öffnete ich die Augen und sah nach oben in sein sorgenvolles Gesicht.
„Alex?“, meine Stimme hörte sich vollkommen normal an, wenn auch unsicher und verängstigt.
Alex kniete sich zu mir herunter und fixierte mich mit seinem Blick.
„Was war das gerade eben? Erst lässt du dich beinahe von einem Auto überfahren, dann schreist du die ganze Straße zusammen. Was ist los mit dir?“
Niedergeschlagen schüttelte ich den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich...konnte dich nicht hören, ich konnte mich selbst nicht hören. Es war einfach nur still.“
Die Verzweiflung ließ meine Stimme mehrfach überschlagen und die Tränen schossen mir in die Augen.
Alex legte einen Arm um mich und zog mich zu sich heran.
„Willst du mir damit sagen, du warst – taub?“
Das letzte Wort sprach er so leise aus, dass ich es nur schwer verstehen konnte.
Taub. War ich taub gewesen? Ich konnte nichts um mich herum hören, das sprach dafür, dass ich taub gewesen war. Aber Taubheit kommt doch nicht einfach so und verschwindet schlagartig wieder?
Ich zuckte leicht mit den Achseln. „Ich weiß es nicht.“

Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Alex Kiefer knirschte leise, ein deutliches Zeichen dafür, dass er nachdachte.
„Herrgott noch mal, gib mir deinen mp3-Player, diese Brülllautstärke ist nicht zum Aushalten. So kann ich nicht denken!“
Perplex starrte ich auf das kleine silberne Gerät, dass ich samt Kopfhörern immer noch in meiner Hand hielt. Er funktionierte und zwar einwandfrei. Aber das konnte nicht sein. Vor wenigen Minuten hat er doch keinen Mucks von sich gegeben.
Vor wenigen Minuten warst du taub, mahnte mich meine innere Stimme.
Ungeduldig riss Alex ihn mir aus der Hand. Einen kurzen Moment später war der Player verstummt.

„Ich werde dich jetzt ins Krankenhaus bringen. Irgendetwas stimmt da nicht. Du kannst nicht eben mal taub sein und dann mal wieder nicht. Das gibt es nicht!“
Entschlossen packte er meinen Arm und zog mich hoch.
„Aber ich will nicht ins Krankenhaus“, brachte ich nur kläglich hervor.
„Im Leben läuft nicht alles so, wie man es gerne hätte“, sagte Alex beharrlich und führte mich an der Hand hinter sich her.


* * *




Hastig durchquerte Cassius das undurchschaubare Netz der römischen Gassen und Straßen. Orientierungslos irrte er herum, doch sein schmerzender Rücken hielt ihn davon ab, länger als nötig an einem Ort zu bleiben. In jede Gasse lugte er hinein, auf der Suche nach einer Bleibe für die kommende Nacht, die laut dem immer dunkler werdenden Himmel nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

In den kleinen, verwinkelten Gassen schienen überwiegend Ratten und anderes Kleintier zu hausen, Menschen hingegen begegnete er nur selten.
Kein Wunder, bei diesem Gestank, dachte sich Cassius und bemühte sich so wenig wie möglich zu atmen. Ein leises Knacken hinter sich, ließ ihn herumfahren, wobei ein brennender Schmerz durch seinen Rücken fuhr. Leise stöhnte er auf und versuchte die abertausenden Nadelstiche, die sich in sein Fleisch zu bohren schienen, aus seinem Kopf zu verbannen. Fest heftete er seinen Blick auf die in völliger Dunkelheit liegende Stelle, von der er meinte, das Geräusch gehört zu haben. Angespannt ballte er die Hände zu Fäusten. Er war nicht bereit für einen Kampf mit irgendeinem dahergelaufenen römischen Dieb. In seiner Verfassung würde er eine leichte Beute darstellen.
Er schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und als er sie wieder öffnete, strahlten sie eisblau. Nun war es eine Leichtigkeit für ihn, die für menschliche Augen schwer einsehbare Ecke in jede ihrer Einzelheiten zu erkennen.
Zu seinem Erstauen sah er geradewegs auf die gräulich – gelbe Fassade des gegenüberliegenden Hauses und eine Ansammlung von Müllsäcken, die zum Teil ausgekippt die Quelle des üblen Geruchs darstellte. Angewidert wich Cassius einen Schritt zurück. Niemand, auch kein noch so schäbiger Dieb, würde sich in so einem Loch verstecken, in der Hoffnung auf ein wenig Geld. Erleichtert atmete Cassius aus. Seine Fantasie hatte ihm wohl wieder mal einen Streich gespielt.
Ein erneutes leises Rascheln lies Cassius aufhorchen. Nein, da ist Etwas! Ich habe es mir nicht eingebildet! Langsam trat er ein paar Schritte auf die Stelle zu.
Ein erschrockenes, schrilles Quietschen ließ Cassius zusammenzucken. Nur einen Sekundenbruchteil darauf bahnte sich eine Ratte ihren Weg durch den Müllhaufen und lief in panischer Angst auf die gegenüberliegende Seite der Gasse, wo sie unter einem Berg von alten, verrotteten Holzdielen verschwand.

Cassius Herz hämmerte wild in seiner Brust und beruhigte sich nur langsam von dem gerade Erlebten.
Nur eine kleine, ekelerregende Ratte, dachte er erleichtert und wandte dem Müllhaufen wieder den Rücken zu.
Diese Begegnung sollte dir eine Lehre sein, mahnte ihn sein Verstand. Es hätte etwas wesentlich Gefährlicheres sein können!
Cassius nickte gedankenverloren. Ja! Er sollte diese Gassen in seiner Verfassung meiden.

Als er um die nächste Ecke lugte, fand er wieder eine Gasse vor, die noch wesentlich enger war, als die Vorhergehenden. Cassius hätte nur die Arme seitlich ausstrecken müssen, um die gegenüberliegenden Häuserwände berühren zu können.
Zu seiner Überraschung herrschte in dieser jedoch wesentlich mehr Betrieb. Hektisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Eine größere Straße musste sich direkt in der Nähe befinden.
Jedes Mal, wenn sich ihm ein Passant näherte, drückte Cassius sich gegen die Wand, denn die Enge der Gasse ließ es nicht zu, dass zwei Menschen normalen Umfangs gleichzeitig eine Stelle in unterschiedliche Richtungen passieren konnten, ohne sich zu berühren. Den Schmerz nahm er dabei in Kauf, denn er wollte auf gar keinen Fall Aufmerksamkeit erregen.

Nur langsam näherte er sich dem Ende der Gasse und mit jedem Schritt voran, schien der Lärm um ihn herum größer zu werden.
An der Ecke blieb er stehen und besah sich die angrenzende Straße. Es war eine von Menschenmassen überflutete Fußgängerzone. Cassius stöhnte in sich hinein.
In seinem Kopf ging er die Möglichkeiten durch, die ihm geblieben waren. Auf dem Weg hierher hatte er kein Gasthaus oder Ähnliches, was sich als Nachtlager angeboten hätte, entdeckt. Also blieb ihm nur der Weg durch diese Straße.

Als Cassius den ersten Schritt in die Fußgängerzone gewagt hatte, beachteten ihn die Leute nicht. Ihre Augen waren leer, ihr Blick ruhte in der Ferne und sie hangen ihren Gedanken nach. Was sie noch für das Abendessen kaufen mussten? Wie nervenaufreibend ihr Arbeitstag gewesen war? Ob ihre Kinder wohl wieder Ärger in der Schule hatten?

Angespannt hielt Cassius den Atem an und besah sich die Straße genauer, auf der Suche nach einer Zufluchtsmöglichkeit. Zu beiden Seiten reihten sich die Geschäfte dicht an dicht. Rechts von ihm befanden sich überwiegend Lokale, in denen die Menschen sich trafen, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Die linke Seite lag im Schatten der Häuser, in denen große Einkaufszentren ihre Waren anboten. Der Großteil der Menschenmasse lief in der Mitte.
Nur gelegentlich brach jemand aus der Masse heraus und verschwand in einem der Geschäfte oder Lokale.
Cassius stieß erleichtert die Luft aus. Die linke, schattige Seite der Straße war kaum besucht.

Unauffällig näherte er sich der Häuserwand und versuchte sich im Schatten, so unbemerkt wie möglich, fortzubewegen.
Aus den Augenwinkeln vernahm er links von sich eine Bewegung und schreckte herum.
Er stand vor dem Schaufenster eines Kaufhauses.
Es war scheinbar ein kostspieligerer Laden, als die Anderen. Zwei Schaufensterpuppen mit perfekten Körpermaßen und ebenen Gesichtszügen strahlten ihm entgegen. Während die eine ein festliches Abendkleid trug, war die andere mit einem samtenen dunkelblauen Anzug bekleidet, der farblich genau auf das Kleid ihrer Nachbarin abgestimmt war. Zwischen den beiden Puppen hing ein rechteckiger Spiegel, der vom Boden bis an die Decke reichte und Cassius sah - sich.
Zum ersten Mal betrachtete Cassius nicht sein außergewöhnlich schönes Gesicht, wie er es sonst immer zu tun pflegte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt seinem Oberkörper.
Von vorne konnte man an Cassius nichts Außergewöhnliches entdecken, außer, dass er für sein Alter eine widernatürlich gebückte Haltung aufwies, doch als Cassius begann, sich vor dem Spiegel um die eigene Achse zu drehen, stieg in ihm die Übelkeit auf. Erst jetzt erkannte er, was für ein furchtbares Bild er tatsächlich abgab. Sein weißes Hemd wies an mehreren Stellen weitklaffende Risse auf, doch das war es nicht, was ihn so schockierte.
Es war vielmehr der Schweiß, der den Stoff an seine Haut presste und unter dem sich die Wunden abzeichneten, und das dunkelrote Blut, das Haut und Stoff zu einer zähen Masse verklebt hatte.

Ein Geräusch, das ihn an das scharfe Einsaugen von Luft erinnerte, riss ihn aus seiner Betrachtung. Flüchtig warf er einen Blick über die Schulter. Sein Blick traf auf eine alte, zierliche Frau, die nur wenige Meter hinter ihm ging. Trotz der vielen Tüten, die sie in den Händen hielt, ging sie aufrecht und ihrer Kleidung nach zu urteilen, gehörte sie zu dem Teil der Gesellschaft, der es an nichts fehlte.
Nur ihr Gesichtsausdruck schien nicht zu ihrer vornehmen Haltung zu passen. Ihren Mund zu einem stillen Schrei geöffnet und die Augen fest auf Cassius Rücken geheftet, blieb sie inmitten der sich bewegenden Menschenmasse stehen und starrte ihn an.
Cassius begann zu zittern und das Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm bereit.
Du kannst hier nicht bleiben!, schrie es immer wieder in seinem Kopf. Nicht so!
Nervös warf er einen flüchtigen Blick in seine Umgebung.
Er brauchte eine Idee! Jetzt sofort! Man würde ihn entdecken!
Panisch raufte er sich die Haare, wobei der stechende Schmerz ihn leise aufstöhnen ließ.
Sein Blick huschte über die Gesichter der Menschen, die nun nicht mehr gedankenverloren durch die Stadt eilten. Immer mehr Leute nahmen von ihm Notiz und malträtierten ihn mit ihren teils sorgenvollen, teils entsetzten Blicken, die sich an seinem Rücken fest sogen. Sie sahen ihm nicht ins Gesicht. Das Einzige was sie sahen, war das am Rücken zerrissene, blutgetränkte Hemd, das an seinem Körper klebte.

An der anzugtragenden Schaufensterpuppe blieben seine Augen hängen und ein erleichtertes Lächeln umspielte seinen Mund.
Er ignorierte das schmerzhafte Ziehen seiner Haut und missachtete die schockierten Blicke der Passanten, als er in das Kaufhaus stürmte.
„Ich muss aus dem Fetzen raus!“, flüsterte er kaum hörbar und steuerte auf einen großen Stapel dunkelblauer und schwarzer Hemden zu.
Mit bebenden Händen durchsuchte er den Hemdenhaufen, nach einem Hemd in seiner Größe, doch der brennende Schmerz und die kritischen Blicke der umstehenden Kunden, trieb ihn zur Eile, sodass er sich letztendlich ein Beliebiges aus dem Haufen griff und auf eine der Umkleidekabinen zusteuerte.
Schwer atmend warf er das neue Hemd auf den Boden und stemmte die Hände gegen den Spiegel. Sein Gesicht trug einen gehetzten Ausdruck und kleine Schweißtropfen bahnten sich ihren Weg.
Mit zitternden Händen öffnete er die Knöpfe seines Hemdes oder das was davon noch übrig war. Langsam schloss er die Augen und schob den Stoff über seine Schultern.
Denk an etwas Schönes!, ermahnte er sich selbst. Denk an deine Freiheit!
Mit einem starken Ruck zog er sich das mit Blut und Haut verklebte Hemd vom Leib. Es fühlte sich an, als ob er sich die eigene Haut abziehen würde und er schrie laut auf. Reflexartig schlug er sich die Hand auf den Mund, um sein Stöhnen zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht.
„Geht es ihnen gut, Signore?“, eine forschende Männerstimme drang an Cassius Ohr.
Cassius Beine gaben unter der Welle des nicht enden wollenden Schmerzes nach und er sank zu Boden.
„Signore, kann ich Ihnen helfen?“
Der purpurne Stoffvorhang bewegte sich leicht.
„Nein!“, schrie Cassius dem Verkäufer beinahe entgegen.
Scharf sog er die Luft ein und aus, bevor er erneut antwortete.
„Es geht schon. Vielen Dank.“


* * *




„Ich versteh das nicht!“, mit einem lauten Schmettern ließ Alex das Besteck auf den Tisch knallen und sah mich an.
Flüchtig warf ich einen Blick durch die Cafeteria und musste feststellen, dass uns ausnahmslos jeder neugierig musterte.
„Wie kann da...“, schrie er mich förmlich an.
„Alex“, mahnte ihn Eleanor gereizt, „kannst du dich auch so mitteilen, dass es nicht die ganze Schule samt Angestellter mitbekommt?!“
Alex schnaubte leise und fuhr dann mit gedämpfter Stimme fort, wobei es ihm sichtlich schwer viel, die Lautstärke auf Sparflamme zu halten.
„Wie kann da nichts sein! Sind das alles Stümper im Krankenhaus? Es kann doch nicht sein, dass dein Gehör plötzlich mal Urlaub nimmt und dann irgendwann zurückkehrt, weil’s ihm zu langweilig war...“
„Alex!“, Eleanor strafte ihn mit ihrem Blick, da er schon wieder drauf und dran war, die ganze Schule von meiner kurzfristigen Taubheit zu informieren.
„Eleanor!“, äffte er sie nach, worauf hin diese sich beleidigt von ihm abwandte.
„Leute“, schaltete ich mich nun auch ein, „ich verstehe auch nicht, was das war, aber wenn der Arzt sagt, dass er nichts Auffälliges entdecken konnte, dann wird das wohl schon so sein.“
Wortlos schnappte Alex sich seine Gabel und begann, sein Essen in sich hineinzuschlingen.
„Was ist los mit dir Alex? Du solltest dich eigentlich für mich freuen, dass es wieder weg ist und sie nichts gefunden haben.“
Er schüttelte leicht den Kopf und nuschelte mit vollem Mund:
„Nur weil sie nichts gefunden haben, heißt das nicht, dass da nichts ist!“
„Alex!“, warf Eleanor wieder dazwischen.
„Verdammt Eleanor, ich weiß, wie ich heiße!“, keifte er sie an.
„Du solltest ihr nicht grundlos Angst machen, nur weil du von Ärzten nicht viel hälst!“, keifte nun auch sie.
„Grundlos?“, Alex Stimme überschlug sich beinahe. „Das ist doch nicht grundlos. Das ist....“
Ich rollte genervt mit den Augen, nahm mein Tablett und stand auf.
„Wo willst du hin“, fragten die beiden Streithähne verwundert wie aus einem Mund.
„Weg. Ihr seid nicht auszuhalten.“, erwiderte ich trocken und verließ den Tisch.
„Siehst du, jetzt hast du sie mit deiner aggressiven Art vertrieben.“, motzte Eleanor Alex an, der prompt darauf einging und aufgebracht rief:
„Ich? Wer musste sich denn einmischen. Das warst doch wohl du, Miss Ich-muss-mich-in-Alles-reinhängen!“

Resignierend zuckte ich mit den Achseln und ging entschlossenen Schrittes aus der Cafeteria, ohne mich noch einmal nach ihnen umzudrehen.
Ein flüchtiger Blick auf mein Handy verriet mir, dass mir noch eine gute viertel Stunde Zeit blieb, bis der Sportunterricht begann.
Super!, dachte ich. Da freue ich mich mal auf ein Fach und dann darf ich nicht mitmachen.
Mit verkniffener Miene dachte ich an die Worte des Krankenhausarztes: „Sie sollten jegliche Berührungen mit ihren Ohren vermeiden. Und auf gar keinen Fall schwimmen gehen!“

Leise seufzte ich und machte mich im Schneckentempo auf den Weg in die kleine Schwimmhalle.
Dort standen bereits zwei Personen und warteten auf den Beginn der Stunde. Die eine war unsere allseits beliebte Sportlehrerin, die andere unsere verhasste Klassenstreberin, die sich selbst täglich dazu bereiterklärte, den Lehrern die Taschen zu tragen.

„Mrs. Parker?“
Meine Sportlehrerin drehte sich zu mir um sah mich fragend an. „Miss Griffin?“
„Ich habe hier“, wild begann ich in meiner Tasche herumzukramen, „ein Attest von meinem Arzt.“ Zu meiner Erleichterung fand ich es auf die Schnelle und überreichte es ihr.
Hektisch huschten ihre Augen über das kleine Blatt Papier.
„Darf ich fragen, was Ihnen fehlt? Sie machen auf mich einen kerngesunden Eindruck.“
„Ohrenentzündung.“
Das war im Grunde nur halb gelogen. Schließlich wusste ich nicht, was mir fehlte. Die Möglichkeit einer Ohrenentzündung bestand also. Mrs. Parker nickte mitfühlend.
„Sie sollten auch Mr. Simmons darüber in Kenntnis setzen, dass sie beim Schwimmen nicht teilnehmen werden. Ich muss heute zu einer Lehrerkonferenz und er wird die beiden Stunden leiten.“
Ich nickte hastig und machte mich auf den Weg in die Schwimmhalle. In der Scheibe der Eingangstür spiegelte sich eine Person, die auf mich zu gerannt kam.
„Mel, jetzt warte doch!“, rief Eleanor einige Schritte hinter mir.
Stur behielt ich mein Tempo bei. Mir war nicht nach Reden zumute.
„Mel!“, Eleanor erreichte mich und hielt mich an der Schulter zurück.
„Was ist los mit dir?“
Ich löste mich aus ihrem Griff und zog die Eingangstür auf.
„Was soll mit mir los sein?“, fragte ich in gelangweiltem Tonfall.
„Seit wann rennst du weg, wenn Alex und ich uns mal streiten? Du weißt doch genau, dass das nicht ernst zu nehmen ist!“
Wortlos durchquerte ich die kleine Eingangshalle und bog nach rechts ab, wo es zu den Damenumkleiden ging.
„Mel! Jetzt bleib doch stehen!“
„Wieso?“, ich drehte mich so plötzlich um, dass Eleanor in mich hineinlief.
Fassungslos musterte sie mich.
„Du benimmst dich in letzter Zeit so ... seltsam.“
Eleanor verschwand in einer Kabine und ich lehnte mich lässig an die Kabinenwand.
„So kenne ich dich überhaupt nicht“, hörte ich sie in der Kabine sagen. „Du bist so ernst in letzter Zeit.“
Genervt verdrehte ich die Augen und murmelte etwas Unverständliches vor mich hin.
„Hast du was gesagt?“, schallte es prompt aus der Kabine.
„Nein“, gab ich gereizt zurück.

„Beruhige dich!“, hörte ich einen Mann sagen, der nicht weit von mir entfernt zu stehen schien. Irritiert wandte ich mich um, doch ich konnte niemanden entdecken.
„Was ist, wenn etwas passiert? Ich kann ihnen nicht helfen!“, zischte eine mir vertraute andere Stimme.
Fred? Ich löste mich von der Wand und lauschte. Es kam aus einem der Gänge links von mir, wo die Umkleiden der Männer waren. An der Ecke blieb ich stehen und schielte in den kreuzenden Gang.
Zwei Männer standen darin. Der eine lehnte mit dem Rücken an der Wand, während der andere ihm die Hände auf die Schultern gelegt hatte und ihn eindringlich musterte. Ich erkannte die beiden sofort. Es war Fred, der dort lehnte, nur mit einer Badehose bekleidet, und den Kopf gesenkt hielt. Doch es war nicht Fred, der mich dazu veranlasste, das Gespräch länger zu belauschen. Vielmehr lag es an seinem Gesprächspartner.
„Was soll schon passieren, sie sind alt genug. Sie können alle sehr gut schwimmen.“, die Stimme des Blonden drang gedämpft an mein Ohr.
In meinem Kopf begann es zu arbeiten. Was hatten die beiden miteinander zu tun? Woher kannten sie sich überhaupt und was war Freds Problem?
Nach kaum einer Minute, die ich meinen Gedanken nachgehangen hatte und währenddessen zwischen den beiden absolute Stille geherrscht hatte, schossen plötzlich Freds Arme nach vorne und schubsten den Blonden weg.

„Lass das!“, zischte Fred. „Ich mag es nicht, wenn du das tust. Such dir dafür jemand anderen.“ Seine Augen waren zusammengekniffen und er starrte seinen Gegenüber feindselig an.
Der Blonde lachte nur und hob beschwichtigend die Hände.
„Schon gut, schon gut. Ich wollte dir doch nur helfen.“
„Du kannst mir...“
„Melissa?“, rief Eleanor aus ihrer Kabine. „Bist du noch da?“
Erschrocken fuhr ich zusammen und zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein, bevor die beiden Männer mich sehen konnten.
Hastig eilte ich wieder zur Kabine zurück.
„Ja ja, ich bin noch da.“
Mein Herz schlug in einem unregelmäßig Staccato und ich versuchte, mich langsam wieder von meinem Schock zu erholen.

Ein leises Klicken war zu hören und die Kabinentür schwang auf.
„Was ist denn nun wieder los? Du guckst, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.“ Eleanor sah mich prüfend an.
Nicht ganz..., dachte ich bei mir und setzte ein Lächeln auf. Es konnte nicht sonderlich überzeugend wirken, denn sie behielt ihren Gesichtsausdruck bei.
Langsam trotteten wir in die Schwimmhalle, wo sich bereits der Großteil unserer Klasse eingefunden hatte.
Hinter mir vernahm ich das leise Klacken von Badelatschen und drehte mich neugierig um.
Fred lief, den Blick aufs Wasser gerichtet, hinter uns – allein.
Wo war der Blonde auf einmal hin?

„Mr. Simmons, sie müssen doch als gutes Beispiel voran gehen und sich abduschen.“, hörte ich die piepsige Stimme unserer Klassenstreberin Tatjana.
„Für das, was ich mir heute überlegt habe, werde ich nicht ins Wasser gehen müssen. Die Übungen kennt ihr bereits.“
Irrte ich mich oder zitterte Freds sonst so feste Stimme?
Zu meiner Verwunderung spürte ich, wie auch Eleanor neben mir unruhig zu werden schien und deren Blick nervös auf ihrem Bruder ruhte.
Fred ließ seinen Blick über die Schülerschar schweifen und erwiderte den Gesichtsausdruck seiner Schwester für einen kurzen Moment, bevor er mit gefasster Stimme fortfuhr:
„Ihr werdet heute für eure nächste Sportprüfung im Sommer trainieren.“
Allgemeines Stöhnen war die Antwort.
„Zwanzig Bahnen und kraulen.“
Das Stöhnen wurde lauter und ich konnte mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
Während alle anderen nacheinander ins Wasser sprangen, wich Fred einige Schritte zurück.
Verblüfft zog ich die Augenbrauen hoch. War er etwa aus Zucker?
„Fred?“, langsam ging ich auf ihn zu, das Attest in meiner Hand.
„Ich habe Mrs. Parker bereits Bescheid gesagt. Ich kann wegen einer Ohrenentzündung heute nicht mitmachen.“
„Ja ja, schon okay“, fuhr Fred mich an und setzte sich auf Bank.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte ich besorgt, doch Fred beachtete mich nicht weiter und starrte stattdessen auf die Schülermenge, die sich in einer Reihe angeordnet und begonnen hatte, ihre Bahnen zu ziehen.

Wortlos drehte ich mich um und trat an die Höhe des Schwimmbeckenrandes, wo Eleanor ihre erste Bahn zog.
„Also?“, Eleanor holte tief Luft, bevor sie ihren Kopf wieder unter Wasser drückte.
„Was – ist – los?“, brachte sie abgehackt, zwischen den einzelnen Schwimmzügen hervor.
„Ich weiß es doch selbst nicht“, seufzte ich, während ich neben ihr herging.
„Im einen Moment geht es mir super und im nächsten wird mir plötzlich schwindelig. Ich habe schon seit einigen Tagen nicht mehr richtig geschlafen.“
„Woran – liegt – das? Das – Schlafen, - meine – ich.“
„Wenn ich das nur wüsste“, gab ich traurig zurück.
„Ich habe Alpträume...“, ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich mir den Traum mit den Schlangen und den Menschen mit der Kutte wieder in Erinnerung rief. „...oder ich werde nachts auf irgendeine Messe geschleift.“
Eleanor hielt in ihrer Bewegung inne, während sie zwischen einem Husten – und einem Lachanfall schwankte.
„Wie war denn die Messe?“, fragte sie mich, nachdem sie sich halbwegs wieder beruhigt hatte.
„Einschläfernd.“
„Kein Wunder“, Eleanor lächelte, wobei ich ihr ansehen konnte, dass sie schon wieder mit einem Lachanfall zu kämpfen hatte.
„Außerdem ist da dieser merkwürdige Typ.“, sagte ich mehr zu mir.
Schlagartig krallte sich Eleanor an den Beckenrand und starrte zu mir hoch.
„Ein Kerl?“, ihre Neugier war geweckt.
„Nicht so einer, wie du denkst.“, versuchte ich, ihre Vorfreude zu mindern.
„Sooo? Was denke ich denn?“, witzelte Eleanor.
„Na du denkst wahrscheinlich an einen Typen, der total gut aussieht, höflich ist und in den man sich einfach verlieben muss.“
Eleanor nickte.
„Ja, so in etwa.“
„Pah“, lachte ich verächtlich auf. „So einer ist der nun wirklich nicht.
Er ist weder höflich, noch würde sich je jemand in so einen Typen verlieben.“
„Aber er sieht gut aus?“, hakte Eleanor nach und grinste mich dabei erwartungsvoll an.
Nachdenklich rief ich mir das Gesicht des Blonden wieder in Erinnerung. Blonde Haare, braune Augen, gerade Nase, ...
„Er sieht ganz okay aus. Das tut jetzt aber auch gar nichts zur Sache.“, bluffte ich Eleanor an. „ Der benimmt sich eigenartig, beobachtet mich die ganze Zeit und verfolgt mich. Sogar auf der Messe war er.“
Eleanor grinste schadenfroh.
„Vielleicht steht er auf dich.“
„Na toll, so einer...“,murrte ich.
„Eleanor, nicht quatschen!“, schallte Freds Stimme von der Bank zu uns herüber.
Genervt rollte Eleanor mit den Augen. „Brüder.
Ach, eh ich es vergesse: Vergiss nicht, dass du am Samstag zum Essen eingeladen bist. Deine Grandma kannst du natürlich mitbringen.“
Kurz hielt ich mir den Kopf und Eleanor sah mich besorgt an.
„Ich glaube, ich werde nach Hause gehen. Mir wird schon wieder ganz schwindelig.“
Ich entschuldigte mich bei Fred, der immer noch angespannt auf der Bank saß. Mir schien es, als hätte er sich die ganze Zeit nicht bewegt.
Es überraschte mich sogar, dass er ein kurzes, schwaches Nicken zustande brachte.
„Vielleicht Kreislaufprobleme“, rief mir Eleanor hinterher, als ich die Halle verließ. Der sorgenvolle Unterton, der in ihrer Stimme mitschwang, brachte auch mich dazu, mir Gedanken über meine Gesundheit zu machen. Kreislaufprobleme in meinem Alter, war das normal?


* * *




Eilig schloss Cassius die Tür hinter sich, die dabei ein lautes Knarren von sich gab. Sofort rümpfte er die Nase. Es roch nach Hund.
„Widerlich“, angeekelt verzog er das Gesicht und hastete mit großen Schritten an das einzige Fenster im Raum, dessen Holzrahmen verzogen war und sich nur schwer öffnen ließ.
Was für eine Absteige!, dachte er sich. Aber sie ist billig und für mich sogar umsonst.
Ein schadenfrohes Lächeln umspielte seinen Mund, als er aus dem Fenster blickte. Sein Zimmer befand sich in der ersten Etage, direkt über einer kleinen Kneipe.
Das Abhauen wird ein Kinderspiel. Cassius rieb sich die Hände und besah sich seine Unterkunft genauer.
Das Zimmer war nur spärlich eingerichtet. Ein Bett, dem man ansehen konnte, dass es schon Vielen einen halbwegs erholsamen Schlaf ermöglicht hatte, eine spärliche Kommode, deren Schubladen an einigen Stellen so verzogen waren, dass man sie nicht herausziehen konnte und ein Waschbecken, das schon seit geraumer Zeit kein Wasser mehr abbekommen zu haben schien.
Langsam entblößte Cassius seinen Oberkörper und warf das blaue Hemd, das er mit überraschender Leichtigkeit aus dem Kaufhaus gestohlen hatte, auf das Bett.
Zögernd trat er an das Waschbecken und verstopfte den Abfluss mit einem schwarzen Stöpsel, der daneben lag.
Er wandte sich um und sein Blick fiel auf ein kleines weißes Stoffbündel. Nervös schritt er darauf zu, löste den Knoten und legte das frei, was er zwischen den Überresten seines weißen Hemdes verborgen gehalten hatte.
Es war eine Flasche aus Weißglas mit einem grünen Etikett und ihr wabberte eine farblose Flüssigkeit.
Hastig drehte er am Verschluss der Flasche, die er einem schlafenden Obdachlosen auf seinem Irrmarsch durch Rom, geklaut hatte und schüttete ihren Inhalt bis auf den letzten Tropfen in das Waschbecken. Die durchsichtige Flüssigkeit sah aus wie Wasser, doch der beißende Gestank, der von ihr ausging, verdeutlichte, dass es sich hierbei nur um Alkohol handeln konnte. Der Geruch verursachte bei ihm Kopfschmerzen und er wandte sich ab.

Mit zitternden Händen griff er nach dem weißen Hemd und spannte seine Muskeln an, woraufhin ein langer stechender Schmerz ihn durchzuckte.
Ein leises surrendes und zischendes Geräusch war zu hören, als Cassius nach und nach das Hemd in Streifen riss.
Sein Puls beschleunigte sich, als er einen der Stofffetzen in seine Hand nahm und sich damit über das Waschbecken beugte.

Ich muss es tun!, versuchte er jeden Zweifel an seinem Vorhaben auszuräumen.
Sonst scheitert mein Auftrag! Es darf sich nicht entzünden! Ich darf nicht noch einmal versagen!

Gedankenverloren sah Cassius zu, wie sich der Stofffetzen zwischen seinen Fingerspitzen mit der klaren Flüssigkeit voll sog.
Das Atmen fiel ihm schwer, denn mit jedem Zug strömte der Geruch dieser Flüssigkeit in seinen Körper und bereitete ihm zunehmende Übelkeit.
Zögernd tastete er mit der freien Hand über seinen Rücken. Vorsichtig strich er über die tiefen Kratzer, die sich unter seinen Fingerkuppen anfühlten, wie lange Krater.
Langsam hob er die andere Hand, den tropfenden Stoff haltend, über seinen Kopf, wobei die Haut am Rücken sich unerträglich spannte und den Eindruck machte, als würde sie jeden Augenblick reißen.
Zwar legte er den Fetzen behutsam auf die Stelle, wo seine Finger zuvor einen langen Kratzer ausgemacht hatten, doch linderte dies seine Qualen nicht im Geringsten. Wie Säure schien sich der Stoff in seine Haut einzubrennen.

Cassius Augen verengten sich zu Schlitzen und er biss sich fest mit den Zähnen auf die Lippe. Auch als diese aufplatzte und begann, zu bluten, kam kein Laut aus seinem Mund. Nur in seinem Innern schrie er vor Schmerz und Wut.
Das Blut rauschte in seinen Ohren und schien an seinem Rücken zu pulsieren. Immer wieder flammte der Schmerz auf. Benommen löste er den Stoffstreifen von seiner Haut, warf ihn zu Boden und taumelte auf das Bett zu.
Erschöpft ließ er sich darauf nieder und starrte hinaus in die Nacht.
Irgendwo da draußen war er, der Gabenträger. Da war Cassius sich sicher.
„Ich finde dich“, zischte er leise und erhob sich nach einiger Zeit wieder, um die qualvolle Prozedur fortzusetzen.


Spuren(los)




VI. Kapitel

Spuren(los)



Mit leicht unsicheren Schritten ging ich den steinernen Weg entlang, der durch den Garten der Simmons führte. Ich hatte die vergangenen Tage hauptsächlich im Bett verbacht. Granny hatte mich sofort, als ich vom Sportunterricht nach Hause gekommen war, ins Bett gesteckt und versucht, mich mit Vitaminen und anderen Mitteln, die angeblich das Immunsystem stärken sollten, wieder aufzupäppeln.
Zu meiner Überraschung schlug Grannys Heilmethode an, was sie scheinbar noch mehr erstaunte, als mich selbst, und das auch noch äußerst schnell. Bereits am nächsten Tag ging es mir um Einiges besser, sodass ich mich am Samstag beinahe wieder ganz gesund fühlte. Ich war während diesen zwei Tagen nicht in die Schule gegangen, woraufhin Eleanor mich fast stündlich angerufen und sich nach meiner Gesundheit erkundigt hatte. Sie machte mir klar, wie sehr sie sich auf das Essen bei ihr zu Hause freute und umso erleichterter war ich, ihr am Samstag nicht absagen zu müssen.

Für eine Priesterfamilie konnten die Simmons ein ziemlich großes Haus ihr Eigen nennen. Der Garten war prächtig und zeigte sich in dieser Jahreszeit von seiner schönsten Seite. Als ich den Blick von den farbenprächtigen Rosen hob, sah ich genau auf das Haus. Es faszinierte mich immer wieder. Es war ein altes Steinhaus mit großen einladenden Fenstern mit weißen Holzrahmen.
Auf der anderen Seite des Hauses befand sich ein großer Wintergarten, in dem die Familie immer gerne zu essen pflegte und ich ging fest davon aus, dass wir auch heute dort essen würden. Ich freute mich schon auf diesen Anblick - wenn die Sonne unterging und nur die kleinen Lampen im Garten leuchteten.
In Gedanken versunken stieg ich die massiven Steinstufen empor, die auf eine weite hölzerne Veranda führten und näherte mich der Eingangstür, in die ein Mosaik aus Glas eingelassen war.
Ich hatte Eleanor einmal danach gefragt, was es darstellte, doch sie sagte nur, ihr Vater hätte es auf einem Trödelmarkt gefunden und das Bedürfnis verspürt, es zu kaufen.
Wie in Zeitlupe streckte ich den Finger nach der Klingel aus und drückte auf den kleinen silbernen Knopf. Eine leise Melodie war im Inneren des Hauses zu hören.
Leicht beugte ich mich hinunter und betrachtete das Bild. Es war eine Art Wappen und über dem Wappen stand ein Spruch geschrieben, den ich nicht verstand. Vermutlich war er auf Latein. Ich hatte mich damals in der Schule geweigert, Latein zu erlernen. Wieso auch? Diese Sprache war doch tot.
Zum ersten Mal ließ mich meine Neugier diesen Entschluss bereuen. Zu gern hätte ich gewusst, was es mit diesem Spruch auf sich hatte. Wieder wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Wappen selbst zu. Es zeigte zwei schwarze Körper, vermutlich Tiere, so genau konnte ich es nicht erkennen.
„Ich geh schon“, schallte es aus dem Haus und ich fuhr erschrocken zusammen. Schnell verdrängte ich meinen Wissensdurst und straffte meine Haltung.
Fast im selben Augenblick schwang die Tür nach innen auf und gab die Person preis, die mir da so freudestrahlend entgegenblickte.
Sein Lächeln verschwand schlagartig und auch ich konnte meine Kinnlade nicht daran hindern, herunterzufallen.
So standen wir also im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Tür und Angel. Er mit einem undefinierbaren Blick, die Arme auf der Brust verschränkt und ich mit sperrangelweit geöffnetem Mund.

Nach einem kurzen Moment der Stille räusperte er sich und fuhr sich mit seiner Hand durch das blonde Haar.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ Er versuchte freundlich zu klingen, doch das Misstrauen in seiner Stimme überhörte ich nicht.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ihm immer noch das Innere meines Mundes zeigte und schloss ihn sofort. Ich schluckte merklich. So wurde ich hier noch nie empfangen, zumal sie mich ja eingeladen hatten. Aber was machte dieser Typ hier? Wollte Eleanor mich ärgern, indem sie diesen Stalker eingeladen hatte?
In mir kochte Wut auf und ich ballte die Hände zu Fäusten.
Fragend sah er mich an und tippte mit seiner Fußspitze ungeduldig auf den Boden.
„Hör mal, wir erwarten Besuch.“
Wieder schluckte ich nur. WIR? Die Simmons und nicht du! Was mischt du dich da überhaupt ein?
„Wer ist denn da, Ben?“ hörte ich eine tiefe Stimme, die sich uns näherte.
Mr. Simmons tauchte auf und stellte sich neben den Blonden.
„Ach Melissa, da bist du ja. Wir haben uns schon gewundert, was Ben so lange an der Tür treibt. Flirtest du schon wieder?“
Neckisch kniff er dem Jungen in die Seite und zwinkerte mich wissend an. Wir beide waren vollkommen verdutzt und es war uns anzusehen, dass wir nicht wussten, wie wir darauf reagieren sollten. Flirten? Ich? Mit dem da? Bei dem Gedanken schüttelte ich den Kopf. Unvorstellbar!
„Was ist denn hier los. Gibt’s irgendwas umsonst“, platzte jetzt auch Eleanor dazwischen. Als sie mich sah, grinste sie.
„Na das darf ja wohl nicht wahr sein! Habt ihr unseren Ehrengast noch nicht hereingebeten?“
Mit gespieltem Zorn stemmte sie eine Hand in die Hüfte und zog mich mit der anderen herein.
„Komm, ich bin noch nicht ganz fertig mit Kochen.“
Eilig zog sie mich hinter sich her in die Küche, was eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Ich ging in diesem Haus ein und aus. Einer Führung hätte es also wirklich nicht bedurft.
In der Küchentür blieb ich stehen. Das Chaos war vollkommen und vertrieb schlagartig die unerwartete Begegnung aus meinem Kopf. Überall stapelten sich Töpfe und Pfannen, Schüsseln und Teller. Ich konnte mir ein Seufzen nicht verkneifen, für das ich sofort einen bösen Blick erntete.
„So hier, die müssen noch geschält werden.“
Skeptisch beäugte ich das Etikett der riesigen Plastikschale.
„3 Kilo Karotten?“
Als Eleanor darauf nichts erwiderte, legte ich nach.
„Du weißt schon, dass ich alleine gekommen bin und nicht mit dem halben Footballteam, oder?“
Jetzt meinte ich, ein Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen.
„Naja, man kann ja nie wissen“, nuschelte sie, während sie aus einem der Töpfe probierte, die schon bedrohlich dampften.
Wieder seufzte ich nur. Widerstand war zwecklos. Ich zückte ein Messer und begann, meine Mission zu erfüllen. Mit jeder Karotte, die ich skalpierte, wuchs in mir die Frage, wie viele auf einen Gast entfallen würden. Ich dachte an Mathe. In meiner Freizeit. Wurde man mit dem Alter so?
Wir waren vier Personen und hatten drei Kilo Karotten zur Verfügung. Wozu kochte Eleanor noch irgendwas anderes. Das reichte locker, um satt zu werden.
„Du Eleanor“, ich musste diese Erkenntnis einfach mit ihr teilen. „Du weißt schon, dass jeder von uns, dann fast ein Kilo Möhren zu sich nimmt?“
Entsetzt drehte sie dem Herd den Rücken zu und starrte mich an.
„Was? So viel?“ Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Ganz offensichtlich rechnete sie nach.
Plötzlich lachte sie auf. „Du übertreibst mal wieder maßlos. 600 Gramm ist doch nicht fast ein Kilo?!“
„Verstört sah ich sie an. 600 Gramm? Wir sind vier Personen mit drei Kilo allerfeinsten Karotten“, rechnete ich ihr vor.
Sofort unterbrach sie mich. „Wieso denn vier? Wir sind fünf.“
Verdutzt sah ich sie an. „Du, dein Vater, dein Bruder und ich. Das sind laut meinen Erfahrungen in der ersten Klasse vier Leute.“
Langsam aber sicher wurde ich gereizt. Verkaufte sie mich etwa für dumm?
„Ich habe zwei Brüder wie du weißt. Der eine sitzt im Wintergarten und liest grade irgendeinen Schinken von Tolstoi und denkt nicht im Traum daran mir zu helfen“, wütend schwang sie die Suppenkelle. „Und der andere steht wahrscheinlich immer noch an der offenen Haustür.“
Ich hatte ihren Vortrag nicht vollständig verfolgt, aber der letzte Satz ließ mir das Messer aus den Fingern gleiten.
„Ah“, jaulte ich auf, als die kleine Klinge sich in meinen Zeigefinger bohrte.
Ich schüttelte über meine eigene Geschicklichkeit den Kopf und steckte mir den Finger in den Mund.
„Das ist dein Bruder?“, nuschelte ich entsetzt und sah sie mit großen Augen an.
Eleanor zuckte mit den Schultern. „Sagt zumindest mein Vater. Ich war bei der Zeugung nicht anwesend.“
„Aber, aber“, stotterte ich. „Das ist der, von dem ich dir erzählt habe. Der, der mich verfolgt.“
Ich nahm den Finger aus dem Mund und runzelte die Stirn.
„Das kann nicht dein Bruder sein. Er sieht dir überhaupt nicht ähnlich!“

Eleanor wandte sich mir zu und sah mich zuerst verwundert an. Dann jedoch grinste sie frech.
„Ben war der Typ, den du beim Schwimmen erwähnt hast?“
Ich nickte stumm.
„Du findest also, er sieht nur durchschnittlich aus“, prustete sie plötzlich los. „Lass ihn das ja nicht hören. Ich glaube, er ist sehr stolz auf sein Aussehen.“
Immer noch verwirrt schüttelte ich den Kopf. Wie konnte meine beste Freundin so einen Bruder haben.
„So einen Freak?“ Zu meinem Entsetzen sprach ich diesen Gedanken laut aus und die Hysterie in meiner Stimme war nicht zu überhören.
Eleanors Grinsen verschwand aus ihrem Gesicht und sie hob fragend eine Augenbraue.
„Wow, ich wusste nicht, dass du dir so schnell ein Urteil über andere Leute bildest. Du hast ihn doch gerade erst kennengelernt.“
Jetzt witzelte sie nicht mehr.
„Gerade erst kennengelernt? Der hat mich in der Schule über den Haufen gelaufen, mich mit Blicken malträtiert und... verfolgt mich“, fügte ich noch leise hinzu.
„Du leidest unter Verfolgungswahn. Das war eine Osterzeremonie. Ist doch klar, dass mein Bruder, als der volljährige Sohn des Priesters, daran teilnehmen muss, oder?
Und was die anderen „Vergehen“ betrifft, die du ihm da zur Last legst: Vielleicht war es einfach nur ein Unfall gewesen in der Schule und das mit den Blicken hast du überinterpretiert!“
Erstarrt stand ich da. So hatte sie noch nie mit mir gesprochen.

Laut schnaufte Eleanor auf und drehte mir mit einem Ruck den Rücken zu.
Das kann ja heiter werden, dachte ich bei mir und begann darüber nachzudenken, in wie vielen Stunden ich dieses Haus wohl wieder verlassen können würde.
„Was ist das denn hier für eine miese Stimmung“, rief Mr. Simmons empört, der im Türrahmen lehnte und uns kritisch beäugte, wie wir schweigend unsere Arbeit verrichteten, sehr darauf bedacht, uns nicht anzusehen.
Als keiner von uns Anstalten machte, ihm zu antworten, verschränkte er die Arme vor der Brust und sah mich an.
„Melissa, du bist heute unser Ehrengast. Und Ehrengäste müssen in meinem Haus nicht mithelfen, das Essen zuzubereiten, das ihnen später vorgesetzt wird.“
Verwundert ließ ich von einer Karotte ab.
„Aber, ich...“
„Nichts da“, unterbrach er meinen Einwand. „Geh doch schon mal in den Wintergarten zu Fred. Vielleicht kannst du ihn überreden, Tolstoi für ein paar Stunden aus der Hand zu legen.“
„Und die Karotten?“
Mr. Simmons trat hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Das mach ich schon. Soll doch mal einer sagen, Männer helfen nicht im Haushalt.“
Leicht nickte ich und ließ das Messer sinken. Fragend blickte ich zu Eleanor hinüber, die immer noch mit dem Rücken zu mir gewand, in den Töpfen rührte. Sie hatte die ganze Zeit über nichts gesagt, auch nicht als ihr Vater mich von meiner Arbeit befreit hatte, doch ich war mir sicher, dass sie unser Gespräch genau verfolgt hatte.
„Melissa“ , hörte ich Mr. Simmons mir hinterher rufen. „Lass dir von einem meiner Söhne ein Pflaster für deinen Finger geben.“

Ich ging ins Wohnzimmer, von dem aus man direkt in den Wintergarten kam. Schon von hier aus konnte ich Fred sehen, der in einem der gemütlichen Korbsessel saß und vollkommen in sein Buch vertieft war. Ich zog es vor, im Wohnzimmer zu bleiben. Zum Einen wollte ich ihn nicht vom Lesen abhalten, zum Anderen hätte ich nicht gewusst, worüber ich mich dann mit ihm hätte unterhalten sollen.
Stattdessen durchstreifte ich also das Wohnzimmer auf der Suche nach etwas, das mein Interesse erwecken könnte. Mein Blick glitt über das dunkle Parkett, hinüber zu einem großen Kamin, der ein absoluter Blickfang war. Er schien schon sehr alt zu sein, doch der Efeu und andere Kletterpflanzen, die an ihm herunterhingen ließen darauf schließen, dass er nie benutzt wurde.
Was für eine Verschwendung, dachte ich mir, während ich mir in meiner Fantasie ein knisterndes, wärmendes Feuer vorstellte, das in ihm brannte.
Bestimmt schüttelte ich den Kopf, als ich mir bewusst wurde, dass ich dabei war, mich in meinen Tagträumen zu verlieren und so spähte ich weiter umher. Wie jedes Mal, wenn ich die Simmons besuchte, wunderte es mich von neuem, wieviele Pflanzen sie in einem einzigen Raum untergebracht hatten. Allein im Wohnzimmer zählte ich zwölf Pflanzen unterschiedlicher Arten. Einmal hatte ich Eleanor gefragt, was es damit auf sich hatte, doch sie hatte nur gelacht und gemeint: "Wir fühlen uns eben sehr naturverbunden. Außerdem macht es das Haus lebendiger."
Ich zuckte die Achseln. Was ging es mich auch an.
Relativ schnell wurde ich bei einem Bücherregal fündig, dessen Regale neben Büchern auch Bilder beinhaltete. Es waren allesamt private Fotos, deren Aufnahmen schon eine lange Zeit zurückzuliegen schienen.


Vorsichtig nahm ich das Bild, dass in einen unscheinbaren, kastanienbraunen Rahmen gespannt war, in meine Hände und betrachtete es.
Es zeigt drei kleine Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, die vor einer Schaukel standen und mit breitem Grinsen in die Kamera sahen. Das Foto war in einem Park entstanden, im Frühling.
Das Mädchen trug ein bunt gemustertes Blümchenkleid und ein paar Strähnen ihres rotbraunen Haares wehten ihr ins Gesicht. In ihr erkannte ich Eleanor. Sie hatte immer noch dieses freche spitzbübische Grinsen. Links neben ihr stand ein für sein Alter recht groß wirkender Junge mit ebenfalls rotbraunem Haar in schwarzem Anzug. Er hatte die Hände in seine Hosentaschen gegraben und lächelte, doch es war nicht das selbe offenherzige Lächeln, das seine Schwester ausstrahlte. Es glich eher einem schüchternen, verhaltenen Grinsen - fast so, als ob er Angst hätte, zu zeigen, dass er glücklich ist. Ich habe Fred noch niemals Lächeln sehen, dachte ich plötzlich bei mir. Ob dieses Bild sein letztes Lächeln zeigt?
Ich zuckte leicht mit den Schultern und wandte meine Aufmerksamkeit dem anderen Jungen zu, der als Einziger der drei
eine Brille zu brauchen schien und rechts neben Eleanor stand. Auch er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, doch das schien auch die einzige Gemeinsamkeit zu sein, die die beiden Jungen hatten. Im Gegensatz zu Fred, strahlte der Junge mit dem strohblonden Haar pure Lebensfreude aus, was vermutlich nicht zuletzt daran lag, dass seine rechte Hand hinter dem Kopf seiner Schwester hervorragte, und er mit Mittel- und Zeigefinger ein V formte.
Es war, als ob ich hinter der Kamera stand und dieses Bild machte. Es wirkte so lebendig, dass ich den drei Kindern unwillkürlich entgegenlächelte.
„Damals waren wir auf einer Hochzeit eingeladen.“
Obwohl seine Stimme sanft und ruhig klang, erschrak ich und fuhr herum. Ben stand direkt hinter mir. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Langsam ließ ich das Bild sinken und starrte ihn misstrauisch an, doch seine Augen waren immer noch auf das Bild geheftet.
„Ich komme äußerlich eher nach meiner Mum“, flüsterte er leise.
Schweigend betrachtete ich ihn. Sein blondes Haar fiel ihm tief in die Stirn und verdeckte beinahe seine rehbraunen Augen, deren Blick leicht getrübt zu sein schien.
„Ich war blind wie ein Maulwurf.“
Er wies wieder auf das Foto und lachte heiser, wobei ich einen Blick auf seine weißen, makellosen Zähne erhaschen konnte.
Ich runzelte die Stirn und sah ihm tief in die Augen.
„Trägst du jetzt Kontaktlinsen?“
Leicht schüttelte er den Kopf und strich sich mit der Hand lässig die Haare aus der Stirn.
„Nein.“
„Hm“, war das einzige was ich darauf herausbrachte.
Plötzlich löste er seinen Blick von dem Bild und sah mich mit derselben Offenheit an, mit der ich zuvor ihn betrachtet hatte.
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und senkte den Blick.
„Ich habe dich hier genauso wenig erwartet, wie du mich.“
Nervös versuchte ich den Kloß, der sich in meinem Hals bildete, herunterzuschlucken. Diese Situation war mir unangenehm. Er stand einfach nur da und warf irgendwelche Sätze in den Raum und auf jeden der Sätze, wusste ich nicht, was ich erwidern sollte.
Zaghaft drehte ich ihm den Rücken zu und stellte das Bild wieder zurück an seinen Platz. Ich atmete tief ein, drehte mich zu ihm und lächelte ihn flüchtig an, bevor ich an ihm vorbei in den Wintergarten ging.

„Hier, ich habe dir ein Pflaster geholt.“
Erstaunt bliebt ich stehen und wandte mich zu ihm um. Bens Blick glitt über meine Arme bis hin zu meiner rechten Hand und dann zu meiner Linken. Fragend hob er die Augenbraue und kam näher.
„Wo hast du dich verletzt? Ich kann keinen Schnitt sehen.“
Mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte ich ihn. Woher hatte er gewusst, dass ich mich geschnitten hatte? Er war weder dabei gewesen, als es passiert war, noch hatte ich ihn gebeten, mir ein Pflaster zu holen und Mr. Simmons stand vermutlich immer noch in der Küche und schälte Karotten.
Als er meinen Blick erwiderte , schüttelte ich leicht den Kopf und betrachtete meinen Finger. Hin und her wendete ich meine rechte Hand, doch nirgendwo konnte ich einen Schnitt finden.
Verwundert legte ich die Stirn in Falten und begann mich zu fragen, ob ich mich vielleicht an der anderen Hand geschnitten hatte. Doch wieder schüttelte ich den Kopf. Ich war doch nicht verrückt! Ich wusste doch, wo ich mich nur wenige Minuten zuvor verletzt hatte!

„Er ist weg“, flüsterte ich leise, wobei ich immer noch meine Hand anstarrte und krampfhaft versuchte, den hauchdünnen roten Strich zu finden, der sich zuvor über meinen Finger gezogen hatte.
Ben hustete leise und ich fuhr erschrocken zusammen. Beinahe hätte ich seine Anwesenheit vergessen.
„Na, dann brauchst du es wohl nicht mehr.“
Gleichgültig zuckte er mit den Achseln, steckte das Pflaster in die Hosentasche und drehte sich um.
Perplex sah ich ihm nach, wie er in den Wintergarten ging und sich dort lässig auf einem der Rattansessel neben seinem Bruder niederließ.
Ich hatte mich verletzt, doch nur wenige Minuten später, war nichts mehr zu sehen. Wie konnte er das einfach so abtun? So etwas war doch nicht normal!

„So, wir können dann Essen.“ Mr. Simmons kam mir mit Platten und Schlüsseln beladen entgegengewankt und steuerte auf den Wintergarten zu.
„Alles hinsetzen“, rief er und ich hörte, wie Eleanor das Wohnzimmer betrat. Schnell ging ich in den Wintergarten. Sie war immer noch nicht gut auf mich zu sprechen, das spürte ich, und es war wohl ratsamer, ihr erst mal so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.
"So, jetzt sorgen wir noch für eine gemütlichere Beleuchtung", sagte Mr. Simmons freudestrahlend und schaltete das Licht aus.
Einen kurzen Augenblick später flackerte etwas hell auf und es sah aus wie eine Kerze, die Mr. Simmons auf den Tisch stellte. Nur bei genauerem Hinsehen konnte ich erkennen, was es tatsächlich war und um ein Haar hätte ich lauthals gelacht.
Direkt vor mich stellte Mr. Simmons eine Plastikkerze mit integrierter Glühbirne, die die Flamme darstellen sollte. Dieses Ding erschien mir nicht besonders zeitgemäß. Es war Frühling und nicht Weihnachten.
Mr. Simmons bemerkte meinen kritischen Blick und hob entwaffnend die Hände.
"Wir haben schlechte Erfahrungen mit Feuer gemacht."
Während sich in meinem Kopf die Fantasie regte und ich mir ein in Flammen stehendes Haus und eine obdachlose Familie Simmons vorstellte, räusperte sich Mr. Simmons und hinderte mich daran, meinen Gedanken weiter nachzuhängen.
Kaum hatten alle Platz genommen, wurde ein Gebet gesprochen und das Essen auf die einzelnen Teller drapiert.
Gedankenverloren starrte ich auf meine Hand. Ich war mir so sicher gewesen. Andächtig fuhr ich mit meinem Zeigefinger über die Stelle, an der der Schnitt hätte sein müssen. Es tat nicht weh. Wie konnte es auch. Es war nichts da, was weh tun könnte.
„Schmeckt es dir nicht, Melissa?“ Mr. Simmons sah mich mit einem besorgten Gesichtsausdruck an und auch Eleanor musterte mich kritisch.
Hastig schüttelte ich den Kopf.
„Nein, nein. Es schmeckt sehr gut.“
Wie kannst du das wissen?, klagte mich eine Stimme in meinem Kopf an. Du hast doch noch gar nichts gegessen!
Ich zuckte kaum merklich zusammen. Diese Stimme machte mich noch wahnsinnig. Es waren nicht meine Gedanken, die ich da hörte. Dessen war ich mir sicher. Wurde ich etwa langsam aber sicher schizophren?
„Geht es dir vielleicht nicht gut?“, Mr. Simmons hatte sein Besteck aus den Händen gelegt und seine Finger ineinander verknotet. „Eleanor hat mir erzählt, dass du dich in den letzten Tagen nicht besonders wohlgefühlt hast.“
„Du warst krank?“, platzte es plötzlich aus Ben heraus. Erschrocken fuhren wir zusammen und starrten ihn überrascht an.
Was war daran so besonders? Er wurde wohl nie krank, hm? Am liebsten hätte ich ihm eine patzige Antwort an den Kopf geworfen, doch auf die Schnelle fiel mir nichts Geeignetes ein.
„Eine Erkältung.“ Erwiderte ich daher knapp und senkte den Blick. „Ist schon vorbei.“
Später werde ich mich darüber ärgern, nichts gesagt zu haben, dachte ich mir.
„Da bin ich aber froh“, rief Mr. Simmons erleichtert und gab sich wieder seinem Essen hin.

Schweigend schob ich mein Essen immer und immer wieder über den Teller, während die anderen in ein Gespräch vertieft waren.
Obwohl ich nicht aufsah, wusste ich, dass Ben mich weiterhin beobachtete – vermutlich mit seinem alles durchdringenden Blick, wie er es schon in der Schule getan hatte.
Er starrte mich an und benahm sich seltsam und was tat ich? Ich senkte den Kopf und sprach kein weiteres Wort.
Seit wann lasse ich mich so erniedrigen!
Ruckartig hob ich den Kopf und starrte Ben genau in die Augen. Ich hatte recht. Er hatte mich die ganze Zeit über mit seinem Blick fixiert.
Für einen kurzen Moment meinte ich, Überraschung in seinem Blick wahrzunehmen, doch schon im nächsten, war er wieder durchdringend und forschend.
Ich war das Anstarren anderer Leute nicht gewohnt und auch nicht besonders gut darin. In mir regte sich der Drang, den Blick wieder zu senken und schweigend weiterzuessen, doch gegen diesen Drang kämpfte ich an. Diesmal würde er den Blick senken. Er würde kapitulieren und mich dann ein für alle mal in Ruhe lassen.

Die anderen drei bekamen von unserem Fixiermarathon scheinbar überhaupt nichts mit. Eleanor plapperte aufgeregt über irgendein neues Autoradio, dass sie unbedingt in ihre Spritschleuder einbauen wolle, Fred warf immer wieder einen hektischen Blick unter den Tisch – ich vermute, dass Tolstoi auf seinen Knien lag – und Mr. Simmons sprach über die wundervolle Aussicht in den Garten.
Plötzlich lenkte mich etwas ab, dass spannender war, als das Gespräch der anderen. Spannender ist vielleicht das falsche Wort. Es war einfach unerwartet.
Auf Bens Lippen stahl sich ein Lächeln und er schüttelte leicht den Kopf, bevor er den Blick tatsächlich sinken ließ.
Perplex hielt ich den Blick weiterhin aufrecht und sah nun auf seine Stirn. Er hatte tatsächlich aufgegeben. Innerlich triumphierte ich.

Wie in Zeitlupe führte ich meine beladene Gabel immer wieder zum Mund. Ich achtete nicht einmal genau darauf, was ich da aß, geschweige denn, wie es schmeckte und umso erleichterter war ich, als mein Teller endlich leer war.
„So, dann lasst uns mal das Geschirr abräumen und zum Nachtisch kommen. Den habe ich selbst zubereitet“, dabei zwinkerte er mir lächelnd zu.
„Ben, biete unserem Gast doch noch etwas zu Trinken an.“
Mit Geschirr beladen stapfte er aus dem Wintergarten, Eleanor und Fred dicht hinter ihm.
Betreten starrte ich auf mein Glas.
„Was möchtest du trinken?“
„Wasser, bitte.“ Ich flüsterte beinahe und dafür hätte ich mich am Liebsten selbst geohrfeigt.
„Gute Wahl.“
Gute Wahl? Hatte ich so eben einen Wein bestellt oder wieso sagte er: Gute Wahl?
Fragend sah ich ihn an und meinte gerade noch, ein hämisches Grinsen auf seinem Gesicht gesehen zu haben. Doch schon im nächsten Moment war es verschwunden.
Ben griff unter den Tisch und zog eine Flasche Wasser hervor und beugte sich über den Tisch.
Wortlos streckte ich ihm mein Glas entgegen.
„Du wohnst bei deiner Grandma, hat mir Eleanor erzählt.“
Er setzte die Glaskanne an und ließ langsam das Wasser in mein Glas laufen.
War das eine Frage oder eine Feststellung?
„Ja“, brachte ich nur hervor, während ich zusah, wie das Glas immer voller wurde.
„Danke, das reicht.“
Doch Ben setzte die Kanne nicht ab und das Wasser floss ungehindert weiter in das Glas.
„Es reicht“, wiederholte ich etwas lauter und mit genervter Stimme, doch Ben sah mich nur mit seinem ausdruckslosen Blick an.
Das Wasser hatte nun fast den Rand des Glases erreicht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es überlaufen würde.
Noch bevor ich die Hand wegziehen konnte, legte Ben seine Hand unter meine.
Unter anderen Umständen hätte ich es sicher toll gefunden, wenn ein Junge meine Hand berührte, doch zum Einen war es Ben, der dies tat und zum Anderen war seine Berührung nicht gerade zärtlich. Stattdessen schlossen sich seine Finger wie eine Kralle um mein Handgelenk und hinderten mich daran, das Glas wegzuziehen.
„Was soll das!“, rief ich empört und funkelte ihn wütend an.
„Lass mich sofort los!“
Doch Ben beachtete mein Keifen nicht. Stattdessen senkte er seinen Blick auf meine Hand, während er die Kanne immer und immer mehr anhob und immer mehr Wasser daraus schoss.
Als es den Glasrand erreichte, versuchte ich erneut, mich von ihm loszumachen, doch es gelang mir nicht.
Ich spürte, wie die Innenseite meiner Hand nass wurde, als das Wasser an der Außenseite des Glases hinunterrann. Es bahnte sich seinen Weg über meine Finger, mein Handgelenk bis hin zu meinem Arm.
„Lass endlich los!“, schrie ich ihn nun fassungslos an.
Immer noch fixierte Ben meine Hand oder mehr noch, meinen Arm. Als sein Griff sich leicht lockerte, nutzte ich diesen Moment und zog meine Hand weg. Das Glas fiel klirrend auf den Tisch und sein Inhalt entleerte sich auf der Tischdecke.
Wie aus einer Trance erwacht, hob Ben den Blick und sah mich ebenso fassungslos an, wie ich ihn.
„Was sollte das!“, schnauzte ich ihn an, wobei ich nach einer Serviette griff, um mich abzutrocknen.
Bens Augen huschten über mein Gesicht, über meine Schultern und wieder zu meinem rechten Arm.
„Was gibt es denn da zu gucken!“, platzte es aus mir heraus und ich sah auf meinen Arm.
Für einen kurzen Moment schien mein Herz still zu stehen und ich nahm kein Geräusch um mich herum war. Keine Bewegung, nichts. Meine volle Aufmerksamkeit galt dem Muster aus schwarzen, hauchfeinen Linien, die sich über meinem Arm ausgebreitet hatten. Sie erstreckten sich von meinem Handrücken bis hin zu meiner Armbeuge. Es sah aus wie ein Bild – als ob ich mir Schuppen auf die Haut tattowiert hätte.
„Was ist das?“, meine Stimme überschlug sich vor Panik. Reflexartig legte ich die Serviette auf meinen Arm und sah zu, wie sie sich mit dem verbliebenen Wasser voll sog. Hektisch rubbelte ich meinen Arm entlang. Erst als ich spürte, wie meine Haut brannte, nahm ich die zerfetzte Serviette herunter. Die Haut darunter war gerötet von der Reibung, doch sie war nur rot. Nirgendwo waren schwarze Linien, nirgendwo ein Muster, dass mich an eine Art Tattoo erinnerte. Nichts. Gar nichts.

„Das kann nicht sein“, flüsterte Ben.
Verwirrt sah ich ihn an. Ich hatte seine Anwesenheit vollkommen verdrängt. Er saß auf seinem Platz, die Hände über seinem Kopf zusammengeschlagen und starrte auf die Tischplatte.
Okay, ganz ruhig. Du bist nicht schizophren. Er hat es auch gesehen.
Ich versuchte mich zu beruhigen, langsam ein und aus zu atmen, doch beim dem, was ich eben gesehen hatte, wurde mich übel.
„Ich muss hier weg!“ Entschlossen sprang ich auf und ging um den Tisch herum.
„Warte!“, Ben hielt mich am Arm zurück. „Du kannst jetzt nicht gehen.“ Er klang verwirrt. Kein Wunder, er dachte vermutlich auch, dass er jeden Moment den Verstand verlieren würde.
„Was ist hier los?“ Mr. Simmons kam mit einer großen Schale Nachtisch aus dem Wohnzimmer.
„Ich muss weg, Mr. Simmons. Es geht mir nicht gut.“ Mit einem Ruck befreite ich mich aus Bens Griff und stürmte an dem verdutzt dreinblickenden Mr. Simmons vorbei.
„Dad, halt sie auf!“, hörte ich Ben hinter mir rufen, doch zu meiner Erleichterung war Mr. Simmons von diesem plötzlichen Stimmungswandel viel zu überrumpelt, um überhaupt irgendetwas zu tun.
Als ich an der Küchentür vorbei lief, wäre ich beinahe mit Eleanor zusammengestoßen. Schnell wich ich ihr aus und rannte weiter.
„Es tut mir leid“, rief ich noch, dann ließ ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen.

„Ich verliere nicht den Verstand“, flüstere ich leise zu mir selbst, um mich zu beruhigen. Zum einen war das durchaus positiv. Alles in meinem Kopf schien normal zu funktionieren.
Aber, wenn ich nicht auf dem besten Wege war, eine Irrenanstalt bald von innen zu begutachten, dann bedeutet das, dass es tatsächlich passiert war. Ich habe mir nichts eingebildet. Es war alles ... echt!

„Melissa!“, rief eine männliche Stimme hinter mir. Kurz darauf hörte ich ein schweres Atmen und drehte mich herum. Ben sprang mit Leichtigkeit die Treppenstufen mit einem Satz herunter und rannte auf mich zu.
„Bleib, bitte.“
Seine Stimme war flehend, doch auch damit konnte er mich nicht davon abbringen, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
„Nein, ich möchte nach Hause gehen. Es geht mir nicht besonders gut. Scheinbar bin ich doch noch nicht ganz gesund.“
„Ich kann dich nach Hause fahren“, erwiderte er schnell und hielt einen Autoschlüssel hoch.
„Äh“, stotterte ich, denn mit diesem plötzlichen Anflug von Hilfsbereitschaft hatte ich bei ihm nun wirklich nicht gerechnet.
„Das ist nett von dir, aber ich glaube, die frische Luft wird mir gut tun.“
Resignierend zuckte Ben die Achseln.
„Okay“, stammelte er „war schön dich mal ... richtig kennengelernt zu haben.“
Ich nickte und warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, bevor ich mich umwandte. Auf den Austausch von Nettigkeiten konnte ich heute wirklich verzichten. Mit mir stimmte etwas nicht. Ich bekam schwarze Muster auf der Haut, ich wurde vorrübergehend taub, meine Pupillen veränderten sich, mein Kreislauf glich einem Karussell.
Ich hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als mit ihm ein Schwätzchen zu halten.
„Pass auf dich auf“, hörte ich ihn leise hinter mir sagen, doch als ich mich verwirrt zu ihm umdrehte, um etwas zu erwidern, war er verschwunden.
Seltsam. Leicht zuckte ich mit den Achseln und machte mich auf den Weg nach Hause.

Schon nach wenigen Metern bereute ich es insgeheim, das Angebot von Ben nicht angenommen zu haben.
Es war mittlerweile stockfinster geworden und die Beleuchtung der Straßen fiel äußerst spärlich aus. Umso angespannter setzte ich einen Fuß vor den anderen, die Arme fest um meinen Körper geschlungen. Glenn war nicht gerade für seine hohe Kriminalitätsrate bekannt, aber dennoch hatte ich immer dieses beklemmende Gefühl, wenn ich durch die Dunkelheit ging.
Ein leises Knacken aus einer Hecke neben mir, ließ mich zusammenzucken. Wie erstarrt blieb ich stehen und starrte an die Stelle, an der ich meinte, das Geräusch gehört zu haben.
Als sich nichts weiter rührte, atmete ich erleichtert auf und lachte über meine eigene Fantasie.
Ein Streicheln um meine Beine ließ mich erschrocken aufschreien. Was war das? Oh Gott! Mich ergriff Panik. Im nächsten Moment war dieses Streicheln verschwunden, doch ich wusste, dass derjenige immer noch in der Nähe sein musste.
Im Kopf zählte ich langsam von drei aus herunter. Als ich bei Null angelangt war, rannte ich plötzlich los.

Kein einziges Mal bis ich daheim angekommen war hielt ich an, obwohl mir die Seite schmerzte. Viel zu sehr saß mir der Schock des gesamten Abends noch in den Gliedern.
Im Haus brannte noch Licht, Granny wartete also noch auf mich, so wie sie es immer tat.
Als ich mich der Haustür näherte, sah ich etwas kleines schwarzes neben der Haustür `liegen´. Vorsichtig trat ich näher, schrak jedoch sogleich zurück, als dieses Etwas plötzlich seine gelben Augen öffnete und mich mit schräg gestelltem Kopf ansah.
Ein Kater, dachte ich erleichtert und atmete beruhigt aus.
„Du hast mich ganz schön erschreckt, weißt du das?“, dabei ging ich in die Knie und strich ihm zärtlich über den Kopf.
„Was machst du denn hier?“
Genießend schloss er die Augen und schnurrte leise. Dann plötzlich richtete er sich auf, streckte sich nach allen Himmelsrichtungen und kam auf mich zustolziert. Langsam strich er um meine Beine und im ersten Moment wich ich zurück. Dann jedoch musste ich lachen. Diese Art von Berührung hatte ich heute Abend doch schon einmal erlebt.
„Warst du das etwa?“
Als ob er mir antworten wollte, mauzte er leise, wobei es sich eher wie ein dünnes, unbeholfenes Krächzen anhörte.
Ich hatte mich vor einem Kater erschreckt und war dann wie eine Irre nach Hause gelaufen. Sicher, dass ich nicht schizophren wurde?

Leise öffnete ich die Tür und eh ich’s mich versaß, war der Kater ins Haus geschlüpft.
„Nein“, zischte ich und kniete mich in die Haustür. „Komm wieder her. Meine Granny bringt mich um. Sie hasst schwarze Katzen. Komm schon. Draußen ist es auch schön.“
Mit einem leisen mauzten wandte der schwarze Kater mir sein Hinterteil zu und wackelte die Treppe hinauf.
„Mist“, fluchte ich und schlug meinen Kopf leicht gegen den Türrahmen.
„Melissa, bist du das?“ Granny kam aus dem Wohnzimmer und sah mich fragend an. „Was machst du da?“
„Ääääh, ich – dachte, ich hätte die Tür kaputt gemacht.“
Am liebsten hätte ich meinen Kopf gleich noch einmal fester gegen den Türrahmen gerammt. Eine dümmere Ausrede konnte wirklich niemandem einfallen. Die Tür kaputt gemacht... beim Aufschließen. Klar. Wann sonst...
Skeptisch blickte Granny mich an und zog eine Augenbraue nach oben.
„Sieht noch ganz aus.“
Hastig richtete ich mich auf.
„Ja“, murmelte ich nur und quetschte mich an ihr vorbei ins Haus.
„Wie war das Abendessen?“
„Es war...“, begann ich. Ja, wie war es? Ich hatte es mir mit Eleanor verscherzt, hatte herausgefunden, dass dieser mysteriöse Typ ihr Bruder war und ich hatte den wohl größten Schock meines Lebens bekommen. Und das alles innerhalb von ein paar Stunden. Dieser Abend war wirklich alles andere gewesen, als
„...schön.“
Schön war wohl die einzige Antwort, die mich vor Grannys bohrenden Fragen bewahren würde. Hätte ich gesagt, es sei der Wahnsinn gewesen, hätte sie darauf bestanden, dass ich ihr jedes Detail des Abends schildere. Hätte ich gesagt, es sei eine Katastrophe gewesen, was es ja eigentlich auch war, hätte ich ihr ebenfalls alles erzählen müssen.
Doch das Einzige, was ich im Moment wollte, war, mich in mein Bett zu legen, einzuschlafen und am nächsten Tag zu erwachen mit dem Wissen, dass die letzten Stunden nur ein Traum gewesen waren. Ein Alptraum.
Während Granny noch über meine knappe Antwort grübelte und versuchte, sie zu deuten, fiel mir plötzlich dieser verflucht neugierige Kater wieder ein.
„Ich bin müde. Es ist wohl das Beste, wenn ich jetzt ins Bett gehe. Schlaf gut.“ Schnell drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange und rannte die Treppe hinauf.
„Geht es dir auch gut, Melissa?“, hörte ich Granny skeptisch fragen.
„Ja ja, alles bestens. Bin nur müde.“

Lauernd sah ich mich im oberen Stockwerk um. Wo versteckte sich dieses Viech?
„Komm miez, miez, miez, komm“, raunte ich leise, doch dieser Versuch scheiterte kläglich. Auf meinem Bett entdeckte ich ihn schließlich, wie er mich aus seinen gelben Augen mit einer Mischung aus Langeweile und Arroganz anstarrte.
Konnte eine Katze überhaupt so gucken? Ich hatte noch nie auf so etwas geachtet.
Tzzz, hast du wirklich erwartet, dass er auf so eine erbärmliche Anlockmethode anspringen würde? Schlagartig zuckte ich zusammen. Diese Gedanken, die nicht mir gehörten, trieben mich noch in den Wahnsinn.
Langsam schlich ich auf ihn zu, die Hände entwaffnend hochhaltend.
„Du kannst hier nicht bleiben.“
Immer noch sah er mich gelangweilt an.
„Meine Grandma schmeißt dich hochkant raus“, drohte ich nun, doch statt mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er mir seinen Rücken zu und schloss die Augen.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, fassungslos starrte ich dieses dreiste Tier an, dass sich genüsslich auf meinem Bett ausgebreitet hatte.
„Verschwinde! Sofort! Husch!“ Ich gab meine defensive Haltung auf und versuchte ihn mit Mühe und Not von meinem Bett zu drängen.
Doch er gähnte nur unbeeindruckt und bohrte seine Krallen demonstrativ in meine Bettdecke.
Resignierend setzte ich mich neben ihn. Wie konnte so ein zierlich aussehender Kater nur so schwer und dickköpfig sein?
Laut schnaufte ich.
„Gut, du kannst bleiben! Aber wenn meine Grandma dich sieht, kannst du dich auf was gefasst machen und ich werde dich nicht davor bewahren.“
Erschöpft ließ ich mich hinten über auf das Bett kippen und betrachtete meine Arme und Hände.
Sie sahen vollkommen normal aus. Hier und da war eine Ader zu sehen, die bläulich durch meine helle Haut hindurchschien und an manchen Stellen prangten Leberflecken, doch nirgends konnte man auch nur einen kleinen, schwarzen Strich erahnen.
Ratlos ließ ich die Arme sinken und strich zu meinem Hals, wo ich etwas Metallenes fühlte.
Es war das Medaillon, das mir Granny zum Geburtstag geschenkt hatte.
Zärtlich hielt ich es zwischen meinen Fingerspitzen und öffnete es vorsichtig.
Meine Mutter lächelte mir entgegen, mit ihren strahlenden Augen und ihrem wunderschönen Lächeln.
Meine Gefühle stiegen unwillkürlich an die Oberfläche. Die Wellen der Ratlosigkeit, Wut, Trauer und Verzweiflung schlugen über mir zusammen und trieben mir die Tränen in die Augen.
„Was passiert mit mir, Mom?“, schluchzte ich leise. „Was passiert mit mir?“
Ich rollte mich auf die Seite und bettete den Kopf auf meine Decke.
Eine leichte Erschütterung ließ mich für einen Moment stocken.
Mit lautlosen Schritten kam der Kater auf mich zu und schmiegte sich an mich.
Aus seinen gelben Augen sah er mich mitfühlend an - fast so, als würde er mich verstehen.


Schicksalsträume




VII. Kapitel

Schicksalsträume




Ich fiel. Ich fiel unaufhaltsam in die Tiefe unter mir nur das dahinwogende, unendliche Meer mit seinen sich zu mir auftürmenden Wellen.
Immer schneller schien ich zu fallen, immer stärker erschien mir der Geruch nach Salzwasser.
Die Panik zerrte an meinem Körper, an meinen Gedanken.
Du wirst fallen, schrie es in mir. Du wirst fallen in die unendliche Tiefe des Meeres.

Allein der Gedanke ließ mich schaudern. Seit ich denken konnte, mied ich tiefe Gewässer. Sobald das Wasser an meinen Füßen sich kalt anfühlte und ich den Grund unter mir nicht mehr ertasten geschweige denn sehen konnte, ergriff mich diese Angst. Die Angst vor dem, was unter mir schwamm. Die Angst vor dem, was ich nicht sehen konnte.

Der Aufschlag war hart und ließ meinen Körper vor Schmerz beben. Das eiskalte Wasser schlug über mir zusammen und trieb den letzten Atemzug aus meiner Lunge. Immer tiefer schien ich zu fallen, immer mehr entfernte ich mich von der Oberfläche. Meine Hände glitten ziellos umher, meine Augen huschten nervös in ihren Höhlen, darauf wartend, dass aus dem Nichts plötzlich ein Hai oder ähnliches auf mich zugeschossen kam.
Der Druck auf meine Ohren wurde stärker, so stark, dass ich selbst meinen eigenen hämmernden Herzschlag nicht mehr wahrnehmen konnte.
Je tiefer ich fiel, desto dunkler wurde das Wasser um mich herum. Hilfesuchend blickte ich nach oben – oder das, was ich für oben hielt. Schon längst hatte ich mich vollkommen in diesen unendlichen Weiten verloren.
Du wirst es nicht schaffen. Du wirst in dieser kalten Dunkelheit sterben.
Meine Lunge brannte und ich öffnete reflexartig den Mund, doch statt rettender Luft, schoss das dunkle, eiskalte Wasser in meinen Mund und breitete sich in meinem gesamten Körper aus.
Mich verließ die Kraft, meine Hände nach oben gen Oberfläche zu strecken und ich ließ sie hängen, sodass sie orientierungslos in der Dunkelheit schwebten.
Lose Haarsträhnen strichen mir sanft ins Gesicht, doch die Gefühle hatten meinen Körper verlassen. Ich spürte nicht mehr ihr Streicheln auf meiner Haut und auch die Panik ließ allmählich nach.
Ich war wie eine Puppe, die in der Unendlichkeit schwamm, unfähig sich zu rühren.
Du wirst sterben, sprach mein Verstand ein letztes Mal zu mir und ich wusste, dass er Recht hatte.

Ein sanftes Kitzeln an meiner Wange ließ mich aus meinem Traum hochfahren. Verwirrt sah ich mich um. Ich lag auf dem Fußboden, alle Viere von mir gestreckt und blickte direkt in ein gelbes Augenpaar, das mich mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugier musterte.
Leicht hob ich meinen Kopf vom harten Fußboden, doch schon im nächsten Moment überkam mich das seit den letzten Tagen nur allzu bekannte Gefühl des Schwindels und ich ließ ihn sofort wieder sinken. Als ob ich meinen Kopf daran hindern wollte, dass sich in ihm alles drehte, griff ich mir mit meiner Hand an die Stirn und starrte an meine Zimmerdecke.
Nur allmählich verlangsamte sich mein Herzschlag, doch die Anspannung in meinem Körper hielt noch lange an. Ein sanftes Schubsen gegen meine Schulter ließ mich erneut zusammenschrecken und ich wandte den Kopf nach links. Immer noch saß der Kater neben mir auf dem Boden, doch die Neugier schien aus seinem Blick verschwunden zu sein.
Stattdessen erinnerte mich sein Blick vielmehr an einen mahnenden Lehrer, der mich beharrlich dazu aufforderte, aufzustehen.
Leise stöhnte ich und schob mir die Hand über die Augen.
Ich machte einen kläglichen Versuch, mich von der Stelle zu rühren, doch meine Muskeln wehrten sich vehement dagegen, sich zu lockern und so blieb ich verkrampft liegen und wartete darauf, dass sie vor dahinschwindender Kraft bald nachlassen würden.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Erst hörte ich ein leises Poltern und dann das leise, vertraute Quietschen meiner Tür. Kurz darauf sah ich Granny, die im Bademantel neben mir kauerte und mich besorgt musterte.
„Melissa? Schatz? Kannst du mich hören?“, rief sie so laut, dass es mir in den Ohren schmerzte.
Mühsam nickte ich, wofür ich jedoch gleich mit einem erneuten Schwindelgefühl bestraft wurde.
Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie in Grannys Gesicht die Erleichterung kurz aufblitze.
„Komm, ich helfe dir wieder ins Bett.“
Sachte schob sie mir ihre Hände unter die Arme und versuchte mich an sich hochzuziehen.
Ich jammerte leise, als mein Körper gegen seinen Willen seine Funktionen wieder aufnehmen musste. Mehr schlecht als recht gelang es Granny mich auf die Füße zu bugsieren, die unter meiner Last jedoch sofort wieder einzuknicken drohten und ich ließ mich wie ein nasser Sack aufs Bett fallen und blieb regungslos liegen.
Für einen kurzen Moment blieb es still und die Müdigkeit holte mich wieder ein. Nur die kalte Hand, die sich plötzlich auf meine Stirn legte, hielt mich davon ab, in einen weiteren unruhigen Schlaf zu sinken.
„Du glühst schon wieder. Dabei dachte ich, wir hätten es überstanden“, murmelte Granny leise vor sich hin, jedoch laut genug, dass ich es hören konnte.
„Komm wir legen dich erst einmal richtig ins Bett und packen dich warm ein.“
Geschäftig begann sie in meinem Zimmer auf und ab zu laufen, wobei sie mich immer wieder mit einem nachdenklichen Blick bedachte.
„Ich verstehe das einfach nicht. Es ging dir doch besser. Ich weiß nicht, was ich dir noch geben soll. Es hat scheinbar alles nichts genützt.“
Ich hörte ihre Worte, doch ich verstand ihre Bedeutung nicht. Zu sehr steckte mir der letzte Alptraum noch in den Gliedern, ebenso wie die vergangenen Nächte, die mir kaum Schlaf beschert hatten.
Meine Augen huschten, zu Schlitzen verengt, immer wieder von Granny zu meinem Fenster und zurück.
Der Mondschein drang spärlich durch die Löcher des Rollladens und viel auf meine Bettdecke. Wie in Trance folgte ich seinem Licht, bis mein Blick auf einer Stelle neben mir verharrte. Der farbenfrohe Bettbezug biss sich mit meiner finsteren, resignierenden Stimmung, doch etwas an diesem Stück Stoff erregte meine Aufmerksamkeit.
Es waren nicht die bunten Farben oder irgendwelche Stofffalten, sondern es war etwas, was ich bis dahin noch nie in meinem Bett gesehen hatte. Schwarze, kurze Haare.

Der Kater! Wo ist der Kater?! Erstaunlich schnell für meinen Zustand begriff ich, was diese Haare zu bedeuten hatten und ich versuchte so unauffällig wie möglich, nach ihm Ausschau zu halten.
Granny bringt mich um!
Die erneute Welle von Hektik, die mich ergriff, tat meinem Körper nicht sonderlich gut und er verkrampfte sich erneut, so dass ich aufgeben musste, nach dem unverschämten Tier zu suchen, doch meine Gedanken kreisten weiterhin darum.
Er hatte vermutlich die ganze Nacht an dieser Stelle gelegen. Wo war er nur?
Mit einem leisen Seufzen erlangte Granny wieder meine Aufmerksamkeit.
„Ich werde etwas Wasser holen. Ich kann nicht einfach tatenlos...“
Ich nickte leicht, vermutlich so leicht, dass sie es überhaupt nicht wahrnehmen konnte.
Sie verließ das Zimmer und ließ mich allein.
Zum ersten Mal seit ich aufgewacht war, hatte ich die Gelegenheit, mir über meinen Zustand bewusst zu werden. Mein Körper schmerzte unter jeder Bewegung und war sie noch so klein. Haarsträhnen klebten mir auf der Stirn und mein Kopf schien zu brennen.
Mein Mund war trocken und ich hatte Durst, doch der bloße Gedanke an Wasser ließ mich innerlich zusammenzucken.

Plötzlich wurde das Licht angeschaltet und ich stöhnte leise auf.
Wie Säure schien sich die Helligkeit durch meine Augenlider hindurch in meine Netzhaut zu brennen und ich schlug die Arme über dem Gesicht zusammen.
„Mach es aus!“, flehte ich mit zittriger Stimme, während meine Augen begannen zu tränen.
Sofort erlosch das Licht wieder, doch der Schmerz in meinen Augen verebbte nur langsam.
Für einen kurzen Moment herrschte Stille und so sehr ich mich auch bemühte, ich hörte kein Atmen, Rascheln oder Sonstiges, was darauf hingewiesen hätte, dass Granny im Raum war.
Kurz darauf hörte ich das leise Schlurfen von Grannys Flitzpantoffeln und einen Augenblick später meinte ich einen schwachen Lichtschein durch meine geschlossenen Augen wahrzunehmen, dicht gefolgt von einem dumpfen Geräusch direkt neben mir.
Zaghaft öffnete ich die Augen. In einem Umkreis von höchstens einem Meter war mein Zimmer sanft erhellt und aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Lichtquelle direkt neben mir stand. Schwerfällig drehte ich den Kopf in ihre Richtung und sah direkt in die helle Flamme einer Kerze, die in einem alten, messingfarbenen Kerzenhalter befestigt war und auf meinem Nachttisch stand.
Geblendet wandte ich den Blick wieder ab und sah zu Granny hinüber, die sich neben mich auf die Bettkante setzte, eine mit Wasser gefüllte Schüssel auf ihrem Schoß haltend.
Als Granny den Lappen in ihren Händen in die Schüssel tauchte und daraufhin das Wasser begann unruhig die Schüssel hinaufzuklettern, drehte sich mir der Magen um.
„Alles wird gut, mein Schatz“, flüsterte mir Granny ins Ohr und legte mir den nassen Lappen auf die Stirn.
Für einen kurzen Augenblick fühlte es sich gut an, so, als würde das Feuer in meinem Kopf gelöscht werden, doch bereits im nächsten Moment schien die Nässe eine nur noch mehr ansteigende Hitze in meinem Körper zu hinterlassen.
„Scht“, versuchte mich Granny zu beruhigen, als sie meinen panischen Blick sah.
„Versuch zu schlafen. Wenn du aufwachst, wird es dir sicher besser gehen.“
Leise begann Granny ein Lied zu summen. Ich kannte es, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, woher es mir bekannt vorkam.
Während ich versuchte ihr zu lauschen, übermannte mich die Müdigkeit. Mein Kopf schaltete ab und ich ließ mit schweren Augenlidern meinen Blick durch mein Zimmer schweifen. Über das durch einen Rollladen verdunkelte Fenster, über Granny, die auf meiner Bettkante saß und während sie summte abwesend den nassen Lappen in ihren Händen auswrang, bis kein Tropfen mehr aus ihm herausquoll.
Müde drehte ich meinen Kopf zur Seite und sah direkt auf die brennende Kerze, die auf meinem Nachtisch stand und leicht flackerte, als mein Atem sie traf.
Nur kurz schien die Flamme erlöschen zu wollen, ehe sie sich wieder aufrichtete und mir der einschläfernde Kerzenduft in die Nase stieg.

Es stank abscheulich. Das Holz unter meinen Füßen knisterte und brach. Die rauen Stricke, die um meine Handgelenke gebunden waren, schnitten unter meinen verzweifelten Befreiungsversuchen nur noch tiefer in mein Fleisch. Meterhohe Flammen taten sich um mich herum auf und tanzten ihren vernichtenden Tanz. Die Hitze, die mich vollkommen umschloss, war unerträglich und selbst die Luft, die ich einatmete schien zu brennen. Ich kam mir vor wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen.
„Helft mir, bitte! Helft mir.“
Die Hilfeschreie hallten immer und immer wieder laut in meinem Kopf, doch nach außen waren sie nur ein kraftloses Flüstern, das vom Tosen der Flammen verschluckt wurde. Ich spürte wie die Flammen an meinem Körper leckten, mir meine kurzen Armhärchen aus der Haut schmorten.
Ich wollte schreien, ich wollte aus lauter Verzweiflung weinen, doch die Hitze trocknete jede Träne noch ehe sie meine Wange hinunterlaufen konnte. Meine Augen brannten durch die beißende Luft so sehr, sodass ich sie schließen musste, und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer.
Der Schweiß klebte an meiner Haut, durchtränkte das graue Leinenkleid, das ich trug und lief mir in Strömen übers Gesicht bis alles Wasser aus meinem Körper gesogen worden war.
„Es ist so heiß“, flüsterte ich mit meinen kaum geöffneten, aufgeplatzten Lippen.
„So unerträglich heiß.“


* * *




„Sir, geht es Ihnen gut?“, drang die beharrliche Stimme einer Stewardess gefolgt von einem zaghaften Klopfen gegen die Toilettentür an Cassius Ohren.
„Ja, mir...“, noch ehe er den Satz beenden konnte, wurde ihm erneut schwindelig und er stützte sich mühsam in der kleinen Kabine ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Ich muss hier raus“, zischte er leise durch die zusammengebissenen Zähne, „raus aus diesem verdammten Flugzeug!“
Mit aller Kraft krallte er sich am Waschbecken fest und sah gehetzt in den Spiegel.
Der Schweiß ließ seine Stirn glänzen und seine Haare hingen ihm wirr im Gesicht.
Seine Haut war kreidebleich und seine Augen waren von dunklen Schatten umrahmt.
Meine Augen, schoss es Cassius durch den Kopf.
Mein Gott, sie sind schon blau. Ich muss hier raus!

„Sir, bitte öffnen Sie die Tür!“, hörte er nun eine kräftige Männerstimme und auch das Klopfen wurde fordernder.
„Sir,...“, setzte der Steward von Neuem an, als Cassius plötzlich die Kabinentür aufriss und aus der Toilette taumelte.
„Sir, kann ich...“, eine Stewardess hielt ihn am Arm fest, doch Cassius schüttelte sie unwirsch ab wie eine lästige Fliege und machte sich auf den Weg zu seinem Platz.
Nach wenigen Schritten blieb er stehen und wandte sich dem verdutzten Flugpersonal zu.
„Wie lang brauchen wir noch bis Detroit?“
„Etwa zwei Stunden, Sir“, antworte die Stewardess ihm schnell und warf ihm besorgte Blicke zu.
„Zwei Stunden...“, murmelte Cassius benommen und drehte dem Personal wieder den Rücken zu, „...das halte ich nicht aus!“
Schweren Herzens zwängte er sich wieder auf seinen Sitzplatz. Das leise Klicken des Sicherheitsgurtes hinterließ eine Gänsehaut auf seinem Körper. Hastig zog er die Jalousie des kleinen Flugzeugfensters hinunter und lehnte seinen Kopf erschöpft daran.
Er wollte die verbleibende Zeit schlafen, doch seine Seele ließ dies nicht zu.
Das leise Rauschen der Motorengeräusche und schon das kaum spürbare Ruckeln unter seinen Füßen, ließ Cassius nicht zur Ruhe kommen.
„Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen.“, raunte ihm jemand ins Ohr, doch Cassius versuchte diesen jemand zu ignorieren.
„Das liegt an unseren Genen, glaube ich.“
Schockiert riss Cassius die Augen auf und starrte seinen Sitznachbarn an.
Seit beinahe zehn Stunden saß dieser Mann, in seinem schwarzen Anzug mit einem Stapel an Zeitschriften auf seinem Schoss, neben ihm. Konnte es tatsächlich sein, dass er Seinesgleichen nicht erkannt hatte? Er – Cassius – der beste Aufspührer seines Jahrgangs?
Wissend erwiderte der Mann Cassius Blick.
Cassius runzelte verwundert die Stirn und rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.
Er macht den Eindruck, als ob er genau wüsste, was in mir vorgeht. Er muss einer von uns sein!, versicherte Cassius sich selbst immer wieder.
Unverhohlen starrte er den Mann weiter an und begann ihn eindringlich zu mustern. Doch noch ehe er sich Klarheit über die Person, die seit Stunden neben ihm saß, verschaffen konnte, wurde der Mann von einer Stewardess abgelenkt und unterbrach den Blickkontakt.
„Möchten Sie etwas trinken?“
Verdammt! Leise seufzend ließ sich Cassius zurück in seinen Sitz fallen und schloss die Augen.
Es wäre auch zu leicht gewesen, so über ihn mehr in Erfahrung zu bringen.
Es gibt allerdings noch einen anderen Weg, aus diesem Typen schlau zu werden, dachte sich Cassius.
Dafür müsstest du dich konzentrieren können. Das ist in deinem Zustand fast unmöglich, erinnerte ihn seine Vernunft.
Trotzdem! Ein Versuch ist es Wert. Seine Neugier musste gestillt werden.
Fest kniff er seine Augen zusammen und presste sich in den Sitz. Nach und nach blendete er die Geräusche um ihn herum aus, was ihm schwerer fiel, als erwartet. Das leise Rattern der Triebwerke hallte wie in Stereo in seinem Kopf wieder. Dann jedoch, nach wenigen verstrichenen Sekunden, herrschte vollkommene Stille und undurchsichtige Schwärze in seinem Kopf.

Vor seinem geistigen Auge erschienen die zwei Nebelschwaden, die eine weiß leuchtend, die andere nur blassgrün schimmernd.
Doch es waren nicht diese Nebel, die Cassius interessierten, sondern vielmehr, die, die er um sich herum wahrnahm.
Wo er auch hinsah, leuchteten weiße Schwaden in der Dunkelheit auf. Erst nahm er sie nur verschwommen war, dann jedoch gewannen sie langsam an Form.
Doch alle waren sie gleich. Alle leuchteten sie in einem trüben weiß.
Sie sind alle nur ganz gewöhnliche Menschen, dachte Cassius hochmütig und die Anspannung in seinem Körper ließ allmählich nach.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der Nebelschwade zu, die den seinen am Nächsten zu sein schien.
Sie musste seinem aufdringlichen Sitznachbarn gehören und sie war - weiß.
Eine Welle der Erleichterung schlug über Cassius zusammen. Er hatte nicht den gesamten Flug über neben einem Gabenträger gesessen und ihn nicht erkannt. Er hatte sich die vergangenen Stunden neben einem Menschen aufgehalten, einem gewöhnlichen, jederzeit ersetzbaren Menschen.
Er weiß nichts über dich, schoss es Cassius in den Kopf und er lächelte zufrieden.
Langsam öffnete er die Augen wieder und erschrak schlagartig. Sein Nachbar hatte sich weit zu ihm vorgebeugt und beobachtete ihn neugierig.
„Schlafen Sie?“
Kaum hörbar knurrte Cassius genervt.
„Jetzt haben Sie für die nächste Stunde ihre Gelegenheit verpasst, etwas zu trinken zu bekommen. Die süße Stewardess wollte sie gerade eben nicht wecken.“ Er lehnte sich leicht auf die andere Seite und sah mit einem schleimigen Grinsen den Gang entlang.
Cassius rollte gereizt mit den Augen. Konnte dieser Mann ihn nicht einfach in Frieden lassen?
Der Mann wandte sich wieder seinem Nachbarn zu, offensichtlich, weil die Stewardess aus seinem Blickfeld verschwunden war.
„Ich habe ihnen einen Scotch bestellt. Glauben Sie mir, das wirkt wahre Wunder. Den Tipp habe ich von meiner Frau.“ Mit diesen Worten drückte er Cassius einen Becher in die Hand.
Fragend betrachtete Cassius abwechselnd das leuchtende Gesicht des Mannes und den Plastikbecher in seiner Hand, der mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.
„Wohl bekomm’ s“, prostete ihm sein Sitznachbar zu und ließ den Inhalt seines Bechers in seinen Rachen laufen.
„Ah!“, seufzte er zufrieden und lächelte Cassius an. Als er jedoch bemerkte, dass dieser nicht einmal an seinem Drink genippt hatte, zog er die linke Augenbraue hoch.
„Na los, machen sie schon, sonst werden sie die nie los!“
Langsam machte sich in Cassius das Gefühl breit, veralbert zu werden.
„Was werde ich sonst nie los? Wovon reden Sie bitte?“, erwiderte er leicht gereizt, wobei er sichtlich darum bemüht war, freundlich zu bleiben.
„Na ihre Flugangst!“
„Meine – Flugangst?“, verdattert sah Cassius ihn an. Der Mann brach in schallendes Gelächter aus und schlug sich mehrfach auf den wuchtigen Oberschenkel.
„Trinken Sie, Mann oder geben Sie ihn mir!“
Wortlos stellte Cassius seinen Becher auf das kleine Tischchen des Mannes.
„Danke, aber ich trinke keinen Alkohol! Es ist besser, wenn ich die Kontrolle über mich behalte.“ Auch für Sie, fügte er in Gedanken hinzu und richtete seinen Blick stur auf den kleinen Bildschirm, der im Sitz seines Vordermannes eingelassen war.
Dies lies sich der Mann nicht zweimal sagen und schon im nächsten Augenblick war eine erneute Ladung Scotch auf dem Weg in seinen Magen.


* * *




„Melissa, wach auf.“, hörte ich Grannys flehende Stimme und ich spürte ein unsanftes Rütteln an meinen Schulter.
„Tun sie doch was!“, schien sie sich an jemand anderen zu richten.
Langsam hob ich meine schweren Augenlider , doch ich konnte kaum etwas sehen. Alles schien verschwommen und farblos.
„Oh Gott“, kreischte Granny dicht an meinem Ohr, wobei sich ihre Finger in meine Schulter bohrten, so dass es schmerzte.
„Was ist mit ihren Augen? Oh mein Gott! Was ist das?“
Ich meinte, schwere Schritte zu hören, die sich mir näherten, doch mit Sicherheit konnte ich es nicht sagen.
Erst der Alptraum und nun dieser Tumult. All diese Aufregung schien mir nicht zu bekommen. Ich schloss die Augen wieder und versuchte zumindest innerlich etwas zur Ruhe zu kommen.
Ich spürte eine andere Hand auf meiner Stirn, sie war um einiges kräftiger als die Hände meiner Großmutter.
Hatte ich mich also doch nicht getäuscht! Es war eine zweite Person im Raum!
Ich öffnete die Augen einen dünnen Spalt breit und war überrascht, dass das Bild, welches sich mir bot, nun sowohl klare Konturen, als auch Farben aufwies.
„Ich weiß nicht, was sie meinen, ihre Augen scheinen völlig normal zu sein. Nur ein etwas gehetzter Ausdruck liegt in ihnen, aber das liegt am Fieber.“
Wie zur Bestätigung wurde mir ein kalter Finger auf den oberen Teil meines Augenlids gelegt und dieses sanft nach oben geschoben.
„Sehen Sie.“
Kaum hatte sich mein Blickfeld – mit Gewalt – vergrößert, gelang es mir auch die Person zu identifizieren, die meinte, meine Augen untersuchen zu müssen.
Es war Dr. Jeremy Thompson, ein leidenschaftlicher Arzt und guter Bekannter meiner Großmutter.
„Aber“, hörte ich Granny neben mir nach Luft schnappen, „das kann nicht sein. Da...“, sie hob ihre Hände und gestikulierte wild herum, „da waren Schlitze, dunkle, schwarze.“
Dr. Thompsons skeptischer Blick wanderte zwischen mir und Granny hin und her.
„Das kann ich mir doch nicht eingebildet haben!“, warf Granny wieder ein und stemmte die Hände in die Hüften.
Beruhigend legte Dr. Thompson ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte sie freundlich an.
„Es war eine lange Nacht. Für sie beide. Vermutlich hat ihnen die Müdigkeit einen Streich gespielt. Sie sollten sich hinlegen. Ich kümmere mich schon um Melissa.“
„Das kommt gar nicht in Frage!“, platzte es empört aus Granny heraus. „Ich bin doch nicht senil!“
Resignierend zuckte der Arzt die Schulter und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder.
„Melissa, kannst du mir sagen, was dir weh tut?“
Alles, schrie es in meinem Kopf, jede kleinste Stelle meines Körpers schmerzt und scheint, zu brennen.
„Mein Kopf“, brachte ich mühsam hervor, wobei ich langsam meine Hand auf meine Stirn legte. „Meine – Beine. Meine – Arme. Alles.“
Dr. Thompson runzelte die Stirn und betrachtete mich schweigend für einige Sekunden.
„Du hast sehr hohes Fieber.“, erklärte er mir schließlich und beugte sich zu seiner Tasche hinunter und kramte darin.
„Deine Großmutter hat mir erzählt, dass es dir vor einigen Tagen schon nicht gut ging?“
„Aber – es ging mir wieder besser“, krächzte ich mit kraftloser Stimme.
Dr. Thompson nickte und zog ein braunes, kleines Fläschchen aus seiner Tasche.
„Es ist für eine Grippe nicht ungewöhnlich, dass sie kurz nach dem augenscheinlichen Auskurieren erneut ausbricht“, versuchte er mich mit sanfter Stimme zu beruhigen, die jedoch übertönt wurde durch die Stimme in meinem Kopf.
„Es ist keine Grippe! Hör nicht auf ihn! Es ist keine Grippe!“, schrie diese unaufhörlich, wobei sie jedes Wort lautstark betonte.
„Hör auf!“, stöhnte ich und presste mir mit letzter Kraft die Hände auf die Ohren.
„Bitte, hör auf!“, flehte ich und wand mich im Bett hin und her. Und tatsächlich erstarb die Stimme.
„Melissa!“, Dr. Thompson beugte sich zu mir vor und löste vorsichtig, aber bestimmt meine Hände.
„Sie wird wahnsinnig.“, hörte ich Granny leise schluchzen, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte.
„Sie ist nur übermüdet. Sie sollte schlafen.“, versuchte er Granny und mich gleichermaßen zu beruhigen. Doch die Tatsache, wieder einschlafen zu müssen, machte mir Angst. Ich wollte nicht schlafen, nicht wieder diese Träume haben, in denen ich starb.
„Zuerst solltest du aber das hier nehmen. Es wird dein Fieber senken.“
Ich konnte sehen, wie er einige Tropfen klarer Flüssigkeit aus der braunen Flasche auf einen Löffel träufelte und sich dann zu mir umwandte.
„Danach wird es dir schnell besser gehen.“
Als ich das kalte Metall des Löffels auf meinen trockenen Lippen spürte, warf ich Dr. Thompson einen kritischen Blick zu. Wie konnte er sich sicher sein, dass es mir diesmal helfen würde?
Aufmunternd sah er mich an und nickte. „Vertrau mir. Es wirkt.“
Ergeben schloss ich die Augen und öffnete zaghaft meinen Mund, um die Flüssigkeit in meinen Körper hineinzulassen.
„Nimm es nicht! Du darfst es nicht schlucken!“, schrie mich die Stimme in meinem Kopf erneut an. „Es wird alles nur noch Schlimmer machen!“
Doch ich ignorierte sie. Sie war ein Hirngespinst. Nichts, was man ernst nehmen konnte.

Plötzlich hörte ich ein lautes Fauchen und spürte, wie etwas Schweres, Lebendes über mein Bett jagte. Kurz darauf hörte ich Dr. Thompson laut aufschreien, dicht gefolgt von einem lauten, gläsernen Scheppern.
Ebenfalls erschrocken riss ich die Augen auf und verschluckte mich am Löffel, der in meinen Hals rutschte und ich würgte.
„Was macht dieses Vieh hier!“, hörte ich Granny aufgebracht kreischen. „Hau ab!“
Ein lautes und bedrohliches Keifen war die Antwort des schwarzen Katers, bevor er mir einen letzten Blick zuwandte und dann wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer raste, dicht gefolgt von Granny, die dem Tier die übelsten Verwünschungen hinterher schrie.
Dr. Thompson eilte mir zu Hilfe und nahm mir den Löffel aus dem Mund, bevor ich vollends in Panik geraten war.
„Was war das?“, flüsterte ich mit rauer Stimme und sah in Dr. Thompsons erschrockenes Gesicht.
„Eine tollwütige Katze, wie es scheint. Hast du die Medizin heruntergeschluckt?“
Ich schmeckte etwas Bitteres in meinem Mund und nickte.
„Gut“, seufzte Dr. Thompson erleichtert. „Dieses Vieh hat mir nämlich die Flasche runtergeworfen.“
Er kniete sich neben dem Bett nieder und begann, auf dem Boden herumzukriechen.
Neugierig wandte ich meinen Kopf zur Seite und betrachtete die Stelle, vor der er kniete.
Die klare Flüssigkeit schwappte zwischen kleinen, braunen Glasscherben umher und ein widerlicher Gestank nach Medizin erfüllte den Raum.
„Dieses Tier wird sich hier nie wieder blicken lassen!“, keuchte Granny in der Tür und hielt sich mit der einen Hand die Seite, in der anderen hielt sie einen abgenutzten Besen.
„Es ist nichts ernsthaftes passiert.“, beruhigte Dr. Thompson sie. „Er hat nur geringen Schaden angerichtet.“
„Gut“, schwer atmend kam Granny auf mich zu und musterte mich. „Wo kam dieses Vieh überhaupt her?“
Leicht zuckte ich die Achseln und schloss die Augen, da ich sicher war, dass mein Blick mich verraten würde.
„Stellen Sie ihre Nachforschungen über dieses Tier erst einmal ein. Melissa sollte ein wenig Ruhe finden, sonst bewirkt selbst die beste Medizin nichts.“
Granny seufzte theatralisch und strich mir liebevoll über die Stirn.
„Sie glüht immer noch. So wird sie sicher nicht schlafen können“, stellte sie besorgt fest.
„Hm“, hörte ich Dr. Thompson nachdenklich murmeln. „Für gewöhnlich widerstrebt es mir, aber Melissa scheint den Schlaf wirklich sehr nötig zu haben.“
Argwöhnisch öffnete ich die Augen und sah, wie Dr. Thompson sich wieder über seine Tasche gebeugt hatte und nach etwas suchte.
Mein Blick wanderte zu Granny, die ihm ebenfalls einen skeptischen Blick zuwarf. Als sie jedoch den meine spürte, sah sie mich an und lächelte mir aufheiternd zu.
„Das wird schon wieder.“
Glaubte sie wirklich, dass ich ihr ihren gespielten Optimismus abnahm?
„So. Eine jetzt und eine für den Fall, dass du auch in den nächsten Tagen nicht schlafen können solltest. Aber wirklich nur dann.“, mahnte Dr. Thompson und drückte Granny etwas Kleines in die Hand.
„Keine Sorge“, versuchte er mich zu besänftigen, „sie schmecken nach gar nichts und bescheren dir einen traumlosen, erholsamen Schlaf. Genau das, was du jetzt brauchst.“
Leicht nickte ich und richtete mich etwas auf, als Granny mir eine rundliche, weiße Tablette zwischen die Lippen steckte.
Diese Tablette sollte mich schlafen lassen, mich von diesen furchtbaren Alpträumen befreien? Konnte es tatsächlich so einfach sein?
Ich schluckte sie und hoffte inständig, dass sie ihre Aufgabe erfüllen würde.

Und tatsächlich ließ ihre Wirkung nicht lange auf sich warten. Es fühlte sich an, wie ein Hammer, der auf meinen Kopf herunterfuhr und meinen Verstand ausschaltete. Die Geräusche um mich herum wurden undeutlich und die Stimmen nur noch ein schwer zu identifizierendes Murmeln. Meine Augenlider fühlten sich an, als ob Gewichte an ihnen befestigt wären und jeder Muskel meines Körpers verweigerte mir den Gehorsam.
„Wichtig ist vor allem frische Luft“, meinte ich, Dr. Thompson murmeln zu hören.
„Sorgen Sie dafür, dass sie davon nicht zu wenig bekommt.“

Eine sanfte Brise wehte durch mein Haar, umschmeichelte mein Gesicht und ließ meine Kleider leicht flattern. Genießend schloss ich die Augen, atmete tief die frische Luft ein und breitete meine Arme aus, wie ein Vogel, der beim nächsten Windhauch sich von der Erde abstoßen und hinauf in den Himmel fliegen wollte.
Und der nächste Luftzug kam. Allerdings war es kein sanftes Hauchen, dass mir entgegenwehte, sondern eine peitschende, eiskalte Sturmböe.
Erschrocken riss ich die Augen auf, als mir die schneidende Kälte ins Gesicht wehte und ein schmerzhaftes Brennen auf der Haut hinterließ. Der Wind zog an meinem dünnen Kleid, riss an meinen Haaren und raubte mir mit seiner enormen Wucht den Atem.
Ich spürte, wie er immer stärker wurde. Meine Füße gaben unter diesem Druck nach, rutschen erst leicht, doch mit jeder neuen Böe wich die Kraft aus meinen Beinen bis ich mich nicht mehr halten konnte und zu Boden fiel.
Panisch sah ich mich um, auf der Suche nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte, doch das Einzige was ich sah, war Sand. Überall Sand.
Verzweifelt versuchte ich meine Hände in den Boden zu graben, wie ein Hund, doch der Wind wehte den Sand einfach fort. Immer weiter grub ich meine Händen tiefer, während mir die Tränen in Strömen über das Gesicht liefen und immer mehr Sand trug der Wind mit sich davon.
Was soll ich nur tun? Was soll ich tun?
Ich wusste keine Antwort darauf.
Der Sand war fortgeweht worden, nicht ein einziges Korn konnte ich noch sehen. Um mich herum war nichts außer dem Himmel und dem tosenden Wind, der immer noch an mir zerrte.
Leise schluchzte ich und faltete die Hände zu einem Gebet.
„Bitte, Gott, lass mich nicht sterben. Lass mich nicht sterben.“

Doch er erhörte mich nicht. Die nächste Böe kam und riss mich mit sich. Verzweifelt schlug ich um mich, doch es half nichts. Sie trug mich in die Lüfte, ließ mich fallen, nur um mich dann wieder aufzufangen.
Ich war dankbar, als mein Körper, überfordert von diesen Wellen der Panik und Angst, kapitulierte und mich in die Ohnmacht entlies.
Zuerst spürte ich mich selbst nicht mehr, dann verschwand auch das Zerren des Windes aus meinem Kopf.
Erst als mein Körper hart auf etwas aufschlug, begann ich aus meiner Ohnmacht zu erwachen.
Was war passiert? War es der Wind leid mit mir zu spielen, wie mit einer Marionette?
Zaghaft tasteten meine geschundenen Hände forschend umher. Ich fühlte etwas Weiches, leicht Feuchtes um mich herum. Vorsichtig öffnete ich die Augen und drehte den Kopf langsam, um mich besser orientieren zu können. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, jeden Moment erwartete ich, dass sich irgendetwas auf mich stürzen und mir erneut furchtbare Qualen bereiten würde. Doch nichts dergleichen geschah. Es wehte ein dünnes, friedliches Lüftchen und munterer Vogelgesang drang an meine Ohren. Tief sog ich den Duft ein, der mich umgab. Es roch nach Leben, nach irgendetwas Frischem und dieser Geruch beruhigte mich.
Das Bild, das sich mir bot, als meine Augen sich an meine im Dämmerlicht liegende Umgebung gewöhnt hatten, war unbeschreiblich schön. Ich lag auf kühlem Waldboden, der mit einem Teppich aus grünlich schimmerndem Moos bedeckt war und sog tief den Duft um mich herum ein. Ich spürte, wie ich mit dem Geruch auch einen Teil des Lebens in diesem Wald in mich einatmete. Alle meine Wunden, meine Leiden, alles schien gelindert zu werden durch meine bloße Anwesenheit an diesem Ort. Vergessen waren die unheilvollen Träume, vergangen war die Unruhe meiner Gedanken. Hier wollte ich bleiben. Hier fühlte sich meine Seele seit Langem wieder gesund und geborgen.


* * *




Endlich wieder festen Boden unter den Füßen, dachte sich Cassius und ging mit seinem Pass in der Hand auf einen der Flughafenschalter zu, in dem ein junger Afroamerikaner seiner Arbeit nachging. Lässig übergab Cassius ihm seinen Pass und lächelte den jungen Mann freundlich an.
„Willkommen in den Vereinigten Staaten von Amerika, Mr. Porter. Ist ihr Aufenthalt privater oder geschäftlicher Natur?“, fragte der Mann mit monotoner Stimme, wobei sein Blick auf den Pass geheftet war.
Cassius spürte, wie er erbleichte. Auf diese Frage hatte er sich nicht vorbereitet und er ohrfeigte sich in Gedanken für diese Nachlässigkeit. In seinem Kopf arbeitete es und er suchte verzweifelt nach einer Antwort.
Fragend hob der junge Mann den Blick und betrachtete den Reisenden kritisch.
„Sir, hat ihre Reise einen geschäftlichen oder privaten Hintergrund?“ Die Monotonie in seiner Stimme war einer gewissen Skepsis gewichen.
„Geschäftlich.“, platzte es aus Cassius heraus und er atmete erleichtert aus, dennoch sehr darum bemüht, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
Der junge Mann legte den Pass beiseite und lehnte sich herausfordernd in seinem Schalter vor, da er die Unruhe seines Gegenübers zu spüren schien.
„Welchem Geschäft gehen sie denn nach, Mr. Porter?“
Cassius spürte wie kalter Schweiß an seinem Rücken hinunterlief.
Du darfst jetzt nicht auffliegen, mahnte er sich, sonst war alles umsonst!
„Ich bin Talentscout.“, brachte er mit ruhiger Stimme hervor und erwiderte stur den Blick des Angestellten. „Ich bin auf der Suche nach Menschen mit besonderer Begabung.“
Der junge Afroamerikaner kniff die Augen zusammen und taxierte seinen Gegenüber mit Blicken. Cassius spürte deutlich, wie der Angestellte mit sich haderte.
„Sind Sie nervös?“, fragte er Cassius und betrachtete ihn weiter unverhohlen.
„Ich leide unter Flugangst und bin über zehn Stunden geflogen. Ich bin noch nicht allzu lange wieder auf festem Boden“, gab Cassius zurück und dankte in Gedanken seinem Sitznachbarn, für dessen Diagnose.
„Keine besonders gute Angewohnheit für einen Talentscout, oder?“ Der junge Mann runzelte die Stirn und blätterte in Cassius Pass auf der Suche nach einem Indiz, das John Porter als Lügner entlarvte.
„Besonders viel sind sie ja noch nicht geflogen. Nur ein Innlandsflug in Italien.“
Cassius nickte. „Ich habe erst vor einiger Zeit gelernt, meine Flugangst zu kontrollieren.“
Nachdenklich spielt der junge Mann mit dem Pass in seinen Händen und presste die Lippen aufeinander. Dann schob er Cassius seinen Pass über den Schalter.
„In Ordnung. Ich wünsche ihnen einen erfolgreichen Aufenthalt, Sir.“
Cassius nickte erleichtert. „Auf Widersehen.“

So normal wie es ihm bei seiner Anspannung möglich war, ging Cassius durch die weite Flughafenhalle und wagte nicht, sich umzudrehen. Immer noch meinte er, bohrende Blicke in seinem Rücken zu spüren.
Erst als er aus dem Sichtfeld des Mannes verschwunden sein musste, wagte er, seine Schritte zu verlangsamen und seine Umgebung genauer zu erkunden. Um ihn herum hasteten die Menschen kreuz und quer mit ihrem Gepäck durch die Gänge, vorbei an kleinen Geschäften und Cafes. An einem der Geschäfte blieb er stehen.
„Willkommen in Michigan“ stand in großen, leuchtenden Buchstaben über der Eingangstür. Ein Blick hinein verriet Cassius, dass er hier genau das finden würde, was ihm noch fehlte, um den Gabenträger aufspüren zu können. Eine Landkarte.
Zielsicher steuerte er auf ein Regal mit Karten zu und verließ bereits nach wenigen Minuten zufrieden das Geschäft wieder mit einer Karte von Michigan in der Hand.
Wohin jetzt?, dachte er sich und blickte sich um auf der Suche nach einem Ort, wo er ungestört sein würde.
Du hast keine Zeit, dir darüber Gedanken zu machen, mahnte ihn sein Verstand. Hast du schon vergessen, dass es eilt?
Schweren Herzens ging Cassius auf eine Reihe von Sitzen zu, von denen schon einige von wartenden Passagieren besetzt waren. Langsam ließ er sich auf einem der freien Sitze nieder und lauschte. Er hörte das leise Klicken eines Laptops, dessen Besitzer gerade mit den Händen über die Tastatur flog, er hörte eine Frau die einige Meter entfernt an einer Telefonzelle in den Hörer sprach und er hörte das langgezogene Quietschen eines Stuhls, auf dem ein kleiner Junge gelangweilt hin und her wippte.
Nichts, was ich nicht ausblenden könnte, dachte sich Cassius.
Andächtig entfaltete er die Karte, legte sie sich auf die Knie und schloss die Augen, während sein Finger begann, am linken Teil der Karte langsam entlang zu fahren.
Konzentrier dich, mahnte ihn seine innere Stimme. Komm zur Ruhe.
Nach und nach verloren die Geräusche um ihn herum ihren Klang bis völlige Stille herrschte.
Vor sein geistiges Auge trat Schwärze, die nur gelegentlich von weißen, hellen Lichtern durchdrungen wurde. Langsam bewegte Cassius seinen Finger nach rechts. Die Lichter zogen an ihm vorbei und an ihre Stelle traten neue.
„Mama, guck mal. Was macht der Mann da?“, hörte er die piepsige Stimme eines kleinen Mädchens in seiner Nähe, die seine Gedanken unterbrach.
„Lass den Mann in Ruhe, Schatz“, hörte er eine Frau beiläufig murmeln.
„Aber,...“, protestiere das Kind und starrte Cassius an.
Gereizt öffnete Cassius die Augen. Man hatte wirklich nirgendwo seine Ruhe.
Schüchtern versteckte sich ein kleines Mädchen zum Teil hinter ihrer Mutter und schielte verstohlen zu dem Fremden hinüber, während die Mutter in eine Zeitschrift vertieft war.
Aufgeregt rutschte das Mädchen auf ihrem Sitzplatz hin und her.
„Emily, halt still!“, mahnte ihre Mutter sie ohne den Blick von der Zeitschrift abzuwenden.
Genau! Halt still! Kauf dir ein Malbuch und kritzel darin herum, aber hör auf mich anzustarren, dachte sich Cassius und musterte das Mädchen feindselig. Ich kann mich so nicht konzentrieren!
Wieder schloss Cassius die Augen, doch diesmal nicht, um sich auf die Suche nach dem Gabenträger zu begeben. Er wartete.
Wie er vermutet hatte, wurde es dem Mädchen nach einiger Zeit zu langweilig und ihre Neugierde wuchs unaufhörlich. Und so dachte es nicht daran, sich ruhig zu verhalten. Stattdessen stand sie auf und ging ein paar Schritte auf Cassius zu. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, riss Cassius plötzlich die Augen auf und starrte sie mit eisblauen Augen vernichtend an. Erschrocken schrie das Mädchen auf und rannte weinend zu ihrer Mutter zurück. Kaum war ihm dieser Streich gelungen, schloss er seine Augen wieder und tat, als sei nichts geschehen. Er hatte kein Bedürfnis, sich auch noch mit einer Mutter anzulegen.
Er konnte den Blick der Frau auf sich spüren, doch er blieb regungslos sitzen und wartete, bis sich die Aufregung gelegt hatte. Das Mädchen würde ihn nun nicht länger stören.

Selbstzufrieden rutschte er in seinem Sitz tiefer und fuhr mit seinem Zeigefinger wieder langsam über die kleine Straßenkarte.
Zeigt mir eure Seelen, flüsterte Cassius leise in sich hinein. Lasst mich sehen, was ihr seid.
Sogleich breitete sich in seinem Kopf erneut die Dunkelheit aus und hier und da sah er ein weißes Licht aufleuchten. Dann plötzlich tat sich vor ihm ein weißes Lichtermeer auf, dass unendlich zu sein schien. Es muss eine Stadt sein, dachte sich Cassius und versuchte innerhalb dieses Meeres andersfarbene Lichter zu erspähen, doch er fand keines und so glitt sein Finger weiter über die Karte.
Er wusste nicht, wie lange er in dieser Position verharrt hatte, als er plötzlich ein grünes Licht in der Dunkelheit aufleuchten sah.
Na endlich!, dachte er sich und öffnete die Augen. Die Stelle auf die sein Finger zeigte, ließ ihn zusammenzucken.
„Glenn..“, las Cassius angewidert den Namen der kleinen Stadt im Westen Michigans. „Da hälst du dich also versteckt.“ Doch es war nicht der Name der Stadt, der in ihm solchen Ekel hervorrief, vielmehr war es ihre Lage.
Nicht weit von der Stelle entfernt auf die sein Finger zeigte, lag das Ufer des Lake Michigans.
Erst Fliegen und dann das! Womit habe ich das nur verdient, stöhnte Cassius innerlich und richtete sich auf.
Der Meister wird es mir sicher hoch anrechnen und sich irgendwann dafür revanchieren, versuchte er sich selbst aufzumuntern. Doch damit belog er sich nur selbst und das wusste er.


* * *




Während mein Inneres sich nach nichts mehr sehnte, als an diesem Ort zu bleiben, erholte sich mein Körper von den vergangenen Tagen und gewann zunehmend an Kraft. Unfähig, meinen Körper daran zu hindern, wachte ich auf.
Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, doch ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es Tag war.
„Hey du Schlafmütze“, hörte ich das leise Flüstern einer vertrauten Stimme. Noch ehe ich ihn mit meinen Augen erspäht hatte, rückte Alex einen Stuhl an mein Bett und musterte mich besorgt.
„Hi“, gab ich leise zurück, wobei mir ein flüchtiges Lächeln über die Lippen huschte.
„Wie geht’s dir?“
„Gut“, murmelte ich und war verwundert, dass es mir tatsächlich sehr viel besser zu gehen schien. „Wieso flüstern wir eigentlich?“
„Keine Ahnung.“, lachte Alex laut auf und kratze sich verlegen am Hinterkopf. Plötzlich drehte er sich um und griff nach etwas hinter sich.
„Ich hab was für dich.“ Hinter seinem Rücken zog er ein rechteckiges Päckchen hervor und hielt es mir mit erwartungsvollem Blick hin.
„Ich wollte es dir eigentlich schon an deinem Geburtstag geben, aber ich habe es leider zeitlich nicht eher geschafft.“
Aufgeregt setzte ich mich in meinem Bett auf und nahm das Geschenk entgegen. Langsam öffnete ich das bunte Geschenkpapier und legte etwas schwarz glänzendes frei, das aussah wie ein Buch.
„Es ist ein Fotoalbum“, erklärte mir Alex schnell. „Siehst du.“
Er schlug die erste Seite auf und mein Blick fiel auf zwei Kleinkinder, einen Jungen und ein Mädchen, die freudestrahlend in die Kamera lächelten. Dieses Bild zeigte Alex und mich und ich war mir sicher, dass es kurz nachdem ich zu Granny gezogen war, aufgenommen worden war.
Plötzlich erinnerte ich mich wieder, wie ich ihm vor einigen Jahren erzählt hatte, wie sehr ich darunter litt, so wenige Bilder von meinen Eltern zu besitzen und dass ich Angst hätte, sie eines Tages zu vergessen. Damals hatte Alex mich in den Arm genommen und mir versprochen, dass er mir eines Tages etwas schenken würde, das mich an ihn erinnern sollte.
Sein Versprechen war mit der Zeit in Vergessenheit geraten, doch er hatte es sich behalten und es gehalten.
„Danke, Alex“, flüsterte ich mit tonloser Stimme.
Andächtig durchblätterte ich das Album und jedes der Bilder entlockte mir ein Lächeln.
Die Bilder zeigten uns beide in jeder nur denkbaren Lebenssituation. Unseren ersten Schultag, unsere Geburtstage, Familienfeste.
„Weiter hinten ist auch Eleanor mit drauf.“
„Eleanor“, dachte ich und meine gute Laune verflog. Ich schloss das Album und lehnte meinen Kopf gegen die Wand.
„Sie ist sauer auf mich.“
Alex nickte. „Ich weiß. Sie hat es mir gestern erzählt. Nimm es dir nicht so sehr zu Herzen. Du weißt doch, wie sie ist.“
„Hm“, brachte ich nur zu Stande.
„Sie und ihre Familie machen sich Sorgen um dich. Glaub mir, die Sorge überwiegt kleinen Streitereien“, versuchte mich Alex zu beruhigen.
„Hast du ihr erzählt, dass ich krank bin?“
Alex schüttelte den Kopf. „Ich schätze, deine Großmutter wird sie angerufen haben.“
Plötzlich sprang Alex auf und klatschte in die Hände.
„Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang? Deine Grandma meinte, frische Luft täte dir gut. Meinst du, du schaffst das?“
Erschrocken und verwirrt sah ich ihn an, schob aber dennoch meine Beine aus dem Bett und setzte sie auf den kalten Fußboden auf.
„Ich denke schon.“
Verwundert stellte ich fest, dass mein Körper mir wieder voll und ganz gehorchte, fast so, als wäre es nie anders gewesen. Langsam richtete ich mich auf und ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Zugegeben, ich schwankte noch leicht, aber ich konnte mich auf den Beinen halten.
„Das ist verrückt“, flüsterte ich mehr zu mir selbst.
„Was?“
„Als ich das letzte Mal aufgewacht bin, konnte ich mich kaum rühren. Dr. Thompson war bei mir und hat mir irgendein Zeug eingeflößt. Und jetzt ist alles wieder wie immer.“
„Na ist doch prima. Wird auch Zeit, dass du wieder in die Schule kommst. Mrs. Peterson vermisst dich schon.“, witzelte Alex und warf mir einen Schal entgegen. „Damit du nicht sofort wieder krank wirst.“
Lächelnd fing ich ihn auf, legte ihn mir um und suchte im Kleiderschrank nach der wärmsten Kleidung, die ich besaß. Ich freut mich auf einen Spaziergang mit meinem besten Freund und hatte nicht vor, nach wenigen Schritten wieder umkehren zu müssen, weil ich fror.
„Wohin wollen wir denn gehen? An den Strand?“, fragte Alex und sah mich dabei wissend an.
Strand – Wind – Meer, schloss mein Kopf schlagartig aus diesem einen Wort und ich zuckte beim Gedanken an Wind und Wasser merklich zusammen.
Heftig schüttelte ich den Kopf und zog den Schal enger um meinen Hals.
Um nichts in der Welt würde ich freiwillig je wieder in die Nähe von Meeren oder windigen Gebieten kommen.
Sichtlich erstaunt über meine Reaktion, sah Alex mich fragend an.
„Du mochtest den Strand doch immer so gerne, den weißen Sand und den Geruch vom Wasser.“
Seine Schilderungen ließen in meinem Kopf das Bild eines Strandes entstehen, doch es war nicht der Strand aus meiner Erinnerung. Er war nicht geschmückt mit feinem Sand und auch das Wasser umspülte nicht sanft die wenigen Felsen, die aus dem Boden ragten.
Nein, in meiner Fantasie tanzte die Gischt auf den tosenden Wellen und der Sand war übersät mit schwarzen, spitzen Steinen und Glasscherben, die sich jedem in die Fußsohlen trieben, der es wagte diesen Strand zu betreten.
„Bitte, ich möchte dort nicht hin. Nie wieder“, wisperte ich leise und sah Alex verzweifelt an.
Dieser schüttelte verständnislos den Kopf und seufzte leise, bevor er mir fürsorglich einen Arm um die Schulter legte und mich zu sich heranzog.
„Wohin sollen wir denn dann gehen?“
Ein Bild aus meinem letzten Traum kam mir in Erinnerung. Es zeigte mich, wie ich zusammengerollt auf weichem Moosboden lag und den herben Geruch einatmete.
„In den Wald“, antwortete ich daher entschieden und insgeheim fügte ich in Gedanken hinzu: Denn nur dort fühle ich mich wirklich sicher.


Lauernde Vergänglichkeit




VIII. Kapitel

Lauernde Vergänglichkeit




Anmutig schritt Cassius die von Feldern umgebene Straße entlang, die direkt nach Glenn führte. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, doch innerlich war er angespannt und ekelte sich vor dem Gedanken, mehrere Stunden an diesem Ort verbringen zu müssen.
Seit er in South Haven, der nächstgrößeren Stadt aus dem Bus ausgestiegen war, indem er seit Detroit zusammen mit einer Horde von Rentnern gefahren war, hasste er diese Gegend und je näher er Glenn kam, desto mehr wuchs dieses Gefühl.
Er konnte das Meer riechen, es sogar an einigen Stellen sehen, die salzige Luft hing in seinem Haar, seiner Kleidung und begleitete ihn, wohin er auch ging. So flach wie möglich versuchte er zu atmen, während seine Hände nervös über seine Kleidung wischten, in der Hoffnung, sie von diesem penetranten Gestank reinigen zu können.
Ich hasse es, wütete Cassius innerlich und er musste sich zusammenreißen, seinen Frust nicht in die Welt hinauszuschreien.
Eine Möwe flog über seinen Kopf hinweg und kreiste über ihm. Cassius blieb stehen und betrachtete sie. Ihr weißes, stellenweise gräuliches Gefieder bewegte sich leicht im Wind und es schien, als ob sie auf diesem gleiten würde. Als ob sie schwerelos wäre.
Der Wind und das Meer, angewidert verzog Cassius den Mund und wandte den Blick wieder der Straße zu. Er hasste diese Möwen. Er hasste allgemein Tiere, denen es ermöglicht wurde, ohne jegliche Qual in zwei Umgebungen, wie der des Wassers und der Luft, leben zu können.
Als hätte der Wind Cassius Gedanken mit sich in die Höhe getragen, als hätte die Möwe sie vernommen, kreischte diese leise auf und es klang für Cassius, wie beißender Spott.
Verärgert hob er den Blick und seine kalten, grauen Augen begegneten den Schwarzen, nur Stecknadelgroßen des fliegenden Federviehs. Für einen kurzen Moment blitzen sie auf, ehe sie wieder ausdruckslos auf ihn herunter starrten.
„Verschwinde“, zischte Cassius durch seine zusammengebissenen Zähne und ballte die Hände zu Fäusten. Doch die Möwe zeigte sich unbeeindruckt und ging dazu über, in weiten Kreisen über Cassius Kopf zu schweben und ihn mit seinen Schreien zu ärgern.
„Du sollst verschwinden!“, schrie Cassius nun und griff nach einem kleinen, unförmigen Stein. Weit holte er aus und schleuderte diesen mit aller Kraft in die Richtung des Tieres. Doch er verfehlte es, was ihm ein nur noch hämischer wirkendes Kreischen von Seiten der Möwe einbrachte.
Gereizt schloss Cassius die Augen.
Du bist deinem Ziel so nahe. Deiner Erfüllung des Auftrages steht nichts mehr im Wege. Und was tust du? Du lässt dich von einem so minderwertigen Tier aufhalten!
„Nein“, flüsterte Cassius entschlossen und riss die Augen auf. Sie strahlten wieder in einem unheilverkündenden eisblau.
Weiterhin zog die Möwe ihre Kreise und lachte über diesen Menschen, der dort am Boden stand und zu ihr aufsah. Sie wollte erneut ihren Schnabel öffnen, einen spöttischen Laut in die Welt entsenden, als plötzlich dieser Mensch am Boden etwas vollkommen unmenschliches tat.
Cassius riss seinen Mund weit auf und ein langgezogenes, inbrünstiges Brüllen drang aus seiner Kehle, wie das einer Raubkatze.
Erschrocken schrie die Möwe auf und flog davon.
Ein zufriedenes Lächeln huschte über Cassius Gesicht. Dieses Tier würde so schnell niemanden mehr von oben herab ankreischen.
Statt es jedoch bei diesem animalischen Gebrüll zu belassen, begann Cassius sich nach und nach in einen Tiger zu verwandeln und kaum war seine Verwandlung abgeschlossen, spannte er seine Muskeln an und jagte in langen Sätzen die Straße entlang.
„Glenn – 10 miles“ teilte ihm nach wenigen Minuten ein Straßenschild mit.
Wenn er in diesem Tempo weiterrannte, würde er bald die ersten Dächer dieser Kleinstadt zu sehen bekommen.
Und unter einem dieser Dächer lebte er, der Unwürdige.
Der Gedanke an ihn ließ Cassius noch schneller rennen, sein Blut noch lauter rauschen. Heute war es so weit. Heute würde er ihn töten.

Plötzlich hörte er hinter sich das leise Surren eines Motors und wandte sich um, doch weit und breit war kein Auto oder Motorrad zu sehen.
Hektisch suchte Cassius seine Umgebung nach einem Ort ab, an dem er sich vorübergehend verstecken konnte, doch um ihn herum waren nur Felder, Felder deren Früchte noch nicht hoch genug gewachsen waren, um ihn gänzlich verbergen zu können.
Innerhalb weniger Sekunden verwandelte er sich daher wieder in ein menschliches Wesen und schlenderte die Straße entlang.
Wie erwartet, hörte er hinter sich das näherkommende Geräusch eines Wagens und kurz darauf ein lautes Hupen.
Ein blauer Transporter hielt neben ihm und der Fahrer kurbelte das Wagenfenster herunter.
„Wagenprobleme?“
Verwundert sah Cassius den älteren Mann in seinem roten Holzfällerhemd an, der ihn so einfach mitten auf der Straße ansprach.
„Ja, liegengeblieben auf der 196ten.“, reagierte er dann jedoch und setze einen besorgten Blick auf.
Der Fahrer nickte wissend, lehnte sich vor und öffnete die Beifahrertür.
„Steigen Sie ein, im nächsten Ort gibt es sicher eine Tankstelle, von der aus sie den Pannendienst anrufen können.“
Wenn du das Angebot abschlägst, wird er sicher Verdacht schöpfen, dachte sich Cassius und so ließ er sich dankbar lächelnd auf den Beifahrersitz fallen.
„Woher wussten Sie das mit der Autopanne?“
Der Fahrer lachte.
„Sie kommen nicht aus Amerika, oder?“
Cassius zeigte keine Regung. Innerlich jedoch ärgerte er sich darüber, dass dieser Mann mit dieser Vermutung ins Schwarze getroffen hatte, schließlich sprach er ein ausgezeichnetes Englisch.
„Wie kommen sie darauf“, gab Cassius daher zurück, bemüht, seine Frage in keiner Weise zu beantworten.
„Die Menschen hier sieht man nur zu Fuß gehen, wenn ihr Auto eine Panne hat.“, erklärte ihm der Fahrer lachend und steckte sich eine Zigarette an.
Cassius lehnte sich zurück und sah aus dem milchigen Wagenfenster, durch das der Blick etwas getrübt wurde.
„Glenn – 9 miles“ stand auf einem weißen Schild, einige Meter entfernt.
„Und was treibt sie in diese gottverlassene Gegend? Also bei mir ist es der Job. Ich bin Trucker, wissen sie. Das wollte ich schon immer werden. Mein Vater war Trucker, und dessen Vater und ...“
Cassius verdrehte die Augen.
Super!, wäre er doch lieber in seiner tierischen Gestalt weitergelaufen, dann wäre ihm jetzt dieser geschwätzige Mann vom Hals geblieben und sicher wäre er schneller gewesen.
„Kommen Sie aus Europa? Ich war schon mal in Europa. Ein schönes Land.“
Am liebsten hätte Cassius das Wagenfenster heruntergekurbelt und sich hinausgestürzt. Doch er wollte so wenig auffallen wie möglich, und durch einen Sprung aus einem fahrenden Auto würde er wohl eher das Gegenteil bewirken.
„Sie können mich in der Ortsmitte rauslassen“, unterbrach Cassius das Selbstgespräch des Fahrers, wobei seine Stimme wohl etwas zu harsch geklungen hatte. Argwöhnisch warf der Fahrer einen Seitenblick auf seinen merkwürdigen Fahrgast, zuckte dann jedoch die Achseln und wandte seinen Blick wieder auf die Straße.
„Wieso?“, schoss es dann jedoch vor Neugier aus ihm heraus.
Sollte ich das Bedürfnis verspüren, sie an meinen Privatangelegenheiten teilhaben zu lassen, wie sie mich an ihren, lasse ich sie das wissen, dachte sich Cassius, sprach es aber nicht laut aus.
„Eine Freundin da?“, hakte der Fahrer nach und schielte zu ihm herüber.
„Hören Sie, Sie sollen mich einfach dort absetzen!“, platze es gereizt aus Cassius heraus und er starrte den Fahrer finster an.
„Schon gut, schon gut“, grummelte dieser und verstummte.
Nicht einmal ein Wort des Abschieds kam ihm mehr über die Lippen, als sie Glenn erreicht hatten. Er war nur froh, diesen unfreundlichen, jungen Mann loszuwerden. Er war ihm auf irgendeine Weise unheimlich.

Erleichtert stöhnte Cassius auf, als der Transporter seine Fahrt fortsetzte. Ohne ihn.
Langsam drehte er sich um die eigene Achse und betrachtete eingehend seine Umgebung. Zahlreiche kleine Häuser mit mickrigen Vorgärten und ein Geschäft, das aussah, als hätte es seine guten Tage bereits seit Jahren hinter sich.
Was für eine Einöde, dachte sich Cassius. Da ist mir selbst das Kloster lieber mit seinen versteckten Winkeln.
Auf der Suche nach einer Ecke, in der er unbeobachtet sein würde, stieß er auf die dunkle Einfahrt des Geschäftes und ging herüber.
Kaum war er mit der Dunkelheit zu einem einzigen Schatten verschmolzen, lehnte er sich gegen die Wand, an der schon der Putz in großen Stücken herabbröckelte, doch es kümmerte ihn nicht. Er war seinem Ziel so nahe und durfte keine Zeit mehr verlieren.
Zu seiner Freude war weit und breit kein Geräusch zu hören, was ihn bei seiner Gedankensuche hätte unterbrechen können und so schloss er die Augen.
Wo bist du? Zeig mir, wo du dich versteckst, sprach Cassius in Gedanken immer wieder.
Die Schwärze vor seinem geistigen Auge wurde vom vereinzelten Aufleuchten weißer, hell leuchtender Lichter durchbrochen und schon nach wenigen Sekunden war die Dichte der Lichter so hoch, dass sie die Dunkelheit vollkommen aus Cassius Gedanken verbannt hatten.

Suchend glitt sein Blick über das Lichtermeer, bis er plötzlich ein grünaufleuchtendes Licht erblickte.
„Da bist du ja“, flüsterte Cassius, wobei er leise vor Erregung knurrte.
Kaum hatte er den Gabenträger ausfindig gemacht, riss er die Augen auf und löste sich aus dem Schatten der dunklen Einfahrt. Darum bemüht, nicht ins Rennen zu verfallen, ging er die Hauptstraße entlang, wobei er gelegentlich die Augen schloss, um sich zu vergewissern, dass er die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
Zu seinem Glück begegnete ihm niemand.
Aber das ist ja auch kein Wunder, schnaubte Cassius innerlich. Wer will schon an einem Ort leben, an dem dieser Geruch in der Luft liegt. Die Tatsache, dass dieser Unwürdige es hier aushält, lässt aber darauf schließen, dass sich seine Gabe noch nicht voll entwickelt hat.
Cassius lächelte schadenfroh. Dann stoße ich ja gar nicht auf Gegenwehr. Wie langweilig.

In Gedanken malte er sich bereits aus, auf welche Weise er den Unwürdigen in tausend Stücke zerfetzen würde, während er seinem Ziel immer näher kam.

Wenige Meter vor einem weißen, zweistöckigen Haus mit schwarzem Satteldach blieb er stehen.
Hier war er richtig. Ein Blick in seine Gedanken bestätigte seine Vermutung. Vor ihm leuchteten fünf weiße und ein grüner Lichtball auf, an genau der Stelle, an der das Haus stand.
Gerade als Cassius den Beschluss gefasst hatte, über die Garage ins Haus zu schleichen, wurde die Tür von innen geöffnet und ein junger Mann und eine etwas kränklich aussehende junge Frau traten aus dem Haus. Wie angewurzelt verharrte Cassius auf dem Bürgersteig und beobachtete die beiden argwöhnisch.
Der Mann legte dem Mädchen einen Arm um die Schulter und schlug mit ihr den Weg ein, auf dem Cassius ihnen entgegenkam.
Angespannt hielt Cassius die Luft an und tat so, als würde er sich eine Zigarette anstecken wollen. Tatsächlich aber wartete er, bis sie nahe genug an ihn herangekommen waren.

Kaum waren er und das Pärchen auf selber Höhe, verkrampften sich seine Muskeln, sein Herz raste und er schloss unauffällig die Augen. Und da sah er es: ein grünes, leuchtendes Licht, das direkt an ihm vorbei zu schweben schien.
Erleichtert atmete er aus. Er hatte ihn gefunden, den Unwürdigen.
Ich darf ihn nicht verlieren, schoss es ihm durch den Kopf und er riss die Augen auf. Das Pärchen war weitergegangen, doch immer noch in Sichtweite.
„Kennst du den?“, hörte er den jungen Mann sagen, der ihm kurz darauf einen argwöhnischen Blick über die Schulter zu warf.
„Nein“, antwortete die junge Frau lachend und klopfte ihrem Begleiter auf die Schulter. „Sei nicht immer so neugierig, Alex.“
Alex. Alexander, arbeitete es in Cassius Kopf. Wie heißt du weiter? Hastig lief er zum Haus herüber, aus dem die beiden gekommen waren und sah auf das Klingelschild, denn noch mal wollte er es nicht mit einer mächtigen Familie seiner Welt zu tun bekommen.
„Griffin.“, las er laut und Stolz erfüllte ihn, dass er der Erfüllung seines Auftrages nun schon so nahe war. Er kannte keine hochangesehene Familie in seiner Welt, die diesen Namen trug. Er war der, den er suchte!
„Alexander Griffin. Du wirst schon noch herausfinden, wer ich bin.“, flüsterte er leise und schlich dem Pärchen leise nach.
Als beide auf einen Waldweg einbogen, konnte Cassius nicht umhin, leise aufzulachen.
Du willst es mir wohl noch leichter machen, als es für mich sowieso schon ist. Mit einem schadenfrohen Grinsen verschwand Cassius im immer dichterwerdenden Geäst des Waldes.
Kurz darauf schlich ein weißer Tiger auf Samtpfoten seiner Beute nach.


* * *




„Können wir uns kurz setzen“, hörte er das Mädchen nach einiger Zeit, in der er immer näher an das Paar herangekommen war.
Ja, setzt euch, trieb Cassius sie in Gedanken an und bohrte seine Krallen in den feuchten Waldboden.
Der junge Mann lächelte und deutete auf einen umgestürzten Baumstamm.
„Na klar, setzen wir uns.“
Ein Gefühl des Triumphs stieg in Cassius auf. Jetzt hab ich dich!

Langsam ließ er sich hinter einem wild wuchernden Strauch nieder und spähte durch die kleinen Lücken des Geästs zu den beiden herüber.
Aufmerksam beobachtete er sie, erfasste jede Gesichtsregung und lauschte jedem Gesprächsfetzen. Doch er merkte schnell, dass es sich hierbei eher um ein langweiliges Geplänkel handelte und so wartete er, er wartete auf den einen richtigen Augenblick.

Komm schon, dachte Cassius bei sich, während er Alex aufmerksam musterte.
Mir ist nicht nach Fangen spielen. Ich will nicht, dass du mich kommen siehst. Dreh mir den Rücken zu. Na los.
Vor Ungeduld klopfte sein Tigerschwanz mehrfach gegen den Boden.
„Was ist das?“, hörte er das Mädchen plötzlich sagen, das sich suchend umblickte.
„Was denn?“ Verwirrt folgte Alex ihrem Blick, wusste jedoch nicht, wonach er Ausschau halten sollte.
„Ich weiß nicht, eine Art Beben. Irgendwo dort hinten“, gab sie nachdenklich zurück und sah in Cassius Richtung.
Cassius wagte kaum zu atmen, als das Mädchen sich vom Baumstamm erhob und mit zögernden Schritten auf ihn zukam.
Sofort blieb der mit schwarzen Streifen übersäte Schwanz schwer auf dem Waldboden liegen und bis auf das leise Knacken der Äste, welche unter den Schritten des Mädchens brachen, blieb es still.
Nun gut, wenn du unbedingt die erste sein willst, dachte sich Cassius und grub seine Krallen in den moosbewachsenen Untergrund. So tief wie möglich drückte er sich auf den Boden, jeden einzelnen Muskel seines Körper angespannt, bereit zum Sprung.
„War bestimmt nur ein Kaninchen“, hörte er Alex hinter ihr herrufen.
Kaninchen, Cassius schnaubte verächtlich. Du wirst gleich sehen, wie dieses Kaninchen seine Krallen in den schwächlichen Körper deiner Freundin rammen und sie in tausend Stücke zerfetzen wird.
Zu seiner Erleichterung, wie er sich eingestehen musste, warf das Mädchen jedoch nur noch einen letzten skeptischen Blick in seine Richtung und zuckte dann resignierend mit den Schultern.
„Vermutlich hast du recht.“
„Ich habe doch immer recht“, protzte der junge Mann und stemmte hocherhobenen Hauptes die Hände in die Seiten.
Kichernd boxte das Mädchen ihm gegen die Schulter, woraufhin er das Gleichgewicht verlor und nach hinten überkippte.
Laut lachend blieb er auf dem feuchten Moos liegen und blickte zu ihr auf.
„Na warte“, schrie er plötzlich aus, was Cassius noch mehr erschreckte, als das Mädchen, was sich einfach lachend neben ihn auf den Waldboden legte.
Ein bedrohliches Knurren drang aus Cassius Brust, welches jedoch vom frohen Gelächter der beiden übertönt wurde.
Die Warterei hat ein Ende, dachte sich Cassius. Das ist meine Chance.


* * *




Nach und nach verstummte unser Lachen und so langen wir einfach nur da und genossen das Hier und Jetzt. Tief sog ich den Duft des Waldes ein, während ich auf dem weichen Moos lag. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals den Wald so wahrgenommen zu haben in all seiner Schönheit, mit den vielen Vogelarten, die die Luft mit ihrem fröhlichen Trällern erfüllten, jedes auf seine Weise einzigartig oder die jahrzehnte alten Bäume, deren Kronen so dicht waren, dass die Sonne sie kaum zu durchdringen vermochte.
Schweigend genoss ich das Leben um mich herum und schloss die Augen.
„Was hast du?“, fragte ich Alex, immer noch mit geschlossenen Augen, als ich spürte, wie er unruhig neben mir hin und her rutschte.
„Äh, nichts.“, erwiderte er schnell, revidierte seine Antwort jedoch bereits im nächsten Augenblick.
„Ähm, Melissa?“
Ich zwang mich widerwillig dazu, ein Auge aufzuschlagen, als ich die Nervosität aus seiner eben noch fröhlichen Stimme heraushörte.
„Hm?“, murmelte ich.
„Ich – wollte dir noch was erzählen.“
Mein Blick fiel auf seine Hände, die er auf seine Brust gelegt hatte und hektisch ineinander verknotete.
„Was ist los?“, neugierig sah ich ihn nun aus beiden Augen besorgt an.
Für einen kurzen Moment verlor sich Alex Blick in der Ferne, während er seine Hände so fest ineinander verknotete, dass ich ernstlich befürchtete, er würde sich die Finger brechen.
Dann, plötzlich, hob er den Blick und ich konnte etwas sehen, was ich bei ihm noch nie erlebt hatte. Sein Gesicht war rot angelaufen und zu allem Überfluss begann der sonst so vorlaute Alex zu stammeln.
„Ich“, wieder verklärte sich sein Blick.
„Du?“, half ich nun ungeduldig nach, denn ich witterte eine große Story.
„Ich – hab mich verliebt. Und zwar so richtig.“
Während Alex weiterhin, scheinbar peinlich berührt, den Kopf zur Seite drehte und unruhig auf eine Erwiderung meinerseits hoffte, war ich nur zu einer einzigen Reaktion fähig.
Meine Kinnlade klappte herunter und ich starrte entsetzt vor mich hin.
Mein Alex, mein bester Freund, verliebt? Natürlich war das nicht das erste Mal, dass Alex ein Mädchen toll fand, aber von verliebt-sein hatte er nie ein Wort gesagt. Immer war es nur eine harmlose Schwärmerei gewesen.
Während mein Kopf rebellierte und das eben gebeichtete nicht begreifen konnte, schrie mein Herz vor Eifersucht. Welches Mädchen schaffte es, dass Alex sich dermaßen in es verliebte?
Ich musste mir eingestehen, dass ich dieses Mädchen schon jetzt abgrundtief hasste. Schon viel zu oft hatten mich die Menschen in meinem Leben verlassen, die ich über alle Maßen geliebt hatte. Würde es mit Alex nun genauso sein? Würde dieses Mädchen ihn mir weg nehmen? Würde sie mich meines besten Freundes berauben?
„Sag doch was“, nuschelte Alex und sah mich erwartungsvoll mit seinen strahlenden Augen an.
„Hm“, brachte ich nur zustande.
Innerlich verpasste ich mir für diese nichtssagende Erwiderung eine schallende Ohrfeige.
Er ist dein bester Freund. Warum gönnst du ihm sein Glück nicht?, predigte mein schlechtes Gewissen.
Mühsam schluckte ich den dicken Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, hinunter und bemühte mich, ein Lächeln aufzusetzen.
„Woher kennst du sie denn und wie heißt sie?“
Ich konnte Erleichterung in Alex Blick sehen und er richtete sich, auf seine Ellenbogen gestützt auf..
„Ich habe sie durch meinen Dad kennengelernt. Sie ist die Tochter eines Arbeitskollegen von ihm.“, seine Stimme überschlug sich beinahe und er redete so schnell, dass ich einen Moment brauchte, bis ich die Worte allesamt meinte, erfasst zu haben.
„Ihr Name ist Vanessa.“
Irrte ich mich oder wurde seine Gesichtsfarbe um eine weitere Nuance dunkler?
„Alex, ich....“, stotterte ich.
„Es ist nicht so, dass ich mich nicht für dich freue oder es dir nicht gönne, es ist nur...“, verzweifelt rang ich nach Worten, doch Alex lächelte mich nur an.
„Ich kenne dich schon so lange Mel. Es hätte mich gewundert, wenn du mir vor Freude um den Hals gefallen wärst. Das wärst einfach nicht du gewesen.“
Gedankenverloren lächelte ich und starrte auf die leicht wippenden Baumkronen.
„Ich verlasse dich nie“, hörte ich Alex mit tonloser Stimme sagen, doch ich wagte nicht ihn anzusehen. Zu vertraut war mir das Gefühl von Tränen, die mir auf die Augen drückten und ein trockener Hals und so erwiderte ich nichts.
Plötzlich hatte ich wieder das Gefühl, der Boden unter mir würde erzittern.
„Alex, da ist es schon wieder.“, flüsterte ich und suchte mit meiner Hand nach seiner. Die Situation wurde zunehmend unheimlicher. Ich spürte ein Erdbeben direkt unter mir, doch wenn ich mich umsah, war alles ruhig. Nur das Gestrüpp am Boden wog leicht hin und her, doch das war nicht die Ursache einer bevorstehenden Naturkatastrophe, sondern lediglich der Wind, der sich durch das Labyrinth von Baumstämmen schlängelte.
Doch noch bevor ich erleichtert ausatmen konnte, sah ich, wie etwas auf mich zu stürzte. Nein. Nicht auf mich, sondern auf Alex.
Ich hörte, wie er erschrocken aufschrie und um sich trat. Als mein Blick zu ihm herüberschnellte, spürte ich, wie ich für einen kurzen Moment gegen ein aufkommendes Schwindelgefühl kämpfte, das mich zu übermannen drohte.
Ich sah Alex, wie er auf dem Boden lag, begraben von einem riesigwirkenden Tier, dass tollwütig seinen Kopf hin und her warf und mit seinen Pranken auf Alex einschlug. Hilfesuchend fuhr mein Blick herum und traf auf einen dicken Ast, der nicht weit neben mir entfernt auf dem Boden lag. Die Rettung, dachte ich, robbte zu ihm herüber und griff nach ihm.
Ohne den Blick von diesem Tiger zu nehmen, richtete ich mich auf und mit einer Kraft, die ich niemals erwartet hätte, dass ich im Stande wäre sie aufzubringen, ließ ich den Ast auf das Tier heruntersausen. Es gab einen dumpfen Laut, als er auf dem Kopf aufschlug, doch das Tier schien es überhaupt nicht wahrzunehmen und bohrte immer weiter seine Krallen in Alex geschundenen Körper.
„Hilf mir! Mel, hilf mir!“, hörte ich seine markerschütternden Schreie und ich sah das Blut, wie es auf den Waldboden tropfte und sich dort mit Moos und Erde vermischte. Das Entsetzen hatte mich gepackt, ich konnte mich nicht mehr rühren.
Ich sah Alex Finger, wie sie sich in das Fell des Tieres krallten und daran zogen, ich hörte ihn, wie er stoßweise die Luft ausatmete und ich sah dieses Tier, wie es mit jedem Hieb und jedem Biss Alex die Kraft entzog, die er zum Leben brauchte.
Und dann wurde es still im Wald. Kein Stöhnen, kein Schreien, kein Knurren und auch kein Vogelgesang. Die Welt schien verstummt zu sein.
Die Raubkatze lag halb auf Alex mit blutenden Fleischwunden geschundenen Körper, nur ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig und verriet mir, dass sie lebte.
Nur langsam wurde mir bewusst, was als nächstes folgen musste. Allmählich löste sich mein Körper aus seiner Erstarrung. Ich ging, so leise und vorsichtig, wie ich es konnte, einen Schritt rückwärts. Das Tier beachtete mich nicht, lag dort als ob es schlafen würde.
Doch es schlief nicht. Ich wusste es. Ich konnte es fühlen.
Und als ob es meine Vermutung bekräftigen wollte, öffnete es seine Augen und starrte mich an.
Wie gebannt blickte ich in diese Augen, die so kalt und geheimnisvoll waren und mir doch alles verrieten, was ich wissen musste. Dieses Tier wollte mich umbringen.
Lauf! Lauf um dein Leben!, schrie eine Stimme in meinem Kopf und ich tat es. Schlagartig rannte ich los, obwohl ich wusste, wie aussichtslos es war. Dieses Tier würde schneller sein. Es würde mich einholen, noch ehe ich die ersten Dächer Glenns zwischen dem lichter werdenden Wald erblicken würde. Es würde mich töten, ebenso wie es Alex getötet hatte.
Doch noch ehe ich die Richtung einschlagen konnte, aus der ich mit Alex kurz zuvor gekommen war, blieb ich abrupt stehen.
Ich spürte, wie meine Knie zitterten, wie ich drohte, auf der Stelle zusammenzubrechen, als ich dieses Ungetüm sah, was einige Meter entfernt auf dem Waldweg stand, über den ich vorhatte zu flüchten.
Ein schwarzer Jaguar, der mich mit seinen gelben Augen kurz fixierte und dann an mir vorbei sah. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, ich wagte es auch nicht, denn ich wusste, was hinter mir stand. Ein lautes Knurren hinter mir ertönte und ein leises Wimmern entfuhr mir.
Es ist vorbei, schoss es mir sogleich durch den Kopf. Mit viel Glück hätte ich dieser einen Raubkatze entfliehen können, aber soviel Glück auf der Welt gab es nicht, dass es mir gegen zwei helfen würde.
„Ich will nicht sterben“, flüsterte ich mehr zu mir selbst, während mir eine Träne über die Wange lief. „Bitte“
Jeden Augenblick erwartete ich, dass sie mich zu Boden werfen würden, ihre Krallen mit erbarmungslosen Hieben in meinen Körper treiben würden, bis er es nicht mehr aushalten würde und ich erlöst wäre.
Doch sie taten es nicht.
Wie in Zeitlupe wagte ich mich etwas zur Seite zu drehen und beobachtete den Tiger hinter mir aus den Augenwinkeln.
Lauernd drückte er seinen Körper auf den Boden, während sein Schwanz hin und her schlug.
Er beachtete mich nicht. Viel zu sehr war er damit beschäftigt seinen plötzlich aufgetauchten Rivalen, der ihm offensichtlich nach der Beute trachtete, mit seinen Drohgebärden zu beeindrucken.
Für einen kurzen Moment entspannte sich mein Körper. Diese beiden Raubkatzen schienen mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Viel zu sehr waren sie mit ihren gegenseitigen Anfeindungen beschäftigt.
Vorsicht schob ich meinen rechten Fuß über den Boden, denn ich hatte die Hoffnung, mich vielleicht davonstehlen zu können.
Ich muss nur hier weg, nur einen kleinen Vorsprung, sprach ich mir in Gedanken selbst Mut zu.
Doch plötzlich fauchte der Tiger laut auf und nur einen Bruchteil einer Sekunde später spürte ich, wie mir eine Pranke in die rechte Wade gerammt wurde. Die Wucht des Schlages ließ mich zu Boden fallen, gefolgt von einem aufflammenden Schmerz.
Ich konnte es nicht verhindern, dass mir ein lauter Schmerzensschrei entwich, doch ich hörte ihn kaum. Zu laut war das Fauchen und Brüllen, das aus den Rachen der beiden Tiere hervorkam, als sie aufeinander zustürzten.
Panisch entfernte ich mich, auf dem Rücken kriechend, von diesem schreienden und brüllenden Fellball. Beide Tiere schienen sich ineinander festgebissen zu haben, während sie gegenseitig immer wieder aufs neue mit ihren Pranken aufeinander einschlugen und versuchten, das Genick des Rivalen in die Nähe des eigenen Kiefers zu bekommen.
Lauf! Schrie es in mir. Noch so eine Chance bekommst du nicht!
Mühsam rappelte ich mich auf, wobei mein Bein brannte, als würde jemand es mit heißem Wasser übergießen.
Weiter! Vergiss das Bein, vergiss den Schmerz!
Ohne noch einen weiteren Blick zurückzuwerfen, stürzte ich los.
Ich rannte so schnell mich meine zerschundenen Beine trugen, stolperte über abgebrochene Äste und blieb an dornigen Sträuchern hängen. Doch immer wieder riss ich mich von neuem los und stolperte vorwärts, während mein Blick fortwährend nach hinten schnellte.
Ein lautes Fauchen hinter mir trieb mich an, ließ mich weiterrennen. Immer tiefer in den Wald.
Bei jeder Bewegung, jedem Schritt flammte der Schmerz in meinem Bein auf, bis ich ihn schon nicht mehr wahrnahm. Als wäre mein gesamter Körper taub für alles, was ihm von der Außenwelt zugemutet wurde.
Nur mein Inneres war es nicht. Mit jedem Schritt den ich tat, mit jedem schweren Atemzug, der meine Lunge brennen ließ, dachte ich an diese Tiere, deren Brüllen mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und ich dachte an Alex, wie er dalag, seinen Blick, seine leeren Augen, wie sie halb geschlossen ins Nichts starrten. Alex, mein Herz krampfte sich zusammen und ich stolperte über meine eigenen Füße.
Hastig rappelte ich mich wieder auf, verharrte jedoch schlagartig in dieser gebückten Haltung und ließ meinen Blick über meine Umgebung huschen.

Da war es! Eine schnelle Bewegung, ein kurzer Blick auf ein schwarz-schimmerndes Fell, ein leises Rascheln. Das alles verriet es. Es war direkt hinter mir.
Ich sitze in der Falle! Ich wusste es, ohne mich nach allen Seiten umzusehen, um mich zu vergewissern.
Doch trotz allem, richtete ich mich auf und rannte. Es war hoffnungslos, mein Vorsprung war dahin, das wusste ich, doch ich konnte nicht aufhören, um mein Leben zu kämpfen.
Die Sträucher zerrissen mir die Kleider, schnitten in meine Beine, als ich immer tiefer ins Unterholz hineinrannte.
Nicht stehen bleiben, lauf irgendwohin, aber bleib nicht stehen. Aber wohin? Wohin soll ich laufen? Wo bin ich?, schrie mein Inneres immer wieder und mein Blick huschte hektisch umher. Überall lagen morsche Baumstämme zwischen dichtem Geäst und versperrten mir den Blick auf all das, was dahinter lag. Wohin ich auch sah, alles sah für mich gleich aus. So unüberwindbar und fremd.
Ich hatte mich verlaufen. Ich ließ meinem Verstand nicht die Zeit, länger über die Folgen dieser Tatsache nachzudenken und rannte willkürlich auf eine dieser undurchdringbaren Mauern aus Stämmen, Ästen und Gestrüpp zu. Als ich direkt vor ihnen stand, erschrak ich. Sie waren weit höher als ich es aus der Ferne erwartet hatte. Voller Verzweiflung schossen mir erneut die Tränen in die Augen.
Hör sofort auf, denk nicht einmal daran, aufzugeben! mahnte mich etwas in meinem Kopf, das vermutlich mein Überlebensinstinkt war. Und er hatte recht. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Zweifel. Ich wollte leben. Und wenn ich das wollte, durfte ich nicht aufgeben.

Mit durch Tränen verschleiertem Blick tastete ich blind mit meinen Fingern umher, auf der Suche nach etwas, an dem ich mich festhalten und emporziehen konnte. Zu meiner Erleichterung ergriff ich etwas, dass den Anschein machte, als würde es mein Gewicht tragen können und zog mich mühsam daran hinauf. Mein Blick fiel auf meine Hände. Sie waren zerkratzt, scharlachrot und krallten sich in ein stark verflochtenes Gestrüpp aus Dornen und Brennnesseln. Doch ich spürte nichts.
Als ich mich bereits einige Baumstämme hoch gehangelt hatte, sah ich aus den Augenwinkeln eine schwarze Gestalt unter mir.
Es war der Jaguar, der zu mir heraufblickte und wartete.
Panisch griff ich nach dem Erstbesten, was mir in die Finger kam und bereute es, kaum, dass ich mich mit meinem gesamten Gewicht an diesen Ast hing. Nicht nur, dass meine Arme die Kraft verließ und sie sich nicht länger halten konnten, nein auch der Ast, an dem mein Leben hing, brach mit einem lauten Krachen entzwei, und schallte durch den sonst verstummten Wald.
Wie in Trance versuchte ich das unvermeidbare zu verhindern. Während ich fiel, krallte ich meine Finger hilfesuchend in alles, was ich zufassen bekam. Doch nichts davon wollte mich halten und so schlug ich mit einem dumpfen Geräusch auf dem Waldboden auf.
Jeder Teil meines Körpers schmerzte und versagte, als ich mich aufrappeln wollte und nicht ein einziger Ton kam über meine Lippen. Und so lag ich da, wie auf einem Silbertablett und mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Als ich ihn aus meinen Augenwinkeln sah, wie er langsam auf mich zupirschte, setze mein Herz vor Schreck aus. Aus seinen stechenden, gelben Augen betrachtete er mich, während das Geräusch seines malmenden Kiefers mir einen Schauer über den Rücken laufen ließen.
Angewidert schloss ich die Augen. Es war vorbei und das letzte, was ich spürte, war der stinkende, warme Atem dieser Bestie, der mir ins Gesicht blies.

Morpheus Hände


IX. Kapitel

Morpheus Hände




Die Minuten verrannen und die Dunkelheit brach allmählich über dem Wald herein, doch Cassius wagte kaum, sich zu bewegen. Zu tief saß ihm die plötzliche Begegnung noch in den Knochen.
Zwar war ihm bewusst gewesen, dass es in den Vereinigten Staaten Wildkatzen gab, die die Wälder durchstreiften, doch als dieser Jaguar urplötzlich vor ihm stand und Interesse an Cassius Beute bekundete, war der Überraschungsmoment auf Seiten des Jaguars gewesen.
Mit Leichtigkeit hatte ihn das Tier dazu gebracht, sich von dem Mädchen zu entfernen, doch eine große Schlacht um die menschliche Beute war ausgeblieben. Stattdessen hatte es der Jaguar lediglich bei harmlosen Bissen und Kratzern belassen, um ihn zurückzudrängen.
Cassius hatte es vorgezogen, sich nicht zu wehren. Er hatte den Angriff der Harpyien noch nicht vollends überwunden und im Kampf gegen eine leibhaftige Wildkatze mit ungebrochenem Willen musste selbst er sich eingestehen, dass er machtlos war.
Aus den Augenwinkeln hatte er wahrgenommen, wie das Mädchen sich immer weiter von ihnen entfernt hatte, doch er ließ es geschehen. Sollte sie doch entkommen. Er hatte den Jungen getötet. Der Tod des Mädchens war nicht erforderlich. Er hätte Cassius nur einen weiteren Moment der Genugtuung verschafft, doch den würde er noch in weit größerer Form verspüren, wenn er seinem Meister vom Tod des Unwürdigen berichtete.

Plötzlich ließ der Jaguar von Cassius ab. Er hatte bemerkt, wie das Mädchen panisch davongerannt war und wollte ihr nachsetzen. Doch er wurde jäh durch das Auftauchen eines zweiten Jaguars daran gehindert, der unerwartet an der Stelle auftauchte, an der auch der erste Jaguar kurz zuvor gestanden hatte.
Für einen kurzen Augenblick schien es, als ob Cassius Herz stehen geblieben war, ehe es in einem unregelmäßigen Staccato weiterschlug.
Langsam und möglichst unauffällig hatte Cassius sich zurückgezogen, denn er befürchtete in einen weiteren, weit heftigeren Kampf hineingezogen zu werden.
Zu seiner Verwunderung blieb dieser jedoch aus. Die beiden Jaguare knurrten sich lediglich an, doch nicht einmal das strahlte Bedrohlichkeit aus. Es wirkte eher so, als würden sie sich unterhalten.
Cassius wollte die Gunst der Stunde nutzen und versuchte, noch einen größeren Abstand zwischen sich und den beiden Tieren herzustellen, doch kaum hatte er sich gerührt, durchbohrten ihn schon hasserfüllte Blicke, die zwischen ihm und dem toten Jungen hin und herwanderten.
Ein gemeinsames Knurren entwich den Kehlen der Jaguare. Ein Knurren, das Cassius kurz zuvor vermisst hatte, das sich nun jedoch zu seinem Entsetzen gegen ihn richtete. Jeden Moment erwartete er, dass sie sich auf ihn stürzen würden, seine Beute als die ihre beanspruchen und sie vor seinen Augen reißen würden. Doch wieder verhielten sie sich vollkommen anders, als Cassius es erwartet hatte und zeigten kaum eine Regung.

Nach einem langen Moment der Stille, in der Cassius in ihren Augen die blanke Wut entdecken konnte, löste sich plötzlich der erste Jaguar aus seiner Erstarrung, wandte sich von ihm ab und lief in weiten Sätzen in die Richtung, in die das Mädchen geflohen war.
Der zweite Jaguar verharrte weiterhin in seiner Position und bedachte Cassius mit einem tiefen Knurren. Er schien, als wolle er ihm etwas mitteilen, doch Cassius verstand ihn nicht. Als der Jaguar dies bemerkte, schien es kurzzeitig, als würde er den Kopf schütteln, doch vermutlich hatten Cassius Sinne ihm einen Streich gespielt und so nahm er an, es sich nur eingebildet zu haben.
Als kurz darauf auch der zweite Jaguar sich von ihm abkehrte und dem Ersten in das tiefe Dickicht des Waldes folgte, konnte Cassius sein Glück kaum fassen.
Doch so sehr er auch dankbar über diese Wende war, vermochte er nicht zu glauben, dass sie tatsächlich verschwunden waren, ohne ihn ernsthaft anzugreifen.
Der Gedanke, noch einmal so über das plötzliche Auftauchen dieses schwarzen Jaguars überrascht zu werden, machte ihm Angst.
Angespannt ließ er sich auf dem Boden nieder, die Haltung angespannt, bereit zum Sprung.
Doch wohin sollte er springen? Von allen Seiten könnten sie kommen, ihn umzingeln, sofern sie dies wollten.
Aber sie kamen nicht. Auch als die Dunkelheit sich vollends über den Wald gelegt hatte, waren sie nicht zurückgekommen und erstmals seit Stunden wagte Cassius, seine tauben Glieder zu entspannen und sich aus der Lauerposition zu lösen.

Mit lautlosen Schritten näherte er sich dem umgekipptem Baumstamm, hinter dem der Junge alle Viere von sich gestreckt auf dem feuchten Waldboden lag.
Langsam ging der weiße Tiger um den Stamm herum und beugte sich zu dem Menschen herunter.
Schwer atmend drückte er sich gegen die Leiche des jungen Mannes und legte ihr den schweren, großen Kopf auf die Brust. Kein Herzschlag, der sie auch nur im Geringsten erzittern ließ, war zu spüren.
Zufrieden schloss der Tiger seine funkelnden blauen Augen.
Trotz das ihm das Mädchen entkommen war, überkam Cassius ein Gefühl der Zufriedenheit. Er hatte den Auftrag seines Meisters erfüllt. Zwar war sein Vorgehen nicht fehlerlos und frei von Schmerz für ihn gewesen, doch schließlich zählte nur das Ergebnis. Und das Ergebnis lag vor ihm. Blutend, mit verrenkten Gliedern, und was das Wichtigste war: tot.
In Cassius breitete sich der wohlige Schauer des Triumphes aus und er öffnete die Augen. Verträumt zupfte er mit seinen Krallen an dem leblosen Körper. Die ruckartigen Bewegungen des Toten, die er damit verursachte, riefen in ihm wieder die Erinnerungen an den Kampf wach.
Mit welch erschrockenem Gesichtsausdruck der Junge ihn angestarrt hatte, wie er um sich getreten hatte und wie leicht es doch für Cassius gewesen war. So leicht hatte er es sich wahrlich nicht vorgestellt. Doch diese Tatsache würde er seinem Meister vorenthalten. Im Gegenteil. Er beschloss, seinem Meister ein wahres Kriegsschauspiel zu präsentieren, aus dem er – sein Schüler Cassius – siegreich hervorgegangen war.
Bei dem Gedanken an das Gesicht des alten Mannes, wie er Cassius lobte und seine Tat anerkennen würde, seufzte Cassius leise. Er würde endlich nicht mehr Gefangener des Klosters sein, in das ihn seine Familie einst verbannte. Er würde unter den anderen Schülern Ansehen genießen, weil er von ihrem Meister geschätzt wurde. Er würde das Kloster verlassen dürfen, wann immer er es wollte. Er würde endlich das bekommen, um das er die einfachen Menschen immerzu beneidet hatte: Um ihre Möglichkeit der Selbstbestimmung.

Plötzlich vernahm er weit entfernt ein leises Rascheln, doch es war nicht das selbe Geräusch, wenn der Wind durch das Blattwerk der Bäume fuhr. Es war eher, als ob etwas sich einen Weg durch das dichte Geäst erkämpfte. Schlagartig waren die Gedanken an seine ruhmreiche und verheißungsvolle Zukunft erloschen und er hob abrupt den Kopf - lauschte.
Kamen sie zurück? Cassius richtete sich vollends auf und drehte sich mehrfach um die eigene Achse. Von welcher Seite würden sie angreifen?
Während er seine Umgebung genau musterte, damit ihm auch jede noch so kleine Bewegung nicht entging, schlug ihm ein widerwärtiger Geruch in die Nase.
Angeekelt verzog Cassius das Maul und bleckte die Zähne. Es waren nicht die Jaguare, die sich ihm da näherten. Es waren Hunde – stinkende, sabbernde, kläffende Hunde.


* * *




Liebevoll strich meine Mutter mir durch das dunkle Haar, während sie mit gedämpfter Stimme ein Schlaflied für mich sang.
Ihr Parfüm stieg mir in die Nase. Ich hatte beinahe vergessen, wie gut sie immer roch. Nach einem Hauch sonnengewärmten Orangen.
Gierig streckte ich meine kleinen, fleischigen Finger nach ihr aus, wollte sie auffordern, mich in den Arm zu nehmen und sie tat es. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie hob mich aus meinem Kinderbett.
Ich spürte ihre Wärme und krallte mich in ihr buntgemustertes Sommerkleid.
Fest drückte ich meinen Kopf gegen ihre Brust und sog tief ihren Duft ein.
Erschrocken fuhr ich hoch. Es war nicht der warme, einschmeichelnde Duft von Orangen , der mir da in die Nase stieg, sondern ein anderer, der mir die Sinne vernebelte.
Schlagartig begann meine Umgebung zu verschwimmen. Das liebevolle Lächeln meiner Mutter verzog sich zu einer furchterregenden Grimasse. Die Blumen auf ihrem Kleid tanzten, wirbelten in weiten Kreisen herum, bis ihre Konturen vollends miteinander verschmolzen waren und nur noch einen bunten Farbfleck darstellten.
Entsetzt riss ich die Augen auf. Mein Blick fiel auf einen dunkelgrauen Pullover. Einen Pullover- kein buntgemustertes Sommerkleid. Vor Schreck verkrampfte sich mein Körper, woraufhin ein stechender Schmerz jedes noch so kleine Nervenende zu durchzucken schien.
Es fühlte sich an, als ob mich jemand bei lebendigem Leib auseinander zu reißen versuchte.
Vor meinem geistigen Auge sah ich die gelbfunkelnden Augen des Jaguars, wie er auf seine Beute lauerte - auf mich. War ich womöglich gar nicht mehr am Leben? Fühlte sich so der Tod an?
Sicher, ich hatte gespürt, wie ich auf dem Waldboden aufgeschlagen war, wie mir der Kopf dröhnte und auch der Geruch dieses Tieres, der mir in die Nase gestiegen war, als es sich über mich gebeugt und mich begutachtet hatte, hatte sich in meinen Erinnerungen fest verankert, als wäre die Bestie auch jetzt noch gegenwärtig.
Ich spürte, wie jemand mir vorsichtig übers Haar strich, doch scheinbar nicht achtsam genug dabei vorging. Ein brennender Schmerz an meinem Hinterkopf ließ mich laut aufstöhnen.

Unmöglich, ich kann nicht tot sein! Solch einen Schmerz kann nur ein Mensch empfinden, in dessen Körper noch ein Funken Seele wohnt, dachte ich mir, wusste jedoch nicht, ob ich darüber erleichtert sein sollte.
Ein leises Murmeln lies mich aufhorchen und zum ersten Mal fragte ich mich, wem ich diese Qualen zu verdanken hatte. Verunsichert hob ich den Blick und begegnete plötzlich einem braunen Augenpaar, das mich zum einen besorgt, zum anderen nachdenklich betrachtete.
Angestrengt musterte ich diese Augen, denn sie kamen mir bekannt vor. Die Tatsache, dass ich sie jedoch nicht zuordnen konnte, tauchte die Situation für mich in ein unheimliches Licht.

Während ich in Gedanken jeden Menschen, an den ich mir erinnern konnte, mit diesen Augen verglich, ließ ich meinen Blick weiter am Gesicht der Person entlang wandern. Es war zweifellos ein Mann – ein Mann mit braunen Augen. Als mein Blick bei seinen Haaren angekommen war, klingelte ein schriller Ton in meinem Kopf. Meine Erinnerungen hatten eine Übereinstimmung gefunden. Braune Augen, männlich, blonde Haare. Wie auf einem Computer, tauchte vor meinem geistigen Auge ein in roter fetter Schrift geschriebener Name auf: Ben Simmons.
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg und ich versuchte, einige Schritte zurückzuweichen. Doch es ging nicht.
Vorsichtig wollte ich einen Fuß hinter den anderen setzen, doch da bemerkte ich, dass ich Luft trat. Ich stand nicht mit beiden Beinen auf dem Boden.
Da ich ganz eindeutig nicht tot war und somit die Option Schwebezustand eher unwahrscheinlich war, begriff ich recht schnell, in welcher Situation oder besser gesagt Lage ich mich befand. Ich wurde getragen – von Ben Simmons.
Noch bevor ich vollends einer Tomate Konkurrenz machen konnte, wandte er zu meiner Erleichterung sein Gesicht ab und sagte etwas, das nicht für meine Ohren bestimmt zu sein schien, denn es war so leise, dass ich es nicht verstand.
„Was - ?“, brachte ich daher nur verstört hervor, doch eine plötzliche Berührung ließ mich verstummen. Es war eine Hand, die mir auf die Stirn gelegt wurde, sanft und doch bestimmend.
Wie ein Schleier aus schwarzer Seide, der sich über meinen Augen ausbreitete, verklärte sich mein Blick, bis ich nichts mehr sah außer die unendliche Weite der Dunkelheit.
Schwerfällig versuchte ich den Kopf zu schütteln, um mich von der Hand auf meiner Stirn zu befreien. Doch diese drückte sich nur weiter, nun unbarmherzig, auf meinen Kopf, bis die Dunkelheit meinen gesamten Körper befallen hatte und ich mich nicht mehr rühren konnte.
Ich war wie gelähmt. Mein Körper gehorchte mir nicht länger. Es schien beinahe so, als ob er eingeschlafen war. Doch mein Geist war es nicht. In meinem Kopf rasten die Gedanken und Ängste, die ich hinausschreien wollte, aber nicht über die Lippen brachte.
Ein dumpfes monotones Summen drang an mein Ohr, das ich nur mühsam als Stimme identifizieren konnte. Jemand sprach mit mir. Der jemand, der mich in diesen ausweglosen Zustand gebracht hatte?
„Keine Sorge, es wird alles gut“, reimte ich mir den Inhalt zusammen, den ich glaubte, verstanden zu haben. Kurz darauf löste sich die Handfläche von meiner Stirn.
Alles wird gut? Wie konnte alles gut werden?! Mein Körper versagte mir jeglichen Gehorsam, Alex war tot und ich selbst war dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen. – oder nicht? War ich womöglich noch in Gefahr und hatte sich mein Schicksal lediglich dazu herabgelassen, mir einige wenige Minuten längere Lebenszeit zu schenken?
Ich spürte, wie mein Herz raste und mein Puls in die Höhe schnellte. Hätte sich die Dunkelheit nicht schon in mir ausgebreitet, so hätte spätestens jetzt mein schwirrender Kopf für absolute Schwärze und Taubheit gesorgt.
Hab keine Angst, hörte ich die mir bereits vertraute Stimme in meinen Gedanken. Es ist nicht von Dauer.
Doch dieser Gedanke beruhigte mich nicht. Mein Körper schien nicht mehr mir zugehorchen, sondern jemand völligem Fremdem und das machte mir Angst. Zeitgleich regte sich in mir jedoch Widerstand. Dieser Körper gehörte mir und nur ich sollte in der Lage sein, über ihn Gewalt zu haben.
In Gedanken biss ich die Zähne fest aufeinander und konzentrierte mich auf meine rechte Hand. Na los, beweg dich, dachte ich. Na los!
Doch es tat sich nichts. Meine Hand lag regungslos da und zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie jemals Teil meines Körpers gewesen war.
Mein erwachender Kampfgeist ließ sich davon jedoch nur minder beeindrucken und so versuchte ich mein Glück bei meinen Beinen. Doch wieder geschah nichts.

Hätte es der neue Herr über meinen Körper zugelassen, so hätte ich geweint, doch nicht einmal das schien er mir gewähren zu wollen. Die Gedanken in meinem Kopf kreisten wirr herum, ein Gemisch aus Panik und Hilflosigkeit, die ich nicht im Stande war, auseinander zu halten. Lediglich einem Gedanken gelang es, sich durch das Labyrinth an Emotionen zu schlängeln und dieser Gedanke schallte in meinem Kopf unaufhörlich wider und wider:
Es ist nicht von Dauer. Wehr dich nicht.
Resignierend verschloss ich meinen Geist vor der Außenwelt, hörte und roch nicht mehr, was um mich herum geschah. Ich hoffte, dass dieser Gedanke die Wahrheit sprach, doch auch für den Fall, dass er nicht Recht behielt, war ich doch machtlos.

Ein kaltes Gefühl auf meiner Haut ließ meinen Geist in die Gegenwart zurückfahren. Ich fühlte, wie es sich einen Weg über meinen Handrücken bis hin zu meinem Ellenbogen bahnte und dabei ein sanftes Kitzeln hinterließ.
Fragend wollte ich die Stirn in Falten ziehen und meinen Kopf heben, um herauszufinden, was dieses Gefühl verursachte, doch ich konnte es nicht. Schwer wie Blei lag mein Kopf nach links geneigt auf einem flachen Felsvorsprung. Zu meiner Erleichterung hatte sich der schwarze Nebel, der über meinen Augen gelegen hatte, verzogen, denn mit meinem starren Blick konnte ich einen Waldrand erkennen, der sich unweit von uns erstreckte.
Wo bin ich? Schoss es mir durch den Kopf. Diese Perspektive des Waldes kam mir so vertraut vor, als wäre ich schon mehrfach hier gewesen.
Steine – Waldrand. Diese Beschreibung traf auf viele Gegenden rund um und in Glenn zu.
Angestrengt versuchte ich, meine Augen aus der Starre zu lösen, doch es gelang mir nicht. Weiterhin blickten sie wie aus dem Kopf eines Toten nur in diese eine vorgegebene Richtung.
„Das kann nicht wahr sein.“, vernahm ich plötzlich eine Stimme an meinem rechten Ohr. Es war nur ein Flüstern, doch ich war sicher, diese Stimme schon mehrfach gehört zu haben, jedoch schien mir mein Gedächtnis auch hier nicht weiter auf die Sprünge helfen zu wollen.
„Ich wusste es.“, sprach ein anderer, der sich nicht die Mühe machte, seine Stimme zu senken. Es war zweifellos Ben Simmons.
Kurz darauf hörte ich ein leises Plätschern. Wasser! Schoss es mir durch den Kopf.
Steine – Wasser – Waldrand. Ich bin am Lake Michigan, kam es mir sogleich in den Sinn und die Erinnerung an eben diese Stelle, kehrte in mein Gedächtnis zurück. An dieser Stelle, an der ich nun wie eine Gefangene gehalten und scheinbaren Experimenten ausgesetzt war, hatte ich einst als Kind sehr oft gespielt. Granny hatte es mir zwar immer verboten, weil sie fürchtete, dass ich ins Wasser stürzen könnte, doch ich hielt mich nie an ihre Regeln und schlich mich meistens nachts klammheimlich mit meinen Freunden aus der Wohnsiedlung, um hier zu picknicken oder unsere Zelte aufzuschlagen.
Wie aus dem Nichts, wurden meine Kindheitserinnerungen mit einem großen Schwall Wasser, der sich ohne jegliche Vorwarnung auf meinen Arm und Oberkörper ergoss, hinfort gespült.
Erschrocken wollte ich nach Luft schnappen, wollte aufspringen und davonlaufen, doch wieder konnte ich es nicht.
Als eine Hand forschend meinen Arm anhob und ihn hin und her drehte, schlug mein anfänglicher Schreck in blanke Panik um. Wurde ich in diesem Moment das Opfer eines Gewaltverbrechens?
Doch noch ehe ich mich vollkommen in dieser Idee verlieren konnte, wurde mein Arm sanft wieder neben meinem Körper platziert. Mein Atem ging flach und zeugte nicht im Geringsten davon, wie ich in meinem Inneren auf Grund der Aufregung nach mehr Sauerstoff schrie.
Für einen kurzen Augenblick, schien mein Gehirn wegen dieser Unterversorgung abzuschalten, doch war es wohl immer noch genug, um mich bei vollem Bewusstsein zu lassen.
Ich wusste nicht, ob ich für diese Körperfunktion dankbar sein sollte. Zum einen wurde mir damit erspart, nach Stunden wieder das Bewusstsein zu erlangen und nicht zu wissen, was Ben und diese andere Person mit mir angestellt hatten. Zum anderen machte mir dies jedoch auch Angst. Ich hatte Angst davor, wehrlos mitzuerleben, wie sie taten, was auch immer sie vorhatten.
Als hätte ich geahnt, dass dies noch nicht das Ende dieser Untersuchung gewesen war, wurde ich von mehreren Händen, die sich mir auf Arme, Beine und Hüfte legten auf den Rücken gedreht und auch mein Kopf veränderte im Zuge dieser wechselnden Körperhaltung seine Haltung. So sah ich nun nicht mehr den zu meiner Linken liegenden Waldrand, sondern zu meiner Rechten auf zwei nebeneinander kniende Gestalten.
Die Person, die meinem Gesicht am nächsten war, identifizierte ich rasch als Eleanors zweiten Bruder Ben. Es kostete mich große Mühe, mich nicht an seinem Anblick festzubeißen und ihn spüren zu lassen, wie sehr ich ihn verachtete und verabscheute. Stattdessen wollte ich wissen, wer eben in diesem Moment den Ärmel meines Tshirts nach oben schob, denn Ben war es nicht. Seine Hände hatte er regungslos auf dem Boden abgestützt und betrachtete meinen Rücken mit zu Schlitzen verengten Augen.
Als ich jedoch die zweite Person erkannte, kam es mir für einen Augenblick so vor, als wäre die Welt um mich herum zu Eis erstarrt. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wer mir etwas könnte antun wollen und bereits die Erkenntnis, dass der Bruder meiner besten Freundin diese Absicht zu verfolgen schien, hatte mich tief getroffen. Denn welchen Grund sollte er haben? Ich hatte ihm nie einen Grund dafür gegeben, sich mir gegenüber auf solch eine Weise zu verhalten. Er kannte mich doch kaum.
Doch diese andere Person kannte mich um einiges länger, wie vermutlich jeden aus Glenn und der näheren Umgebung.


* * *




Dem Geruch nach feuchtem, stinkendem Fell folgten mehrere helle Lichter, die sich durch die Dunkelheit bahnten, flüchtig über die Baumstämme schweiften und akribisch den moosbewachsenen Waldboden inspizierten.
Je länger Cassius über dem toten Jungen verharrte und angespannt wartete, was folgen würde, umso mehr Lichter schienen es zu werden. Alle kamen sie aus der selben Richtung und alle schienen sie nur ein Ziel zu verfolgen. Etwas zu finden.
„Hier sind Schuhabdrücke“, hörte er einen Mann aus dem Dickicht rufen und kurz darauf aufgeregtes Murmeln und Lichtkegel, die sich aufeinander zu bewegten und an einer Stelle inne hielten.
Suchmannschaften? Jetzt schon? Genervt schloss Cassius die Augen, ehe er sich von dem Leichnam erhob und sich im Schutz des Baumstammes niederließ und wartete.
Die Lampenträger machten keine Anstalten sich langsam fortzubewegen. Wie Expeditionsteilnehmer schlugen sie sich durch das spärliche Geäst, was Cassius eher amüsierte, als erschreckte, und so dauerte es nicht lange, bis sie die kleine Lichtung erreicht hatten und diese mit ihren Taschenlampen erhellten.
„Da ist was“, stellte einer aus der Gruppe fest und trat auf den umgestürzten Baumstamm zu.
Mit jedem Schritt, den er näher kam und seinen Lichtkegel über den Boden tanzen ließ, umso schneller schien Cassius Herz vor Vorfreude zu schlagen.
Komm noch ein Stück näher. Gleich hast du gefunden, was du suchst, lockte Cassius ihn heran und der Mann folgte seinem Ruf widerstandslos.
Lautlos pirschte sich das Licht an Cassius und seine Beute heran und als es über die Schuhe des Jungen bis hoch zu seinem Oberkörper fuhr, erfasste den Mann lähmendes Entsetzen.
Den Mund zu einem stummen Schrei geformt, begann die Kraft aus seiner Hand zu weichen.

Spöttisch hüpfte das Licht vor seinen Augen auf und nieder, beleuchtete dabei immer wieder den blutdurchtränkten Körper, bis die Taschenlampe mit einem dumpfen Geräusch auf dem Waldboden aufschlug und das Licht nur mehr auf den kahlen Baumstamm fiel.
„Was ist los, Dan?“, fragte eine Frau aus der Menge. Ihre Stimme ging hektisch und das Zittern in ihr verriet, dass sie bereits ahnte, was ihr Mann soeben gesehen hatte und auch die Übrigen schienen ihre Vermutung zu teilen, denn erst als der Mann unter dem heftigen Zittern seiner Knie nachgab und er keuchend zu Boden sank, traten die anderen zögerlich heran.
Noch ehe sie den Leichnam erblickten, nutzte Cassius ihre Schreckhaftigkeit und sprang aus seinem Versteck.
Nur kurz verharrte er im Kreise der Menschen und Hunde, und ließ es sich nicht nehmen, ein furchteinflößendes Brüllen auszustoßen, welches selbst die Suchhunde zum Winseln brachte. Wie ein Blitz schoss er dann über die Lichtung, während das erschrockene, dann zunehmend entsetzter klingende Schreien der Anderen in ihm diebische Freude auslöste, und preschte durch den Wald davon, ohne noch einmal zurückzublicken.


* * *




Hätte ich nicht ohnehin auf unerklärliche Weise die Macht über meinen Körper verloren, so wäre ich sicher vor Angst wie gelähmt gewesen, als ich dieses Gesicht erkannte. Es war das Gesicht des Mannes, dem ich vertraute, wie ich es immer getan hatte - wie auch alle anderen ihm vertrauten. Stets hatte ich ihn nur als den charmanten und zugleich humorvollen Pfarrer und liebenden Familienvater kennengelernt und nun waren wir hier im Wald und ich kämpfte mit diesem neuen Wesenszug, der so gar nicht zu Mr. Simmons Charakter passen wollte.
Ich musste erkennen, dass die Person Mr. Simmons eine einzige Lüge war, die sich in mein Leben eingenistet hatte und die ich viel zu spät als solche erkannt hatte.
Während ein Teil von mir mit der Verzweiflung rang, begann ein anderer mein ganzes Leben kritisch zu hinterfragen.
Wenn ich mich in diesem Mann so geirrt hatte, lag es daran, dass es ein Leichtes war, mich zu täuschen? Und wenn dem so war, war mein Leben, wie ich es empfand überhaupt real? Gab es die Menschen, die ich liebte überhaupt, oder waren sie in Wirklichkeit ganz anders und ich hatte es einfach nicht bemerkt? Vor meinem geistigen Auge sah ich mich, umringt von all den Menschen, die von so großer Bedeutung für mich gewesen und es auch heute noch waren. Alle waren sie da: Eleanor, meine Grandma, meine Mutter, Mr. Simmons, Alex... Wie zu Salzsäulen erstarrt, lächelten sie mich mit einem falschen, hinterlistigen Grinsen an, auch noch als erste Teile ihres Körpers abbröckelten und sie allmählich zu weißem Staub zerfielen.

„Sie kann uns sehen.“, hörte ich eine dumpfe Stimme und versuchte, in die Realität zurückzukehren und die schrecklichen Bilder hinter mir zu lassen.
Ich sah Mr. Simmons, wie er meinem Gesicht näher kam und mir dabei prüfend in die Augen blickte.
„Sie wird uns erkannt haben“, stellte Ben mit nervöser Stimme fest und trat dicht hinter seinen Vater.
Statt etwas auf diese Aussage zu erwidern, legte mir Mr. Simmons sanft eine Hand auf die Schulter. Angewidert wollte ich das Gesicht verziehen, seine Hand abschütteln, doch die Starre hinderte mich daran.
„Ganz ruhig, Melissa“, flüsterte Mr. Simmons mit eindringlicher Stimme. „Wir wollen dir nichts tun. Im Gegenteil, wir beschützen dich.“
Beschützen?, schrie es in meinem Kopf. Das Einzige, vor dem ich beschützt werden musste, war vor diesem Mann im Kirchengewand und dessen unheimlichem Sohn!
Leise seufzte Mr. Simmons auf.
Glaub ihm, sagte plötzlich diese auf erschreckende Weise vertraute Stimme in meinem Kopf. Glaub ihm, denn er sagt die Wahrheit.
Verschwinde!, versuchte ich die Stimme aus meinen Gedanken zu vertreiben, doch wie schon mein Körper gehorchte sie mir nicht.
Ich spürte, wie die vertraute Panik zurückgekehrte. Wenn ich nun nicht einmal mehr meine eigenen Gedanken steuern konnte, was war ich dann? Ich würde nicht einmal mehr denken können, was ich wollte, geschweige denn überhaupt realisieren, was um mich herum geschah. Ich würde dahinvegetieren wie ein Komapatient, zu nichts in der Lage und dies auf nicht absehbare Zeit.
„Sie glaubt dir nicht.“, hörte ich Bens Stimme, die eigenartig hoch klang.
Mr. Simmons nickte kaum merklich. „Ich weiß.“
Dann legte er mir eine Hand auf die Stirn und es fühlte sich an wie die Hand, die sich schon einmal auf meine Stirn gelegt und mir mit dieser Berührung sämtliche Macht über meinen Körper entzogen hatte.
Was wollte er mir denn noch nehmen? Er hatte doch alles, was ich besaß! Die Gewalt über meinen Körper und nun auch schon teilweise meine Gedanken, was wollte er noch?
„Es tut mir leid, Melissa, aber ich muss es tun, denn dein Misstrauen und deine Angst vor uns sind zu groß.“
Oh Gott, er bringt mich um!, schoss es mir durch den Kopf, während ich darauf wartete, das Aufblitzen eines Messers zu sehen oder seine Hände zu spüren, wie sie sich um meinen Hals legten, doch nichts dergleichen geschah. Schwer lag die Hand weiterhin auf meiner Stirn. Verwirrt warf ich einen Blick zu Mr. Simmons und sah, wie er seine Augen schloss und seine Stirn in tiefe Falten legte.
Noch ehe mir dieses Verhalten unheimlich erscheinen konnte, spürte ich, wie erneut ein schwarzer Schleier meinen Körper umschlang und sich auch vor meine Augen die Schwärze legte. Zu meiner Überraschung machte sie jedoch nicht wie zuvor an dieser Stelle halt, sondern schlich sich in meinen Kopf und erfüllte auch diesen mit Dunkelheit.

„Wir bringen dich jetzt nach Hause“, hörte ich eine sanfte Stimme und spürte, wie jemand mich hochzuheben schien.
Diese Stimme kam mir bekannt vor. War das Ben? Wo war ich? Wieso konnte ich nicht sehen?
Die Angst vor dem Unbekannten ergriff mich und ich suchte Antworten in der Vergangenheit, doch das letzte, an das ich mich erinnerte, war ein Bild von Alex und mir, als wir in den Wald gingen. Es schien schon so viel Zeit seit diesem Ereignis vergangen zu sein und es beunruhigte mich, dass ich nicht wusste, was seitdem geschehen war.
„Schlaf“, hörte ich ein leises Flüstern an meinem Ohr, dass mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ und als hätte dieses Flüstern mir meinen Willen geraubt, spürte ich, wie mir das Denken schwerer und das Lauschen anstrengender wurde, bis ich nur noch ein Verlangen hatte: schlafen.
Das letzte, das ich spürte, bevor ich im Land der Träume Zuflucht fand, war, wie mich jemand hochhob und mit mir in seinen Armen davonging, begleitet von leichten, gleichmäßigen Erschütterungen der Schritte.

Ich wusste nicht, wie lange ich mich in dieser Lage befunden hatte, als ich aufwachte. Das unruhige Beben hatte geendet und die Person, die mich trug, schien stehen geblieben zu sein.
„Dad?“, meinte ich Bens Stimme nun mit Sicherheit erkannt zu haben. „Ihre Wunden. Sie sind verheilt. Wie schon damals bei uns zu Hause.“
Das sanfte Streichen einer Hand über meiner Schläfe ließ meinen Puls in die Höhe schnellen.
Mr. Simmons? Ich weiß nicht warum, doch ich hatte angenommen, dass niemand außer Ben und mir in der Nähe war.
„Interessant“, hörte ich eine tiefe Männerstimme leise murmeln. „Wir müssen sie im Auge behalten.“
Statt etwas zu erwidern, spürte ich, wie Ben sich wieder in Bewegung setzte, doch bereits nach wenigen Metern, kam es mir vor, als ob seine Schritte langsamer wurden.

„Großer Gott, ich danke dir, ihr habt sie gefunden!“, hörte ich einen gedämpften Aufschrei, gefolgt von schnellen aufeinander folgenden Schritten. „Wo war sie?“
Granny? Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch die erneute Berührung der Hand auf meiner Stirn hielt mich davon ab.
Schlaf, sagte eine innere Stimme in mir. Dann wird es dir besser gehen.
„Im Wald.“, hörte ich eine warme, mir sehr bekannte Stimme. Mr. Simmons.
Wie durch Watte spürte ich, wie jemand mein Gesicht und meine Hände berührte und vorsichtig über sie strich.
„Was ist mit ihr? Ist sie verletzt?“
„Nein, sie schläft nur. Sie war völlig entkräftet, als wir sie fanden.“, hörte ich Ben mit ruhiger Stimme sagen.
„Entkräftet? Was ist denn nur passiert?“
„Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber es scheint, als ob ein Tier die beiden angefallen hat.“
Granny sog scharf die Luft ein.
„Ein Tier?“, ihre Stimme zitterte, dann herrschte sorgenvolles Schweigen.
„Was ist mit dem Warren-Jungen?“
Kurz darauf hörte ich, wie sie einen entsetzen Schrei ausstieß und die Hand vor den Mund schlug, doch ich verstand ihre Reaktion nicht. Was war im Wald geschehen? Wieso war Granny so aufgelöst und was hatte das mit Alex zu tun?
„Gehen wir hinein. Hier draußen ist nicht der richtige Ort für solche Botschaften. Wir wollen die Nachbarschaft nicht wecken.“
Wecken? Wie spät war es?
„Mrs. Griffin? Ich würde Melissa gerne ins Bett bringen. Ich denke, da hat sie es bequemer.“
„Ja, natürlich“, antwortete Granny heiser.

Und wieder spürte ich Bens regelmäßige Schritte, wie sie sich von Grandma und Mr. Simmons entfernten und unser Haus betraten. Langsam wandte er sich Richtung Treppe, die in die obere Etage führte und trug mich Stufe für Stufe hinauf nach oben.
Als meine Zimmertür leise quietschend nach innen aufschwang, hörte es sich in meinen Ohren wie eine Warnung an.
Schlagartig war die Verwirrung aus meinem Kopf gewichen und machte einem in meinem Körper weit ausgeprägteren Gefühl Platz: Scham.
Ben Simmons trug mich in mein Zimmer und war im Begriff, mich auf mein Bett zu legen, während ich dies vollkommen regungslos über mich ergehen lassen musste.
Am liebsten hätte ich geschrieen und um mich gestrampelt, wäre aus seinen Armen gesprungen und hätte ihm die Zimmertür vor der Nase zugeschlagen, doch ich konnte nicht.
Regungslos, aber innerlich bis zum Zerbersten angespannt, verfolgte ich, wie Ben sich meinem Bett näherte und mich dann sachte darauf legte. Für einen kurzen Augenblick meinte ich, seinen warmen Atem an meiner Wange zu spüren, dann jedoch stand er auf und ging einmal um das Bett herum. Kurz darauf hörte ich das leise Rascheln von Papier.
Angestrengt spitze ich die Ohren und versuchte zu ergründen, was er da gerade begutachtete und zum ersten Mal in meinem Leben war ich dankbar, dass ich noch nie etwas für Tagebücher übrig hatte.
Mit einem dumpfen Schlag klappte er dieses etwas zu und ein Geräusch direkt neben meinem Kopf offenbarte mir, dass er es auf meinen Nachtisch legte.
Dann herrschte Stille. Stille, in der ich nicht sicher war, ob er überhaupt noch neben mir war oder ob er mein Zimmer bereits verlassen hatte. Doch das Quietschen der Tür war ausgeblieben, was mich darauf schließen ließ, dass er noch immer da war und mich womöglich beobachtete. Diese Vorstellung war mir unheimlich und ich wünschte nichts mehr, als das Granny ins Zimmer trat und dieser Totenstille ein Ende setzte.
Ich versuchte mir vorzustellen, dass er gerade mein Zimmer mit seinen Blicken inspizierte, doch das Gefühl, dass er stattdessen mich beobachtete, ließ mich nicht los.

Plötzlich hörte ich das leise Knacken von Knochen, als ob jemand sich aus seiner erstarrten Haltung gelöst hätte und kurz darauf vorsichtige Schritte, die sich der Tür näherten.
Vollkommen unerwartet durchbrach Ben auf einmal die unheimliche Stille, doch seine Worte beruhigten mich nicht.
„Verzeih mir.“
Für einen Augenblick verharrte er an der Tür, dann schloss er sie mit dem mir altvertrauten Geräusch und ließ mich mit meiner Ratlosigkeit zurück.

Erinnerungen



X. Kapitel

Erinnerungen




Es war dicht neben mir, ich spürte seine Bedrohlichkeit und auch die Wärme seines Körpers mit dem pulsierenden Herzen, das darin schlug. Es trachtete mir nach dem Leben, jagte mich wie ein Jäger seine Beute, trieb mich durch karge Landstriche, in dem Wissen, dass ich bald entkräftet zusammenbrechen würde. Doch was war es?
Ich konnte seine Anwesenheit spüren, ob über mir in der Luft, unter mir auf dem Meeresgrund oder direkt hinter mir. Viel zu groß jedoch war meine Angst, beim Anblick dieser Kreatur zu begreifen, dass es sinnlos war, davon zu laufen, viel zu groß die Sehnsucht nach dem Horizont, viel zu groß der Wille zu überleben, als dass ich hätte stehen bleiben und mich nach diesem Wesen umsehen können. Und so rannte ich vor dem Unbekannten davon, so lange meine Beine bereit waren, mich zu tragen und es schienen Jahre zu vergehen. Jahre, in denen mich Bedrohung und Angst auf Schritt und Tritt über den ganzen Erdball verfolgten.

In glühenden Sand grub ich meine nackten Zehen und spürte schon den Schmerz nicht mehr, der sich mit jedem einzelnen Sandkorn in meine Fußsohlen zu brennen schien. In tiefsten Morast sank ich ein bis unter meine Brust, doch kämpfte ich mich voran, als gäbe es außer der Flucht noch ein weiteres Ziel, das weit bedeutungsvoller wäre, als mich in Sicherheit zu bringen, ich jedoch nicht kannte. Meterhoher Schnee ließ mir das Blut in den Adern gefrieren und den Atem in meiner Lunge wie Blei anfühlen. Doch schien es nicht länger mein Verstand und meine Kraft zu sein, die mich zum Weitergehen antrieben, sondern etwas Fremdes, das jedoch so mächtig war, dass ich mich ihm nicht entziehen konnte, sondern ihm bedienungslos folgen musste.
Schon lange erweckte mein Körper den Anschein, nur noch eine leere Hülle zu sein, die den Gezeiten für Jahre ausgesetzt gewesen war. Meine Füße, Hände, mein gesamter Körper als Teil einer Maschine, die im Eilschritt den knirschenden Schnee zu überwinden versuchte, wie sie auch die unendliche Einöde der Sümpfe und Wüsten überwunden hatte.
Und eines Tages sollte diese Unendlichkeit ein Ende finden, als ich am Horizont etwas erblickte, von dem ich schon beinahe geglaubt hatte, dass ich mir seine Existenz nur eingebildet hatte. Eine Landschaft, die nicht flach und unbegrenzt war, sondern endlich und in die Höhe gewachsen. Es waren Bäume – nein, sogar ein ganzer Wald, der sich dort erstreckte und plötzlich spürte ich, trotz der andauernden Kälte um mich herum, wie wieder Leben in diese leere Hülle fuhr, die sich Körper nannte.

Mit ihr kehrte auch die Taubheit in meine Glieder zurück und ich taumelte, ehe ich das Gleichgewicht wiederfand und mit festem, auf den Wald gerichteten Blick, losrannte, so schnell es mein Zustand erlaubte. Meine Angst war nicht länger, von diesem Wesen, das mich verfolgte, getötet zu werden, sondern die Möglichkeit, dass dieser Wald für mich unerreichbar war oder es sich dabei gar um eine Täuschung meiner Sinne handelte. Doch er war real, ebenso wie die leisen, scharrenden Geräusche der Tiere, die darin lebten und das gleichmäßige Flügelschlagen der Vögel, wenn sie sich aus den Baumkronen erhoben.
Je näher ich kam, desto mehr zog sich das Eis unter meinen Füßen zurück und gab den nach Moos und Sonne duftenden Waldboden preis. Trotz der fortwährend bestehenden Gefahr in meinem Rücken hielt ich nur wenige Schritte bevor ich auf der Höhe des ersten Baumstammes angelangt war für einen kurzen Augenblick inne und schloss die Augen. Tief sog ich den beruhigenden Duft ein, der in mir auch die letzten Zweifel ausräumte, dass alles nur eine Wahnvorstellung sein könnte und ein leichtes Lächeln legte sich über mein Gesicht.

Mit einem stummen Seufzer öffnete ich meine Augen und erstarrte. Wie abertausende Nadelstiche schien mir etwas den Rücken zu durchbohren. Blicke.
Mühsam würgte ich den aufkommenden Kloß in meinem Hals herunter, um nach Luft zu ringen und wandte den Kopf leicht zur Seite.
Aus den Augenwinkeln konnte ich nichts erkennen und so begann ich kaum merklich, mich um die eigene Achse zu drehen.
Da ist nichts. Ganz ruhig. Nur noch wenige Schritte und du hast den Wald erreicht, versuchte ich mich zur Selbstbeherrschung zu ermahnen, doch genau in diesem Augenblick entdeckte ich das, was mich die gesamte Zeit über gejagt zu haben schien.
Schwer schnaufend, das Fell klitschnass durch den geschmolzenen Schnee am Körper klebend, die Augen wachsam auf mich gerichtet, stand er da, bereit, seine Beute endlich zu ergreifen, die ihn solange hingehalten hatte – ein Jaguar mit stechend gelben Augen.

Seine weißen Schnurrbarthaare zuckten unheilverkündend, ehe er sein Maul aufriss und seine bedrohlichen Reißzähne offenbarte. Laut stieß er ein inbrünstiges Fauchen aus und kam, die schweren Pranken anmutig mit bedachter Vorsicht voreinander setzend, auf mich zu. Mit jedem Schritt, den er näher trat, wuchs die Angst in meinem Innern. Mein Atem ging stockend, ehe ich gänzlich die Luft anhielt, die Muskeln verkrampften und das Herz, das sich in meiner Brust zu überschlagen schien.
Nur noch wenige Schritte, flehte mein Inneres und ich konnte nicht umhin einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu dem saftigen Grün des Waldes zu werfen, das auf mich solche Geborgenheit und Schutz ausstrahlte.
Und plötzlich spürte ich etwas, das ich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt zu haben schien. Es war befreiend und gleichzeitig fordernd, es ermutigte einerseits und ließ mich noch im selben Atemzug verletzlicher erscheinen, als ich mir sowie schon vorkam. Es war das Gefühl der Hoffnung, der Hoffnung auf Leben – und eben dieses Gefühl ergriff so unvorhersehbar Besitz von mir, dass es selbst meine Angst zu verdrängen vermochte.
Wie in Trance wandte ich meinen Körper von dieser Bestie ab, als hätte sie all ihren Schrecken verloren, und streckte sehnsüchtig meine Hände nach dem Wald aus. Das Knurren in meinem Rücken ängstigte mich nicht mehr, es war mir gleichgültig geworden. Ich wollte leben und ich wusste, sobald ich die Bäume erreichen würde, würde ich es können.

Entschlossen setzte ich einen Fuß vor den anderen, mein Atem ging schnell und das Herz in meiner Brust hämmerte vor Aufregung, und plötzlich war sie da. Die Rettung. Ich konnte sie spüren.
Als hätte ich eine magische Grenze übertreten, umfing meine Fingerspitzen plötzlich eine wohlige Wärme und je weiter ich ging, desto mehr breitete sich dieses Gefühl in meinem ganzen Körper aus, bis es mich gänzlich umfing. Zaghaft strich ich über die harte Rinde eines Baumes. Er war real. Der ganze Wald war es.
Überall tummelten sich Tiere, ob groß oder klein, gefährlich oder friedliebend. Eichhörnchen sprangen selbstbewusst von Ast zu Ast, Spechte klopften im Takt und Raubkatzen lagen zufrieden und ermattet im kühlen Schatten.
Raubkatzen! Erschrocken wirbelte ich herum und fuhr zusammen. Nur eine Handlänge von mir entfernt stand er dort, der Jaguar mit den gelben Augen und starrte mich an. Ich wollte schon die Flucht ergreifen, doch etwas ließ mich noch in der Bewegung inne halten. Er rührte sich nicht. Nichts ließ darauf schließen, dass er mich mit einem gezielten Sprung zu Boden werfen wollte. Er stand einfach nur da, wie eine Statue aus schwarzem Marmor und starrte.
Mit angehaltenem Atem musterte ich ihn. Seine Augen sprachen Bände. Er hasste mich, er wollte seine Zähne in meinen ausgemergelten Körper bohren und mich für alle die Jahre, die er mich gejagt hatte, büßen lassen. Doch er konnte es nicht.
Ich sah, wie sein ganzer Körper leicht zu zittern begann. Von den Schnurrbarthaaren bis hin zu seinen schwarzen Pranken erstreckte es sich. Seine Muskeln waren bis zum äußersten angespannt und traten an Hals und Beinen deutlich hervor. Es schien, als wolle er sich mir mit aller Kraft, die noch in seinem Körper schlummerte, nähern, doch gelang es ihm nicht.

Mit jeder Sekunde, die verstrich, spürte ich eine aufkommende Ruhe und ein Gefühl von Sicherheit, das zunehmend von meinem Verstand Besitz ergriff. Und während in meinen Körper das Leben mit all der verlorenen Zuversicht zurückkehrte, konnte ich dabei zusehen, wie die letzten Kräfte des Jaguars dahinzuschwinden schienen. Unaufhörlich versuchte er seinen Körper zum Vorwärtsdrängen zu bewegen, immer wieder scheiterte er, bis er schließlich aufgab. Mit einem letzten vernichtenden Blick aus seinen stechenden Augen, wandte er sich in einer anmutigen Bewegung um und schritt davon.
Ein leises Seufzen entfuhr mir und allmählich löste ich meinen Körper aus der lange währenden Erstarrung. Er schmerzte, doch überwog die Erleichterung.
Erschöpft lehnte ich mich an einen Baum und zum ersten Mal, seit ich den Wald erreicht hatte, nahm ich wahr, wie laut es eigentlich die ganze Zeit über schon gewesen sein musste.
Es war ein Konzert tausender Vogelstimmen, die fröhlich und unbeirrt vom Gesang der anderen, ihre eigene Melodie trällerten. Im Hintergrund war deutlich das Knirschen und Knacken morscher Äste zu hören, die unter der Last von Rehen und Hirschen nachgaben und schlussendlich brachen. Fasziniert von diesem bunten Treiben, erwachte in meinem Inneren das Verlangen, diesen Ort genauer zu erkunden. Entschlossen stieß ich mich vom Baumstamm ab und ging, ohne auch nur einen weiteren Moment zu zögern, immer tiefer in den Wald hinein, vorbei an seinen schlafenden oder fressenden Bewohnern, die mir keine Beachtung schenkten. Und ebenso wenig, wie sie in mir eine Bedrohung sahen, sah ich sie auch in ihnen. Egal, wie weit ich lief und wie viel ich sah, nie schien es vergleichbar mit den Eindrücken zu sein, die ich nur wenige Sekunden zuvor erhalten hatte. Immer wieder sah ich andere Bilder, die mich wiederum aufs neue begeisterten, bis plötzlich die Bäume um mich herum immer weniger wurden und schließlich vollkommen verschwunden waren.
Schon fürchtete ich, das Ende des Waldes erreicht zu haben, als ich weit entfernt am Horizont die hochragenden Baumspitzen eines anderen Waldes erkennen konnte und egal, wohin ich mich drehte, sah ich sie.
Ich war auf einer Lichtung, einer Lichtung, die so groß war, dass ich niemals geglaubt hätte, dass es so etwas überhaupt geben könnte. So meinte man, sie würde sich von einem Ende der Welt bis zum anderen erstrecken und zwischendrin war nur eine kreisrunde Fläche saftigen, grünen Grases.
Ein Windstoß fuhr mir durch das Haar und ließ die Halme um mich herum wild herumtanzen. Aus den Baumkronen rieselten Blätter zu mir herunter, die sogleich vom Wind davongetragen wurden.
Zwischen all dem tanzenden Laub nahm ich ihn erst gar nicht wahr, dabei hob er sich mit seiner schwarzen Lederjacke deutlich von den leuchtenden Farben des Waldes ab. Er war mir bereits so nahe, dass ich seinen Gesichtsausdruck klar erkennen konnte. Er lächelte verträumt.

Die Blätter um mich herum gingen in einen langsamen Walzer über, bis sie sich schließlich schwerfällig und träge gen Boden neigten.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich ihn erstaunt. Das Lächeln auf Alex Gesicht erstarb und er zuckte resignierend die Schultern. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, doch schon im selben Augenblick machte er zwei zurück und je näher ich ihm kommen wollte, desto weiter entfernte er sich von mir. Wir standen uns gegenüber, musterten einander und obgleich keiner von uns ein Wort sprach, wusste ich, dass das einzige Gefühl, das ich in diesem Moment empfinden durfte, Trauer war. Ich ging in die Knie und setzte mich auf den warmen Boden. Alex tat es mir gleich. Gedankenverloren blickte er auf seine Hände, drehte sie immer wieder, fuhr sich bedächtig über Kopf und Brust. Als er meinen fragenden Blick bemerkte, zog er unbeholfen seine Mundwinkel nach oben. Er wirkte so hoffnungslos und verlassen, dass ich aufspringen wollte, um ihn in den Arm zu nehmen, doch er würde davonlaufen und nicht zurückkommen.
Ratlos legte ich den Kopf in den Nacken und starrte in den makellosen Himmel.
„Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Du hattest den ganzen Kopf voll brauner Locken, überall. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hatte ich richtig Angst, sie würden durch dein ganzes Gesicht wuchern und dich auffressen.“
Aus den Augenwinkeln sah ich zu Alex herüber. Er hatte ebenfalls sein Gesicht dem Himmel zugewandt und lächelte zaghaft.
„Wie unbeschwert man als Kind doch ist. Innerhalb einer Stunde waren wir unzertrennlich und bereits nach einem Tag wollten wir heiraten – aber ohne Küssen versteht sich. Komisch, jetzt bin ich volljährig und habe noch immer keinen Ring von dir am Finger.“ Grinsend wandte ich mich wieder zu ihm um. Er richtete sich auf und sah mich durchdringend an. Er legte eine Hand auf seine Brust und senkte den Blick. Als er aufstand, streckte ich fordernd die Hand nach ihm aus. Er sollte nicht gehen.
Mit ernster Miene schüttelte er den Kopf, tippte kurz auf seine Brust und drehte sich ohne mir noch einen weiteren Blick zuzuwenden um. Rasch rappelte ich mich hoch und eilte ihm nach, doch ich erreichte ihn nicht.
„Alex, warte!“, rief ich, aber er reagierte nicht. Er ging davon und entfernte sich immer weiter von mir. Ich begann zu rennen und rief seinen Namen auch dann noch, als ich ihn durch den dichten Tränenschleier über meinen Augen nur noch schemenhaft ausmachen konnte. Plötzlich stolperte ich und fiel unsanft zu Boden. Hastig wischte ihr mir die Tränen aus den Augen und hob den Blick. Er war fort.
Hoffnungslosigkeit ließ mich zusammensacken und regungslos dasitzen. Es fühlte sich an, als hätte ich meinen besten Freund auf immer verloren.
Ich rollte mich auf dem Boden zusammen und ließ meine Finger unbeholfen durch das dichte Gras fahren. Die glatten Rücken der Halme bogen sich bereitwillig unter der Last meiner Fingerkuppen. Wehmütig schloss ich die Augen. Die Umgebung, die mir so vertraut und belebt erschienen war, wirkte nun kalt und einsam. Ein frostiger Schauer durchjagte meine Füße und breitete sich allmählich bis hoch zu meinen Knien aus. Als ich auch meine Hände kaum noch spürte, öffnete ich die Augen. Sie waren fort. Wo einst die Finger gewesen waren, war einzig Gras geblieben. Meine Arme wurden kürzen, verschlungen von etwas, das ich nicht ausmachen konnte. Ich löste mich auf.
Der Gedanke beunruhigte mich nicht, er wirkte eher tröstlich.
Langsam drehte ich mich auf den Rücken und starrte in den strahlendblauen Himmel. Meine Arme spürte ich kaum mehr, meine Beine mussten bereits gänzlich verschwunden sein. Es dauerte nicht mehr lange, bis auch das Gefühl in meinem Kopf nachließ. Der Blick verschwamm, wurde zunehmend unscharf und dann war ich verschwunden.


* * *




Markerschütternd dröhnte die ohrenbetäubende Musik in Cassius Gehörhang und so sehr er sich auch zu beherrschen versuchte, er konnte diesen Lärm einfach nicht ertragen.
„Wo willst du hin?“, hörte er die Blondine, mit der er sich seit einem Drink unterhalten hatte, laut lallen und spürte ihre Hand schwer auf seiner Schulter.
„Raus“, schrie Cassius gegen die tiefen Bässe an, die sein Herz offensichtlich zum Schnellerschlagen animieren wollten. Fragend sah die junge Frau ihn an und Cassius rollte unmerklich mit den Augen, ehe er sich von seinem Platz an der Bar erhob und auf den Ausgang der Disco zusteuerte. Er hatte sich nach dieser langen und beschwerlichen Reise und vor allem nach dem erfolgreichen Erfüllen seines Auftrages endlich einmal etwas Gutes tun wollen und er hatte gehört, dass Discotheken zum Feiern wohl genau der richtige Ort sein sollten. Zumindest hatte ihm das vor Monaten einer seiner Mitschüler erzählt, als er von seinen Ferien berichtet hatte.
Dieser taube Idiot, dachte Cassius wütend und stapfte an den Türstehern vorbei an die frische Luft. Entschlossenen Schrittes hastete er über den Gehweg.
„Was is denn los?“, hörte er die Stimme der japsenden Blondine hinter sich, wobei die Art, wie sie es sagte, einem ausgeleiertem Akkordeon beunruhigend ähnlich war. Cassius ignorierte sie. Ihm war nicht danach, sich mit dieser betrunken Person zu unterhalten, die scheinbar einen Narren an ihm gefressen hatte.
„Hallooo? Kannsu vielleicht ma mit mir reden?“, lallte sie unbeirrt weiter, stolperte ein paar Schritte auf ihn zu und krallte sich mit einem verzückten Ausdruck auf dem Gesicht, in sein Hemd.
„Was ist denn!“, schnauzte Cassius sie gereizt an, wobei er ihr mit einer ruckartigen Bewegung die noch halbvolle Bierflasche aus der Hand riss.
„Ey“, stieß sie beleidigt aus, wobei sie sich eher wie ein quengelndes Kind anhörte. „Was solln das. Gib die wieder her.“
Ungerührt ließ er die Flasche aus der Hand gleiten. Mit einem lauten Schlag zerbarst sie auf dem Boden.
„Spinnst du?“ Wütend funkelte die Blondine ihn an und sah mit trauriger Mine auf die verstreuten Scherben, zwischen denen das Bier unruhig umherschwamm.
„Das bezahlst du mir!“, keifte sie nun schon erstaunlich klarer im Kopf und trat fordernd an Cassius heran.
Gerade als dieser etwas darauf erwidern wollte, spürte er, wie das Handy in seiner Hosentasche zu vibrieren begann. Ohne auf die zeternde Frau zu achten, wandte er sich um und ging einige Schritte davon.
Das Display zeigte eine unterdrückte Nummer an. Cassius Herz ging schneller und für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, den Anruf einfach zu ignorieren.
Du würdest ihn damit nur verärgern, erinnerte ihn sein Gewissen und die Angst, bei seinem Meister in Ungnade zu fallen, war zu groß. Nicht wegen einem ignorierten Anruf. Nicht wegen so einer Kleinigkeit würde er sich all das verbauen, was er nun mühsam erreicht hatte.
Ein letztes Mal atmete er tief aus, ehe er den Anruf entgegennahm.

„Das hat lange gedauert.“, drang die Stimme ohne ein Wort der Begrüßung aus dem Telefon.
Cassius schluckte erneut. Nun war es zu spät. Jetzt musste er das Gespräch durchstehen.
„Es tut mir Leid. Es...“
„Ey!“ Cassius fuhr erschrocken zusammen. Von seinem Meister unterbrochen zu werden, damit hatte er zu jeder Zeit zu rechnen, allerdings nicht von einem betrunkenen Teenager.
„Meinst du, du kannst mich einfach hier stehen lassen oder was?“, maulte sie und wurde dabei zunehmend lauter.
Alarmiert drückte Cassius das Handy fest gegen seine Brust. Wenn das sein Meister hören würde.
„Hau ab“, zischte er und sah sie gereizt an.
„Was denkst du eigentlich, wer du bist. Ich hol die Security. Und dann hast du n verdammt großes Problem.“ Voller Entschlossenheit drehte sich die Blondine um, wankte kurz, fing sich und stöckelte davon.
Zaghaft schob Cassius das Telefon wieder an sein Ohr. Es herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, nicht einmal ein Signal war zu hören. Sein Meister war immer noch in der Leitung.
Hastig stopfte er sich das Handy in die Hosentasche und eilte der aufbrausenden Schönheit hinterher, um sie mit festem Griff am Weitergehen zu hindern. Auf Ärger mit irgendwelchen Halbstarken konnte er heute nun wirklich verzichten.
Für den Bruchteil einer Sekunde schloss er die Augen, er hatte Schmerzen im Oberkiefer, spürte, wie es seine Knochen auseinander zog. Er musste ein scheußliches Bild abgeben.

Wie zur Bestätigung hörte er einen erstickten Schrei. Belustigt öffnete er die Augen und sah in das vor blankem Entsetzen verzerrte Gesicht der jungen Frau.
„Oh Gott“, stieß sie aus. „Oh Gott“. Immer lauter schrie sie und versuchte sich von Cassius loszureißen, konnte jedoch den Blick nicht von ihm wenden.
„Halt die Klappe“, versuchte er die Worte in seinem Maul zu formen, doch es gelang ihm kaum. Es war eher ein Röcheln und Knurren, das sich zwischen seinen langen, scharfen Zähnen hindurchschlängelte.
Der Atem der jungen Frau ging schneller, ihre Pupillen weiteten sich, ihre Augen schienen sich nicht mehr auf einen Punkt konzentrieren zu können. Sie war kurz davor, zu hyperventilieren.
Ohnmächtig ist sie wenigstens still, dachte sich Cassius und versetzte ihr voller Genuss den letzten Schlag. Weit riss er sein Maul auf und stieß ein kräftiges Brüllen aus. Sogleich sank die junge Frau wie ein nasser Sack auf dem Boden zusammen.
Rasch drückte Cassius den Hörer wieder an sein Ohr. Er war immer noch in der Leitung.

„Ich warte nicht gerne.“, schnarrte die Stimme des Meister durch den Hörer. Cassius schluckte schwer.
„Ich wurde kurz abgelenkt.“ Cassius warf der am Boden liegenden Frau einen vernichtenden Blick zu, ehe er sich mit schnellen Schritten entfernte.
„Zu Feiern und sich mit betrunken Frauen abzugeben war nicht Teil des Plans.“ Seine Stimme klang kalt und klar und drang direkt in Cassius Körper.
Cassius sank in sich zusammen. Leugnen wäre doch zwecklos.
„Du bist nun seit einer Woche unterwegs und hast noch keinerlei Erfolge zu vermelden. Mir scheint, ich habe den Falschen für diesen Auftrag ausgewählt. Komm zurück, du hast versagt.“
„Nein!“, warf Cassius bestimmt ein. „Ich habe nicht versagt. Ich habe ihn gefunden und ihn getötet, wie Ihr es mir aufgetragen habt.“
Am Ende der anderen Leitung herrschte Stille. Nervös schritt Cassius auf und ab. Gleich würde sein Meister feststellen, dass er ihm Unrecht getan hatte. Er – der Meister- würde sich bei ihm entschuldigen. Ihn mit Freiheit belohnen und mit seinem Vertrauen.
„Du hast versagt.“ Flüsterte der Meister bedrohlich leise. „Der Baum ist noch immer dort, erste Knospen treiben bereits aus seinen Zweigen.“
„Das ist nicht möglich, ich habe ihn doch selbst angegriffen. Er ist tot!“ Cassius anfänglicher Freude wich tiefe Verzweiflung.
„Der Baum fehlt nicht. Komm zurück. Ich werde einen anderen mit dieser Aufgabe betrauen. Du bist eine Enttäuschung.“
Ein immer wieder kehrendes, monotones Geräusch verkündete das Ende des Gesprächs.
Sprachlos starrte der junge Mann in die Dunkelheit. Er hatte versagt? Aber wie konnte das sein? Er war dem Jungen in den Wald gefolgt, er hatte ihn doch sogar geprüft. Er hatte die Gabe, er war der Gabenträger, den er gesucht hatte. Voll Wut brüllte Cassius auf. Er wurde zurückgerufen wie ein räudiger Köter! Ein anderer sollte nun die Chance auf die Sympathie des Meisters erhalten. Pius vielleicht, der dem Meister selbst den Gehstock hinterher tragen würde, wenn er ihn nicht sowieso immer mit sich führen würde? Levon, der ihn schon immer versuchte, auszustechen?
„Ich habe keinen Fehler gemacht!“ Zornig trat er auf eine Reihe Mülltonnen ein, die mit donnerndem Scheppern zu Boden gingen.
„Ich bin ihm gefolgt. Er ist mit seiner Freundin in den Wald gegangen. Sie haben sich unterhalten und dann war es auch alles schon vorbei.“, rief er sich die Tat wieder und wieder in Erinnerung.
Der Junge war tot, keinen Zweifel. Er hatte keinen Puls mehr, er atmete nicht mehr. Vor seinem inneren Auge sah er dessen blutüberströmtes Gesicht. Das Mädchen war davon gelaufen als die Jaguare kamen. Sicher hatten sie sie noch weiter gejagt und schließlich gefangen.
Cassius lehnte sich kraftlos gegen eine Mauer und starrte auf den schwarzen Asphalt. Als ihm der Gedanke kam, konnte er sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. Es war viel zu absurd, zu unmöglich, als dass es tatsächlich war sein könnte, doch war es die einzige Erklärung. Mochte er seinen Meister auch enttäuscht haben, so war es dennoch nicht sein Fehler gewesen – jeder andere hätte ihn ebenso begangen. Es war nicht der Junge, den er suchte. Cassius Kopf schwirrte. Sie war es.


* * *




Mein Kopf schmerzte und das schrille Zwitschern der Vögel vor meinem Fenster ließ mich aufstöhnen. Das dumpfe Rascheln meiner Bettdecke veranlasste mich dazu, die Augen zu öffnen. Mit seltsam anmutender Eleganz reckte der schwarze Kater seine Glieder und bohrte dabei genüsslich seine Krallen in den weichen Untergrund, ehe er mit zusammengekniffenen Augen das fröhliche Treiben vor dem Fenster beobachtete. Es schien auch ihn geweckt zu haben. Unheilverkündend legte er die Ohren nach hinten und ließ ein bedrohliches Fauchen vernehmen. Doch es störte die Vögel nicht.

Ich dachte zurück an diesen Traum, doch ich konnte ihn nicht deuten. Etwas sagte mir, dass es nicht eine dieser unbedeutenden Illusionen gewesen war, die bereits am nächsten Tag vergessen waren. Noch immer konnte ich mich an die Angst erinnern, die ich bei meiner Flucht gefühlt hatte und Alex Gesicht vor mir sehen, wie er sich von mir abwandte, das Gesicht so verschlossen und ernst und dieses Gefühl, als hätte ich ihn für immer verloren.

Das leise Knarren der Treppenstufen ließ diese Bilder in meinem Kopf in den Hintergrund treten. Mit einem kräftigen Schwung schlug die Tür auf und Granny taumelte schwer schnaufend ins Zimmer. In den Händen hielt sie ein Tablett, auf dem sich allerlei Köstlichkeiten von ihrer ansehnlichsten Seite präsentierten. Hastig stieß sie mit ihrem Ellenbogen Zeitschriften und andere Dinge über den Rand meines Nachttisches in den Abgrund, um sich des Tabletts zu entledigen.
„Hallo, mein Schatz“, keuchte sie und ließ sich kraftlos auf der Bettkante nieder. „Diese Treppen bringen mich noch ins Grab.“
Wie erstarrt blickte ich zu Boden. Neben allerlei Artikeln aus diversen Zeitschriften war auch das Fotoalbum zu Boden gefallen und reckte mir trotzig eines seiner schönsten Aufnahmen entgegen. Es zeigte Alex, Eleanor und mich während des letzten Schulausflugs – einer Wandertour durch den Grand Canyon. Wir hatten uns nicht die Mühe gemacht, für diesen Augenblick, der unvergesslich sein sollte, den Schweiß aus der Stirn zu wischen und so ähnelten wir auf absurde Weise drei Gladiatoren nach überstandenem Kampf in der Arena.

Granny folgte meinem Blick und bereute wohl sofort ihre rabiate Art. Vorsichtig beugte sie sich vor und bettete das Album vorsichtig in ihren Händen.
„Melissa“, begann sie zögernd und ihr Tonfall ließ keinen anderen Schluss zu. Es musste etwas geschehen sein. Nur widerwillig konnte ich den Blick vom Album lösen. Ich wollte es nicht hören.
„Kannst du dich an gestern erinnern? An irgendetwas?“
Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Was meinst du?“
„Ich meine, was passiert ist, nachdem du und ... nachdem ihr in den Wald gegangen seid?“
Nichts. In meiner Erinnerung herrschte Leere. Ich konnte mich daran erinnern, mit Alex in den Wald gegangen zu sein und im nächsten Moment hörte ich Bens und Grannys Stimme, wie sie sich unterhielten. Worüber wusste ich nicht mehr.
Ich sah Grannys flehende Miene und schluckte schwer.
„Was ist passiert?“, brachte ich nur tonlos hervor.
Granny wandte den Kopf ab und für kurze Zeit herrschte unheilvolles Schweigen.
„Granny!“ Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was gab es, dass ihr so schwer fiel, davon zu berichten?
Schwer stieß sie die Luft aus und griff nach meiner Hand.
„Gestern war ein Tier im Wald. Manche haben es aufspüren können, doch es konnte entkommen.“ Es kostete Granny sichtlich Überwindung, fortzufahren.
„Es muss euch überrascht haben. Dich und - Alexander.“ Die Augen voller Tränen richtete sie den Blick auf mich. Sie nannte ihn sonst nie bei seinem vollen Vornamen. Ich bekam Angst.
„Sie konnten ihm nicht mehr helfen.“
Stille.
Es heißt, es gäbe keinen Moment im Leben eines Menschen, indem er nicht denkt – doch genau in diesem Augenblick war da nur Leere. Keine Trauer. Kein Gefühl. Ich hatte jedes einzelne Wort verstanden, doch seine Bedeutungen mussten auf dem Weg zu mir verloren gegangen sein. Es war als sei mein ganzer Körper von einer unüberwindbaren Taubheit gefangen. Keine Taubheit, der ein schmerzhaftes Kribbeln wie in den Beinen vorausging. Da war nichts. Kein Schmerz – und doch wusste ich, dass dies nicht sein sollte. Mein Herz hätte sich zusammenziehen müssen, ich hätte schreien müssen oder still in mich hineinweinen sollen, doch ich tat nichts dergleichen. Unbeholfen strich ich mit dem Zeigefinger über das aufgeschlagene Foto und stellte mir vor, dass er fühlen konnte, wie ich liebevoll die Konturen seines Gesichtes nachzog. Ich stellte mir vor, er würde lächelnd die Augen schließen und seinen Kopf meinem Zeigefinger entgegenstrecken, doch er tat es nicht. Das Bild, das mir zuvor durch so viele Erinnerungen lebendig und wirklich erschienen war, wirkte nun kalt und tot.

Erschrocken zog ich bei diesem Gedanken meine Hand zurück und presste sie schützend vor die Brust. Ich wollte alles um mich herum vergessen, eine Mauer um mich herum errichten, die ihren einzigen Sinn darin haben sollte, mich vor der Realität zu schützen. Ich wollte in eine Welt, in der ich vollkommen alleine war.
Als Granny sich von meinem Bett erhob, legte ich mich, dem Rücken ihr zugewandt, auf die Seite und starrte aus dem Fenster. Ich wollte sie nicht verletzen und doch wusste ich, dass ich genau dies tat, denn sie litt ebenso unter diesem Verlust. Doch dafür hatte ich in diesem Augenblick keinen Sinn. Ich wollte allein sein – um jeden Preis.
Ich hörte wie sie unsicher von einem Fuß auf den anderen trat, ehe sie sich dazu entschloss, zu gehen.
„Wenn du etwas brauchst“, flüsterte sie als hätte sie Angst, durch ihre Stimme die Mauern um mich herum zum Einsturz zu bringen. Zaghaft strich sie mir mit der Hand über die Schulter. Mit starrem Blick ließ ich es über mich ergehen und ich konnte nicht umhin für einen kurzen Moment aus Dankbarkeit die Augen zu schließen, als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.
Und plötzlich war es dort – ein Bild, zu sehen für den Bruchteil einer Sekunde. Beinahe hätte ich es gar nicht wahrgenommen und als an dessen Stelle die Dunkelheit vor meinen Augen zurückkehrte, fragte ich mich unweigerlich, ob es nicht bloß eine Einbildung gewesen war.
Angestrengt dachte ich darüber nach, versuchte es mir so detailliert, wie es mir möglich war, dieses Bild wieder in meinen Kopf zurückzuholen. Es zeigte Alex und mich wie wir im Wald zusammensaßen. An mehr konnte ich mich jedoch nicht erinnern. Wieder und wieder versuchte ich die Situation in meinem Kopf wiederherzustellen, doch es blieb bei dieser wagen Erinnerung und unseren schemenhaften Gesichtern, die keinerlei Gefühl zeigten und die ich beinahe nicht als Alex und meines erkannt hätte.

Links zu anderen Geschichten

Hallo lieber Leser,

schön, dass du dich durch mein Buch geschmökert hast. Ich habe viel Zeit in das gesteckt, was du innerhalb deutlich weniger Zeit gelesen hast. Es würde mich daher freuen, wenn du mir noch 5 Minuten schenken würdest, um mir einen Kommentar zu hinterlassen, damit ich weiß, ob sich meine Arbeit gelohnt hat. Gerne könnt ihr auch Kritik anbringen, denn dafür habe ich dieses Buch ja hier eingestellt.

 

Mein Buch hat dir gefallen? Dann lies doch mal in meine anderen beiden Lieblinge rein und sag mir deine Meinung: (Sie haben bislang auch deutlich weniger Umfang^^)

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Ich habe nie an Gott geglaubt, weder an etwas Übernatürliches, noch etwas Allmächtiges. Ich bin hier, ein Mensch als einer von vielen. Ich bin jung, alles liegt vor mir, alles ist erreichbar, alles wartete nur auf mich.

Leon ist neunzehn, als seine Welt zerbricht. Während sein Herz jedoch alles daran setzt, ihn in der Gegenwart zu halten, entführt ihn sein Geist in den Momenten größter Schmerzen in eine Welt, in der das Leben anderen Gesetzen folgt.


- http://www.bookrix.de/_title-de-sophie-halwas-sonnenwende-1 (Engel)

Mein Name ist Even und ich bin ein Engel.

Mein Name ist Fidor und ich bin ein Engel.

Seit Anbeginn der Zeit existierten wir und haben uns nie um das Dasein der Anderen gekümmert. Unsere Aufgaben erfüllten wir, ohne jemals an ihnen zu zweifeln.
Und so blieb es - bis wir einander trafen.

Impressum

Texte: Alle Rechte bezüglich der Geschichte liegen bei Sophie Halwas.Cover made by smaragdscherben
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der erste Teil der Duplicis-Triologie. Für die, die mich dazu überredet haben, zu träumen.

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