Ich war gespannt. Wie würde er aussehen? Was war er für ein Mensch?
Ich drängelte mich noch ein Stück durch die Wartenden nach vorn und hielt das Pappschild mit der Aufschrift „Hagmann“ so in Richtung des Terminalausgangs, dass man es keinesfalls übersehen konnte.
Als der Strom der Ankömmlinge endlich zu fließen begann, waren einige darunter, denen ich zugetraut hätte, der amerikanische Onkel meiner Freundin zu sein, aber keiner reagierte auf den ausgeschriebenen Namen.
Ich wurde immer unruhiger. Schließlich reihten sich nur noch fünf Personen hinter den gläsernen Wänden, um auszuchecken. Drei davon waren Frauen und ich war mir ziemlich sicher, dass keine davon der Onkel von Cindy sei. Von den beiden verbliebenen Männern passte aber auch keiner ins Bild. Dem einen fehlte das rechte Bein, eine Tatsache, die mir meine Liebste sicher nicht verschwiegen hätte, den anderen schätzte ich auf etwa siebzig Jahre, womit er unmöglich sieben Jahre jünger sein konnte als Cindys Vater, der gerade erst die Fünfzig überschritten hatte.
Ich beschloss, noch ein bisschen zu warten, bevor ich Cindy alarmierte. Schließlich konnte es noch Nachzügler geben.
„Hello.“ Es war der Einbeinige.
„What can I do for you?“ Eigentlich war es mir nicht recht, dass der Kerl mich ansprach. Ich sah nämlich tatsächlich noch einen Mann, der jetzt erst zum Auschecken kam und durchaus die Voraussetzungen mitbrachte, der Erwartete zu sein.
„Zunächst einmal kannst du ruhig Deutsch mit mir sprechen. Ich nehme mal an, du bist Peter.“
„Woher wissen Sie …?“
„Ich bin Tom Hagmann. Cindy hat mir schon viel von dir geschrieben. Na ja, außerdem hältst du ein Schild mit meinem Namen in der Hand.“ Er lachte. Ein fröhliches, aufgeschlossenes Lachen, wie ich es von seiner Nichte kannte.
„Mir hat …“ Ich stockte. „Mir hat sie offenbar einiges verschwiegen“, hatte ich sagen wollen. Stattdessen antwortete ich: „Kann ich Ihnen bei Ihrem Gepäck behilflich sein?“
„Nun mal nicht so förmlich, Junge. Wir sind doch fast schon eine Familie.“ Wieder zeigte er seine gut gepflegten Zähne. „Ich heiße Tom, klar? Und was das Gepäck angeht: Ich habe zwar keine Hand frei“, er hob bekräftigend die linke Krücke an, „aber mein Buckel könnte problemlos noch einen zweiten Rucksack tragen.“
Ich ärgerte mich. Auch noch im Auto. Einerseits über Cindy. Warum hatte sie mir etwas so Wichtiges nicht gesagt? Es wollte mir nicht in den Kopf. Ich meine, ihrem Onkel fehlte ein Bein. Das war nicht gerade alltäglich. Ich hätte das Namensschild gar nicht gebraucht.
Andererseits ärgerte ich mich über mich selbst. Ich hatte mir so fest vorgenommen, von Beginn an einen guten Eindruck bei Herrn Hagmann zu erzeugen. Schließlich konnte es nicht schaden, wenn man beim Onkel der Zukünftigen schon am Beginn einer einwöchigen gemeinsamen Zeit zeigen konnte, dass man der Richtige für seine Nichte war. Vor allem, wenn man wusste, welch innige Zuneigung die Freundin eben für diesen Mann empfand.
Doch statt passender Aufhänger für ein freundliches Gespräch, schwirrte mir nur dieses fehlende Bein im Kopf herum, das mich gar nicht gestört hätte, wäre ich bereits im Vorfeld darüber informiert worden.
„Hey guy, was ist los?“
„Nur das Bein …“ Schon war es passiert! Aus meinen Gedanken gerissen, hatte ich spontan so einen Scheiß geantwortet.
„Was gefällt dir denn an meinem Bein nicht? Sicher, die von Cindy sind um einiges schöner.“ Er haute mir lachend seine Faust gegen den Oberarm.
„Nein, nein, das meinte ich nicht. Es ist nur …“ Ich wusste nicht, wie ich die Situation noch retten sollte.
„Ganz ruhig, Peter. Entspann dich, sprich dich aus.“
Nun war es sowieso egal. „Sie waren im Irak, richtig?“
Hagmann lehnte sich zurück. „Richtig.“
„Ist es dort passiert?“
„Es ist einiges passiert im Irak. Wenig, was für eine entspannte Unterhaltung im Auto taugt. Du musst mir schon genauer sagen, was du wissen willst.“
„Oh bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie müssen mir nichts davon erzählen, wenn Sie nicht wollen.“
„Aber wovon denn nun, mein Junge?“
„Wie Sie Ihr Bein verloren haben.“
„Was hat das mit dem Irak zu tun?“ Er schaute mich auf eine seltsame Art an, so als hätte ich ihn gefragt, warum Zebrastreifen nicht in Herden leben.
„Entschuldigen Sie, ich dachte, es sei vielleicht eine Kriegsverletzung.“
„Nein.“ Er lachte schon wieder. „Der Krieg ist sicher an vielem schuld, doch dafür, dass mein Bein mich verlassen hat, trage ich nur ganz allein die Verantwortung.“
„Aha“, antwortete ich nur und ging davon aus, die eigenartige Formulierung sei ein Schlussstrich unter dem Thema gewesen. Ich suchte nun endlich nach einem unverfänglicheren Gesprächsstoff. „Cindy …“
„Cindy war damals noch gar nicht geboren. Sie kennt mein rechtes Bein gar nicht mehr. Du musst wissen, ich bin Linkshänder. Und auch mein linkes Bein ist mein stärkeres. Oder es wäre es, wenn ich das rechte noch hätte. Nun gab es viele Tätigkeiten, in denen ich auch meine rechte Hand trainieren konnte: das Klavierspiel, zum Beispiel, oder beim Basketball. Auch im alltäglichen Leben entwickelte ich den Ehrgeiz, die rechte Hand zu nutzen, sie regelrecht zu fordern, denn ich wollte nicht der einzige Linkshänder in der Familie sein.“
„Was hat das mit Ihrem Bein zu tun?“
„Siehst du, die Frage hätte ich mir auch früher stellen sollen. Denn mein rechtes Bein beachtete ich kaum. Ich brauchte es nicht und es fiel ja niemandem auf, dass es meinem linken in allem nachstand. Natürlich lief ich darauf, wie es jeder andere Mensch auch tut. Aber wenn es darüber hinaus etwas für ein Bein zu tun gab, nutzte ich nur das linke: Ich schoss damit leere Dosen durch die Gegend, trat damit in unliebsame Hintern, hüpfte, wenn es notwendig oder erwünscht war, auf diesem Bein und probierte auch Schuhe immer nur am entsprechenden Fuß an. Kurz: Ich vernachlässigte das arme rechte Bein vollkommen.“
„Aber, das kann doch noch keine schwerwiegenden Folgen für Sie gehabt haben.“ Ich war ziemlich unbeleckt in medizinischen Belangen. Doch bisher konnte ich mir allerhöchstens vorstellen, dass man die Muskulatur wieder hätte ein wenig aufpäppeln müssen.
„Für mich nicht. Aber für das Bein. Es stand hinten an und fühlte sich offenbar sehr unwohl damit. Schließlich zog ich es inzwischen unbewusst sogar beim Gehen ein bisschen nach.
Es kam, wie es kommen musste: Als ich volljährig wurde, galt das auch für mein Bein. Und eines Nachts beschloss es, zu gehen. Ganz allein. Ohne mich. Wohin auch immer. Es schickte noch eine Abschiedsnachricht ans schläfrige Gehirn und verließ mich. Ich vermisste es nicht einmal gleich nach dem Aufwachen, weil ich schon immer mit dem linken Bein aufgestanden war. Du kannst mir glauben: Als ich es dann bemerkte, lag ich schon auf dem Fußboden!“
Ich starrte ihn an. Sein Blick hatte etwas Wehmütiges. Nur für einen Moment. Dann lachte er wieder.
Ich begann zu verstehen. Eine seltsame, doch erheiternde Art der Verdrängung. Befreiend, irgendwie. Ich stimmte in sein Lachen ein.
Später, als ich die Gelegenheit dazu hatte, schnappte ich mir Cindy, zog sie in die Küche und schloss die Tür.
„Was ist?“
„Wieso hast du mir nichts davon gesagt?“ Diesen Punkt konnte ich noch immer nicht nachvollziehen.
„Wovon?“ Ihr Blick schien ebenso verständnislos, wie es der ihres Onkels im Auto gewesen war.
„Das ihm ein Bein fehlt.“
„Ach so. Da denk ich doch gar nicht mehr drüber nach. Tut mir leid. Aber was hätte das geändert?“
„Ich wäre vorbereitet gewesen.“ Wieso nahm diese Familie nur alles so leicht?
„Worauf hättest du dich denn vorbereiten müssen?“ Cindys Lachen erschreckte mich beinahe.
„Ähm … ich … ich hätte es eben gern gewusst. Findest du das so lustig?“
„Nein, Schatz, natürlich nicht.“ Ihr Versuch, ernsthaft dreinzublicken, wirkte lächerlich.
Ich wartete einen Moment, bis sie sich im Griff hatte. „Weißt du, wie er es verloren hat?“
„Natürlich weiß ich das. Er ist mein Onkel.“
„Dann kannst du mir vielleicht die wahre Geschichte erzählen?“
Cindy zuckte mit den Schultern und nickte.
Ich setzte mich an den Küchentisch.
Cindy setzte sich mir gegenüber. Sie war jetzt vollkommen ernst, nahm meine Hände in die ihren und schenkte mir einen dieser Blicke, die mich vom Beginn unserer Beziehung an überzeugt hatten, in ihr einen Vertrauenspartner fürs Leben zu finden.
„Du musst wissen, mein Onkel ist Linkshänder …“
Texte: Titelillustration: Serp
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
H.H., der lieben Themenerstellerin