Dies ist keine der üblichen Großstadtlegenden, keines der allseits bekannten Gruselmärchen. So unglaublich es klingt: Was ich Ihnen nun erzählen will, ist tatsächlich so geschehen. Es wurde nicht von Generation zu Generation, von Mund zu Ohr weitergetragen. Nichts wurde hinzugedichtet, nichts um der Spannung Willen dramatisiert.
Nein, die Geschichte, die Sie gleich von mir zu hören bekommen, habe ich aus erster Hand, denn sie ist einem Freund von mir in eben dieser Weise geschehen.
Diesem Freund wiederum kann ich vertrauen, als sei ich es selbst gewesen, der mir von den Ereignissen berichtete. Noch dazu ist er ein eiserner Realist und Professor am hiesigen Institut für Naturwissenschaften. Seinen Namen können Sie jederzeit in den dortigen Akten erfahren.
Also, glauben Sie mir ruhig. Alles, was ich Ihnen jetzt wiedergebe, ist die absolute, unzweifelhafte Wahrheit.
Es war ein Dienstagnachmittag, an dem Professor Trug wie an jedem Morgen eines Wochenendes überraschend im Hausflur auf seine Nachbarin traf, als er am Abend aus seiner Neugroßstädter Reihenhausmietwohnung im Villenviertel trat.
„Wer sind Sie denn?“, fragte er, indem er erschreckt den Blick von seiner Fußmatte abwandte und ihn dem Antlitz des verführerischen Wesens entgegenhob. Er bereute die Frage sofort, glaubte er doch, sie rücke ihn bei dieser Schönheit nicht gerade in ein gutes Licht.
Diese jedoch erwiderte die Frage mit einem Lächeln, das den Professor in einen Himmel hob, der noch weit über dem siebten angesiedelt sein musste, und ließ dieser göttlichen Geste eine sinnlich gehauchte Antwort folgen: „Ich bin Ihre neue Nachbarin. Suse Scrofa.“
Unglaublich, werden Sie sagen. Nicht vorstellbar, dass ein hübsches, aber eben doch so junges Ding einen gestandenen Professor derart aus der Fassung bringt.
Nun, hätten Sie das liebliche Wesen selbst gesehen, würde es Ihnen weit weniger seltsam vorkommen, als die schönen Augen, die ein solches weibliches Prachtexemplar ausgerechnet einem zerstreuten, älteren Herrn machte, bei dem es außer hoch aufgetürmten Bergen wissenschaftlicher Arbeiten nicht viel zu holen gab.
Dennoch ist es genau so geschehen und wenn Sie dies erst akzeptiert haben, wird Sie das nun Folgende weit weniger schockieren.
„Freut mich, Frau Scrofa“, stotterte der Professor, derweil er nach einem Thema suchte, das diese Begegnung wenigstens ein bisschen in die Länge ziehen könnte. „Schweinisches Wetter heute, finden Sie nicht?“
Sie können mir glauben, dass mein Freund, der sich gleich, nachdem er realisiert hatte, welches Wort soeben unkontrolliert seinem Munde entfahren war, mit der flachen Hand auf denselben schlug, sich nicht im Mindesten erklären konnte, wie ihm ein derart tierisches Adjektiv, das ihm vorher kaum bekannt gewesen war, überhaupt hatte in den Sinn kommen können. Erstaunter noch war er jedoch darüber, wie ihm geantwortet wurde.
„Ja, da haben Sie recht.“ Suse Scrofa schien das Lächeln nicht schwer zu fallen. „Apropos schweinisch: Haben Sie davon gehört, dass in Großstädten wie unserer immer häufiger Wildschweine gesichtet werden?“
So sehr er sich darüber freute, offensichtlich das richtige Thema angeschnitten zu haben, so schwer fiel dem Professor wiederum die Suche nach einer passenden Antwort. Unsicher schielte er zur Fragestellerin hin, sah sie aufmunternd und geduldig verharren, suchte erneut zwischen seinen Schuhen, etwas abgelenkt durch die schlanken, schwarzen Pumps der Nachbarin, nach den richtigen Worten und fand schließlich ein einzelnes: „Ja.“
„Die Natur erobert sich ihr Territorium zurück.“ Die sinnliche Stimme des Fräuleinwunders schoss die Worte wie eine wohlgezielte Salve ab. „Es heißt sogar, in unserem Neugroßstadt seien die Gärten in den Randbezirken nahezu neu besiedelt.“
Bevor es recht begonnen hatte, wurde unserem Professor das Gespräch ein bisschen ungemütlich, musste er doch an den Schrebergarten seiner Mutter denken, den er demnächst in genau dieser Gegend zu erben gedachte. Ihm drängte sich das Bild eines großen Ebers auf, der ihm noch vorzeitig zu diesem Erbe verhülfe.
„Ja“, sagte er darum erneut, nur um mit den folgenden Sätzen umgehend vom Thema abzulenken. „Da haben Sie also die Nachbarwohnung bekommen. Wie ich hörte, sollen sich recht viele Interessenten gemeldet haben. Schwein gehabt!“ Der arme Professor zuckte zusammen. Nicht nur, dass er sich wieder keinen Reim auf das Schwein machen konnte – ebenso wie es mir gerade nicht gelungen ist -, er fragte sich auch, ob er dieses Glück tatsächlich seiner neuen Nachbarin zuschrieb oder ob er es in Wahrheit nicht für sich selbst beanspruchte.
Frau Scrofa jedenfalls schien ihn richtig verstanden zu haben, indem sie antwortete: „Ja, da haben Sie wirklich Glück gehabt.“
Nun bindet er uns einen Bären auf, werden Sie sagen, falls Sie nicht nur noch an Schweine denken können. Eine Frau, derartig gut aussehend und doch so intelligent? Das sei doch nun wirklich eine Legende, die aus unerfindlichen Gründen nicht auszusterben scheine. Doch sehen Sie: Ist nicht Frau Scrofa der lebende Beweis, dass in jeder noch so verspotteten Legende ein wahrer Kern steckt? Lehnen Sie sich also wieder zurück und schauen Sie, was diese unglaubliche Person weiter zu sagen hatte.
„Wo wir gerade von Schweinen reden“, setzte diese nämlich fort, „denken Sie nicht auch, es sei das Recht dieser Tiere, sich zurückzuholen, was einst ihnen gehörte?“
„Ähm …“ Professor Trug begann sich hier und dort zu kratzen. „Wie geht es denn Ihrem Mann und den kleinen Ferkeln?“
Bevor er sich überhaupt seines Versprechers bewusst wurde, entgegnete die Nachbarin ungerührt: „Ich bin unverheiratet.“
„Ah, gut“, sagte Trug, dem nicht nur das unnatürliche Naturthema unangenehm gewesen war, beschäftigte er sich damit doch lieber auf einer wissenschaftlich unemotionalen Ebene, sondern dem die Rechte der wilden Schweine auch herzlich gleichgültig waren. Er war also froh, diesen neuen und gänzlich unverfänglichen Weg einschlagen zu können und fuhr guten Mutes fort: „Auch ich lebe allein. Wenn Sie mich also mal besuchen wollen, ich bin ein guter Gastgeber. Es gibt ja Tage, an denen man nicht allein bleiben möchte. Weihnachten, Ostern, Geburtstag, Namenstag, Wochenenden …“
„Gern. Wenn es Ihnen keine Umstände macht.“
„Das Schwein möchte ich sehen, dem Sie Umstände …“ Professor Trug brach ab, obgleich er sich beinahe an seine neue Ausdrucksweise gewöhnt hatte.
Auch ich werde an dieser Stelle ein letztes Mal unterbrechen und einen Schritt zur Seite treten. Denn leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich dieses schier unfassbare Gespräch hier dem Ende zuneigte. Und obwohl dieses Ende weit unspektakulärer ist, als man es nach dem Beginn eigentlich erwarten müsste, will ich es Ihnen nicht vorenthalten und gänzlich bei der Wahrheit bleiben, selbst wenn ich Sie nun enttäuschen sollte.
„Wie steht es denn um Ihre Kochkünste?“, fragte Suse Scrofa.
Ihr nicht enden wollendes Lächeln, ließ Trug seine vorhergehende Dreistigkeit vergessen. „Ich zaubere Ihnen einen vorzüglichen Schweinebraten.“
„Ihr Schuh ist auf.“
Der Professor schaute nach unten. Das hätte er nicht tun sollen!
In den 23,27 Sekunden, in denen er sich äußerst gewissenhaft davon überzeugte, dass sich nicht eine einzige seiner beiden Schnürsenkelschleifen, denen er immer besondere Aufmerksamkeit schenkte, gelöst hatte, entschied sich sein Schicksal zu seinen Ungunsten. Eigentlich hatte es sich längst entschieden, aber er hätte sich wenigstens besser darauf vorbereiten können.
Als er nämlich wieder aufschaute, starrte er auf die borstig behaarte Schnauze eines Wildschweins, allerdings erst nachdem sein Blick über die schwarzen Pumps, die so gar nicht zu dem Paarhufer passen wollten, über die aufrecht stehenden Hinterläufe und den muskulösen Körper der Wersau gewandert war.
Wohin ist nur dieses liebliche Lächeln verschwunden, fragte sich der Professor, dem die Hauer in dem breiten Grinsen seines Gegenübers weit weniger behagten. „Bestehen Sie auf die Einladung? Wenn Ihnen der Braten nicht recht ist, könnte ich auch …“
Suse Scrofa grunzte nur. Was hätte man von einem Schwein auch anderes erwarten sollen? Sie drängte allerdings den armen Professor gleichzeitig Stück für Stück in seine Wohnung zurück, so als könne ihr das erste Rendezvous gar nicht schnell genug stattfinden.
„Ich müsste allerdings erst einkaufen gehen“, erinnerte sich Herr Trug, indem er vergeblich versuchte, der Wersau zu entschlüpfen. „Und dann warten da noch einige Studenten auf mich.“ In gewisser Weise beeindruckte ihn die natürliche Unnachgiebigkeit Frau Scrofas. „Warum ich? Warum müssen Sie mit Ihrer Eroberung ausgerechnet bei mir anfangen?“
Für einen Moment stutzte die Wersau, so als sei ihr selbst nicht klar, warum sie ihren Feldzug gerade im dritten Stock eines Reihenhauses im Villenviertel von Neugroßstadt begonnen hatte. Dann zuckte sie mit den Schultern und - ganz untypisch für eine Wersau - antwortete: „Neben Ihnen war eine Wohnung frei. Das war großes Glück, denn heutzutage bietet doch kein Schwein mehr Wohnraum an.“
Weitere Fragen ließ die rächende Sau nicht mehr zu und unser Professor Trug, dem nun gar Furchtbares widerfuhr, ward fortan nicht mehr gesehen.
So ist es geschehen. Der Professor hat es mir erzählt, bald nachdem er aus dieser Welt schied. Merken Sie sich diesen Bericht gut, bevor die Natur auch Sie zurückerobert.
Texte: Coverfoto: Eduard Kyslynskyy
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2009
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