„Dusch nicht zu lange!“, höre ich dich aus der Ferne.
Doch ich lausche den Tropfen. Sie bilden einen durchsichtigen Vorhang, vom Durchmesser des Brausekopfs sich verbreiternd. Gebrochen durch meinen Körper. Wo sie auf solchen Widerstand treffen, stieben sie in alle Richtungen. Ein feiner Dunstschleier liegt in der Luft. Kristallklare Perlen sitzen in meinen Haaren, hocken auf meinen Schultern, verwandeln sich in kleine Schlangen auf dem Rest meines Körpers. Mit dicken Köpfen und schlanken Leibern. Sie umspielen meine Füße, sammeln sich ein letztes Mal im Becken und stürzen in den Abfluss. Allen Dreck nehmen sie mit sich. Und doch fühle ich mich nicht sauber.
Ich schaue mich in der Enge der Duschkabine um. Sie ist so eng wie das Bad, wie die Wohnung, das Haus, die Stadt. Umflossen bin ich von den reinigenden Tropfen. Von Bächen, Flüssen, Strömen. Umströmt, durchspült, mitgerissen. Ein letzter Blick auf Altbekanntes, dann folge ich dem Wasser in den Abfluss. Die Zehen zuerst. Sie verschwimmen vor meinen Augen, zerfließen. Immer weiter in die Länge gezogen. Immer in Richtung Abfluss. In ihrem unaufhaltsamen Streben ziehen sie den Rest der Füße hinter sich her. Noch stehe ich, während meine Zehen schon stürzen. Doch schon folgen ihnen Füße, Beine, befindet sich der restliche Körper im Fluss. Ich spüre das Wasser in ihm, spüre die Vereinigung mit dem nachfließenden Duschwasser, werde zu Wasser, verliere Farbe, schaue durch mich hindurch. Mein verflüssigter Kopf sammelt sich ein letztes Mal im Becken, stürzt dann in den Abfluss.
Röhrend geht es durch dunkle Tunnel. Ich schwimme nicht. Ich ströme. Fühle nichts als ein Strömen um mich herum. Körperlos. Gleicher unter Gleichen. Immer nur abwärts, immer schneller, vereinige mich mit anderen, werde mehr, Teil einer Vielzahl. Bis ich ausgespieen werde und in einer noch größeren Vielzahl aufgehe. Größer, aber langsamer, kaum noch abwärts, nur noch vorwärts. Sofort nehme ich die Farbe derer an, die hier bereits auf mich warteten. Unrein fühle ich mich, bin nicht mehr nur ich selbst. Grün fühle ich mich – oder braun. Ich schleppe Unrat mit mir, trage Ratten. Ströme nicht mehr, krieche vor mich hin – wie die anderen, die mir gleich, mit denen ich eins bin. Noch immer kein Licht. Stunden lassen mich träge werden, die Trägheit die Stunden zu Tagen.
Schlafend treibe ich dahin, betäubt durch Zeit und Gestank, bis ein Tosen mich weckt und ein Rauschen. Mit den anderen werde ich gestoßen, gepresst, gestaucht und getrieben. Wieder stürze ich vorwärts, erwartet von einem riesigen Rechen, der mir klärend im Wege steht. Schon fühle ich mich leichter. Vom Groben befreit, wird die Reinigung immer feiner. Feinmaschige Siebe durchsieben mich, Sandfänge entsanden mich, Abscheider scheiden mich vom Öl, in Absetzbecken setze ich mich von Sinkstoffen ab, Fällmittel fällen gelösten Dreck aus und lösen mich von ihm. Dann werde ich geimpft und angereichert, mit Schlamm und Sauerstoff, versetzt mit allerlei kleinen putzigen Teufeln, die mich auch vom Feinsten befreien.
Entlassen in den Fluss, fühle ich mich wohl, umspüle sich reckende Pflanzen, verberge schwärmende Fische, trage schwimmende Vögel, erquicke badende Kinder. Wasserräder treibe ich an. Boote und Kähne schleppe ich. Arbeite mich durch die Enge der Ufer. Strebe nur noch nach dem Meer. Dort spüre ich die lebensspendende Frische und weltumfangende Weite, Freiheit in alle Richtungen, einer unter vielen, die mir gleichen, viele, die eins sind und mein Spiegelbild über mir bis zum Horizont. Unser Spiegelbild. Spiegelbild. Bild. Ich drohe zu zerfließen, mich aufzugeben, aufzugehen im Wir.
Da höre ich eine Stimme aus der Ferne. Widerwillig und widerstrebend fließe ich zurück, raus aus der ersehnten Weite des Meeres, durch die Ufer des Flusses, die Becken der Anlage, die Dunkelheit der Kanäle, die Enge der Tunnel. Dann stelle ich die Brause ab.
„Wasser ist teuer!“, höre ich dich, näher als zuvor.
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Texte: Cover: © R.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2008
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