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„Hey, Carsten. Hast du den Text gelesen?“
Carsten zeigte Thomas grinsend einen Vogel. „Hast du sie noch alle? Ich hatte gestern wirklich Besseres zu tun. Und die alte Hempel nimmt mich bestimmt nicht dran.“
„Nee, die scheint gar nicht mehr zu wissen, dass es dich noch gibt“.

Die beiden Jungs betraten lachend den Klassenraum. Gerade rechtzeitig mit der Schulklingel. Sie setzten sich auf ihre Plätze in der hintersten Reihe und schenkten Frau Hempel wenig Beachtung, als sie durch die Tür geradewegs aufs Lehrerpult zustelzte, den Schülern ein gequältes „Guten Morgen“ abrang, während sie schon eifrig in ihrer Tasche nach Kafkas Werken suchte. Mit einem freudigen „Da ist es“ holte sie das Buch hervor, blätterte kurz darin, rückte ihre Brille zurecht und schaute in die Runde.
„Wie kann jemand am frühen Morgen schon so voller Elan sein?“, flüsterte Carsten Thomas zu. Der zuckte nur mit den Schultern.
„Ihr solltet zu heute den Beginn der Erzählung ‚Die Verwandlung’ lesen“, begann Frau Hempel mit ihrer fipsigen Stimme. „Und ihr solltet euch überlegen, wie die Geschichte weiter gehen könnte. Wer will mir denn mal seine Version vorstellen?“
Carsten schaute sich um. Noch war kein Finger oben. Selbst die Streber wussten, dass man einen Moment verstreichen lassen musste, bevor man sich meldete. Wenn man sich denn überhaupt meldete. Vermutlich würde Sabine die erste sein.

„Was machst du denn da?“ Thomas stieß ihm von rechts in die Seite. Carsten wollte sich schon wehren, aber sein Arm stand ihm nicht zur Verfügung. Verwundert beobachtete er, wie der sich stattdessen langsam, aber stetig in die Höhe reckte. Carsten versuchte, ihn mit aller Macht wieder auf die Tischplatte zu zwingen, wo der Arm ja eigentlich hingehörte, wenn er nicht irgendetwas Wichtiges unter dem Tisch zu tun hatte. Doch selbst als er seine linke Hand zur Hilfe nahm – was ziemlich grotesk aussah –, ließ sich seine rechte nicht aufhalten. Mit offenem Mund starrte Carsten den aufstrebenden Arm an. Als die dazugehörige Hand fast den Zenit erreicht hatte, spürte er wieder einen Stoß in der Seite. Thomas zeigte nach vorn. Dort wartete Frau Hempel.
„Carsten, selbst noch ein bisschen überrascht, wie? Ich muss zugeben, auch ich hätte wohl am wenigsten mit dir gerechnet. Aber wenn du dich schon mal freiwillig meldest, bin ich doch gespannt, was du uns zu sagen hast.“
Carstens Arm fiel zurück auf die Tischplatte. „Ich ... äh ... ich wollte gar nicht ... Äh, entschuldigen Sie, Frau Hempel, ich wollte nur fragen, ob ich mal aufs Klo könnte.“
Die ganze Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Nur Frau Hempel lachte nicht. Sie lief knallrot an und ihre Stimme bebte, als sie antwortete: „Das ist wirklich ein starkes Stück. Das ist doch reine Schikane, der Unterricht hat gerade erst begonnen. Geh schon, dann bin ich dich wenigstens für einen Moment los.“

Carsten saß auf dem heruntergeklappten Klodeckel. Das war noch mal glimpflich ausgegangen. Er ließ sich Zeit. Besonders scharf darauf, wieder in den Unterricht zu kommen, war er ohnehin nicht. Außerdem misstraute er seinem Arm.
Trotzdem musste er, kaum zurück, wieder aufs Klo. Er hatte sich noch gar nicht ganz hingesetzt, als sein Arm auf Frau Hempels Frage nach dem nächsten Freiwilligen reagierte und die dazugehörige Hand sogar heftig zu schnipsen begann. Carsten entschuldigte sich mit Durchfall. Das half ihm auch über die nächsten Unterrichtsstunden, in denen sein ehrgeiziger Arm keine Gelegenheit ausließ, seinen weit weniger ehrgeizigen Besitzer zu blamieren, der deshalb mehr als die Hälfte des Schultages auf dem zugeklappten Klodeckel verbrachte – einmal nutzte er allerdings die Gelegenheit und klappte ihn auf.

Endlich zu Hause hielt sein meldesüchtiger Arm noch immer nicht still, was dafür sorgte, dass Carsten einen äußerst arbeitsreichen Nachmittag mit Abwaschen, Müll rausbringen, Einkaufen und Treppewischen verbrachte, während seine Schwester vorm Fernseher auf der faulen Haut lag. Immerhin spendierte ihm seine Mutter dafür einen Fünfer, was er aber für einen mageren Stundenlohn hielt. Doch jetzt hatte er wichtigere Probleme. Er konnte am nächsten Tag, wenn Frau Hempel nach den Interpretationen fragte, nicht wieder ständig aufs Klo rennen. Er würde wohl ein bisschen Kafka lesen müssen.

Diesen Gregor Samsa hatte es noch schlimmer erwischt als ihn. Er war als riesiger Käfer aufgewacht, was einen geltungsbedürftigen Arm noch bei Weitem übertraf. Das machte die Geschichte für ihn ziemlich spannend. Er konnte Gregor gut verstehen und schrieb sich die Finger wund.

„Nun, wer will mir seine Gedanken zur ‚Verwandlung’ vortragen?“
Nichts geschah. Carsten stierte auf seinen Arm, doch der regte sich nicht. „Na los, komm schon“, raunte er ihm zu.
Der Arm lag unschuldig auf der Tischplatte. Carsten hob ihn probeweise ein Stück an. Der Arm fiel wieder zurück.
„Willst du mich verarschen? Wozu hab ich mir die ganze Mühe gemacht, wenn du mich jetzt im Stich lässt? Da, Sabine meldet sich schon. Nicht mit mir!“

Carsten riss den hinterhältigen Arm in die Höhe und brachte seine Finger zum Schnipsen.
„Ja, Carsten, geh schon.“
Gelächter.
„Nein, Frau Hempel, ich will meine Interpretation vorlesen.“
Es wurde ganz still im Raum.

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Texte: Cover: © S. Hoschlaeger / PIXELIO www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2008

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