Als ich vor wenigen Tagen eine Lesung in einem gemütlichen Cafe besuchte, traf ich neben einigen Bekannten und vielen mehr oder weniger Gleichgesinnten auch auf eine Art kleinen Kobold.
Hoch und aufrecht stand er da, der kleine Mann. Er war von schlanker Gestalt, die noch schlanker wirkte, da sie auf Arme und Beine, ja auf sämtliche Gliedmaßen verzichtete. Eine Bewegung war dem seltsamen Wesen daher nur möglich, indem es entweder auf seinem Rumpf langsam oder auch schnell von links nach rechts und umgekehrt pendelte - in dieser Bewegung traf ich ihn an - oder aber ein bis zwei seiner beiden faltigen Gelenke beugte und sich so nach hinten krümmte.
Die Richtung dieser möglichen Verbeugung, die der eitle Kobold aber tunlichst unterließ, machte es schwer zu entscheiden, ob er sich eben einfach so weit nach hinten beugen konnte oder ob er einem doch den Rücken zukehrte, was bedeuten musste, dass sein Gesicht am Hinterkopf angebracht war.
Dieses ausdruckslose Gesicht war kaum als solches zu bezeichnen, denn anders als die meisten mir bekannten Gesichter verfügte es, platziert auf dem haar- und halslosen Schädel, weder über Augen noch über Nase oder Mund. Man hätte behaupten können, die flache Stirn ginge direkt in das Kinn über, wäre ein solches auszumachen gewesen.
Dabei waren diese äußerst schwach ausgeprägten Gesichtszüge das einzig Harte am Kopf des kleinen Kerls - für den ansonsten durchaus die Bezeichnung Weichbirne angebracht schien - denn sie wurden von einer Art natürlichem Helmvisier - freilich ohne Helm - aus durchsichtigem Horn bedeckt.
So merkwürdig sein Äußeres auch erschien, ich war nicht das erste Mal auf einen Vertreter seiner Spezies getroffen. Es gibt sogar, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, wie ich es mir aber auch schon häufig berichten lassen durfte, recht viele seiner Art.
Natürlich treten sie nur selten in solch unverhüllter Form auf. Und gerade zu diesem Anlass empfand ich sein offenes Auftreten als äußerst ungewöhnlich und ebenso unangenehm wie unpassend.
Er stieg nämlich unumwunden und sogleich die Stimme erhebend vor dem versammelten Publikum auf die Lesebühne.
Da er nicht persönlich angekündigt war und sich auch nicht selbst vorstellte, sondern nur den, in dessen Namen er sprach, fragte ich eine Nachbarin im Publikum, ob sie den kleinen Frechdachs näher kenne. Sie verriet mir, sein Name laute Digitus de Monstrare und ich solle nun lieber aufmerksam zuhören, denn von ihm könne man so einiges lernen.
Tatsächlich hing die ehrbare Dame sogleich wieder an Monstrares nicht vorhandenen Lippen und folgte gebannt seiner Rede und den heftigen Seitwärtsbewegungen seines pendelnden Rumpfes.
Die überaus laute Stimme, die unmissverständlich von den Zusammenhängen der Welt sprach, begleitet von diesem hypnotischen Pendeln, hätte vermutlich auch mich schnell in ihren Bann geschlagen, wäre ich nicht mit ganz anderen Erwartungen gekommen. Die Hoffnung auf den Zauber der Literatur hatte mich hierher gezogen. Märchen und Geschichten sollten mich entführen, Gedichten wollte ich lauschen, weinen und lachen, nachdenken und erfahren wollte ich.
Doch was Digitus mir als solches zu verkaufen wünschte, hatte es dem Redner gleichgetan und sein literarisches Gewand abgelegt, um besserzuwissen und zu belehren, drohend fast Moral zu gebieten mit eindringlichen Worten.
Laut war die Stimme. Sie schrie, als wollte sie mit jedem Satz sagen, sie verkünde Erkenntnisse, die neu und zugleich universal seien, weltverstehend und weltbewegend.
Doch mich vermochte des Kobolds Hexerei nicht zu treffen, denn ich fühlte mich nur in einer gar nicht neuen Erkenntnis bestätigt:
Der kleine Kobold, der mir zu Diensten ist, soll, bis auf dieses eine Mal, lieber im Verborgenen arbeiten und sich nicht aller Welt präsentieren.
Vor allem nicht in meinen Geschichten und Gedichten.
Texte: Cover:
© S. Hofschlaeger / rebel / PIXELIO
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist und bleibt meiner lieben Johanna gewidmet, der ich im Schreiben und Veröffentlichen so vieles zu verdanken habe.