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Interview mit dem Musical

 

 Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: das Musical! Tolle Erfolgsbilanz. Was sagen Deine Verwandten dazu? Gönnen sie Dir den Erfolg?"

 

Musical: "Mein Opa – die Oper – hat keinerlei Verständnis für mich … und 'mein Treiben', wie er es nennt. Vulgär, zu poppig, zu wenig Diva. Meine Tante – die Operette – fühlt sich von mir hintergangen; ich stehle ihr die Show. Drängle mich unverschämt vor. Als ob sie mit 'Cats' klarkäme! Sie bekämen bei ihr Sekt in langstieligen Gläsern; ein Katzenkarneval mit Frack, Walzer und Ballett. Strass im Fell."

 

Moderator: "Dein Erfolg ist sensationell. Woraus führst Du das zurück? Man gewinnt den Eindruck, jedes Thema könnte sofort vermusicalisiert werden, wenn es nicht aufpasst. Stichwort: Jukebox-Musical. Her mit den Songs – ab ins Musical mit Euch!"

 

Musical: "Ich kann alles verwerten. Gebt mir alte Romane, drittklassige Filme, verkorkste Lebensläufe, Gemälde ... Jedes Dorf braucht ein Musical-Theater! Ich will die Weltherrschaft!"

 

Moderator: "Solltest Du das nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt bekanntgeben?"

 

Musical: "Ihr seid mir verfallen. Ich verwandle die Welt nach und nach in ein großes Musical. Seid froh, dass nicht mein Opa – die Oper – die Herrschaft an sich gerissen hat, sonst würde jede Begrüßung 7 Minuten dauern; jeder Name wird schmetternd dreimal wiederholt: 'Guuuten Moooooorgen, Signoooooreeee Kaaaaaaaapuuuuchinoooo!' Schlachten werden durch Gesangsduelle entschieden."

 

Moderator: "Klingt doch gut. Eine Welt voller Herzschmerz, Leidenschaft, Intrigen ... Oder haben wir schon diese Version?"

 

Musical: "Ich möchte Euch darüber lieber im Unklaren lassen. Ich plane Adaptionen. 'Die Zauberflöte' als Musical. Mehr Broadway, Hogwarts und Disney. Tamino findet sich in einer mystisch-digitalen Parallelwelt wieder – mit Zauberapps und magischen QR-Codes."

 

Moderator: "Du kommst mir vor wie die unersättliche Pflanze aus 'Der kleine Horrorladen': Audrey II. Sie will Blut, Opfer. Dadurch gedeiht sie."

 

Musical: "Ja, tolle Pflanze. Ich bin auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk. Künste aller Länder, vereinigt Euch! Eine durchchoreografierte Welt! Spektakel, Emotionen, Ohrwürmer."

 

Moderator: "Manche nennen Dich: 'Kunstvoll zusammengeschraubte Showmaschine.'"

 

Musical: "Popularität hat ihren Preis. Manchmal gibt es eben nur eine Pseudo-Handlung. Und Showstopper ist Pflicht. In den Momenten gebe ich wirklich alles. Maximale Wirkung. Mit Kalkül und Gefühl. Spontaner Applaus, jähe Begeisterung. Meine schönsten Momente. Ich sammele so etwas. Emotionale Überwältigung des Publikums – dafür sind sie gekommen."

 

Moderator: "Innehalten; Musik als Unterbrechung von der Handlung. Man hat Zeit zum Reflektieren; die Emotionen toben sich aus – die Notenleiter hoch und runter. Hätte auch Vorteile, wenn man die Musical-Version seines Lebens leben würde."

 

Musical: "Sag ich doch. Singend und tanzend allen Widrigkeiten trotzen. 'Hier steppt der Bär' und 'hier singt der Bär'. Sing Dich frei! Gelingt meinen Protagonisten nicht immer, aber immer öfter. Manchmal höre ich, wie der Vorhang Arien singt. Ist das bedenklich?"

 

Moderator: "Vermutlich Musicalitis. Das Broadway-Syndrom. Man neigt zu Überdramatisierung. Plötzliche Gesangsausbrüche. Alles kann Requisite sein. Besen! Besen! Seid's gewesen. Besen sei nun Mikrofon!"

 

Musical: "Selbst kleinste Anlässe genügen mir mittlerweile. Ich besinge Kaffeeflecken! Ich will anderen meine Choreografie aufzwingen. Straßenlärm verwandle ich im Nu in eine Pop-Ballade. Ich lache in f-Moll. Dein Leben wird effektvoller durch eine Nebelmaschine und eine Windmaschine."

 

Musical führt das vor. Es wird furchtbar neblig im Studio.

 

Moderator: "Wie wichtig ist Dir Show?"

 

Musical: "Ich betrachte das Universum als Show-Baukasten. Man muss sich das Passende raussuchen. Manchen ist das Bühnenbild egal."

 

Moderator: "Könnte man Musical definieren als 'Karaoke mit Lichtshow'?"

 

Musical: "Wie bist Du denn drauf? Ja, manchmal komme ich mir vor wie ein Jongleur mit zu vielen Keulen. Musik, Text, Tanz, Bühne, Kostüm, Dramaturgie, Technik ... Gelegentlich fällt eine Keule runter."

 

Moderator: "Warum bevorzugt der Zeitgeist Dich?"

 

Musical: "Die Oper erzählt Geschichten von Göttern, Königen und Menschen, die sterben müssen, um ihre Liebe zu beweisen. Ich erzähle Geschichten von Menschen, die lernen müssen, ihre Miete zu bezahlen. Alles eine Nummer kleiner. Die Operette erzählt Geschichten von Menschen, die zu reich sind, um echte Probleme zu haben, aber zu charmant, um langweilig zu sein."

 

Moderator: "Jede Emotion auf Maximum drehen – das ist der Dreh der Oper. Was ist Deine Masche?"

 

Musical: "Gefühle gehören ins Rampenlicht. Ich setze auf Transformation: Der Zweifel wird zum Stepptanz. Emotion in Bewegung übersetzen. Was die Stimme beginnt, vollendet die Bewegung. Tanzen als innere Zustandsbeschreibung. Meine Songs haben was Therapeutisches: gesungene Selbstgespräche. Auch ohne Opernglas oder Abendgarderobe bist Du dabei!"

 

Moderator: "Faszinierend. Manchmal kommt man sich vor wie am Off-Off-Broadway. Man hat Zeit für Experimente, man testet was ... Ein Labor für neue Ideen; da gärt was. Weniger Erfolgsdruck – die Kreativität kommt auf verrückte Ideen. Ein Akkordeon als Orchester. Das Prequel zur späteren Vermarktung. Zeit zum Reifen, auch wenn es Käse ist. Der Investor sitzt einem nicht so im Nacken. Stattdessen hat der Schalk da ausreichend Platz. Nähe zum Publikum."

 

Musical: "Dein Stück spielt in einer Gedankenwelt? Perfekt. Wir haben eh kein Bühnenbild. Off-Off-Broadway – ideal für zaghafte Gehversuche: der Laufstall für Künstler. Gibt es Standing Ovations oder Stirnrunzeln? Ungewiss. Impro-Fortsetzungen im Foyer."

 

Moderator: "Hast Du Sorge, dass Dir der Stoff ausgeht?"

 

Musical: "Guten Stoff bekomm ich überall. Ich kann ein Lied singen von seltsamen Dingen. Nicht nötig, mir das auf dem Silbertablett zu servieren."

 

Moderator: "Björn Ulvaeus meint: 'Mamma Mia! ist ein Musical, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es geschrieben haben!' – Kommt es auf die Sichtweise an: Die Dinge verbinden zu einem Musical – ob sie wollen oder nicht?"

 

Musical: "Ich bin perfekt für die Unperferfekten: Man muss kein Star-Tenor sein, um bei mir mitmachen zu können. Singe, wem kein Gesang gegeben. 'Deines vollen Herzens Triebe, gib sie keck im Klange frei!'"

 

Moderator: "Ist Broadway der richtige Weg? 'Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt.'"

 

Musical: "Aber verdammt gute Musik! Und breite Unterstützung ist mir wichtig."

 

Der Moderator fordert das Publikum auf, zu klatschen. 

 

Musical: "Dünner Applaus. Besser als Applaus aus der Konserve."

 

Moderator: "Muss es bei Dir live sein? Was ist mit Filmmusicals? Für überquellende Gefühle gilt: Das Singen ist die Fortsetzung des Sprechens mit anderen Mitteln? Eine cineastische Steigerung, die man sich im Alltag nicht gestattet."

 

Musical: "Bühnenmusical, Filmmusical, Serien mit Musicalfolgen – es wird mehr denn je gemusicalt. Musicalversionen von allem! Ohrwürmer für alle! Jeder bekommt seine musikalische Bühne. – Könnte ich jetzt etwas von dem Konservenjubel haben?"

 

Moderator: "Einmal Beifall auf Knopfdruck. – Kommt es vor, dass die Handlung nur Vorwand für Songs ist? Es gibt da so Gerüchte."

 

Musical: "Soll vorgekommen sein."

 

Moderator: "Vielen Dank fürs Gespräch. Möchtest Du noch jemanden grüßen?"

 

Musical: "Ja, klar. Die Revue, das Tanztheater, den Poetry-Slam, das Kabarett ... Ich danke dem Rampenlicht und dem Vorhang!"

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.07.2025

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