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Interview mit dem Erfolg

Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: der Erfolg! Sind Deine Auftritte immer folgenschwer? Was bewirkst Du?"

 

Erfolg: "In erster Linie geht es wohl darum, den Misserfolg fernzuhalten. Du hast ihn doch nicht etwa eingeladen?"

 

Erfolg sieht sich misstrauisch um.

 

Moderator: "Entwickelt man bei all dem Erfolgsdruck nicht Paranoia?"

 

Erfolg: "Und wenn schon? Ein kleiner Preis für Ruhm, Anerkennung, Ehre ... Ich habe hier ein paar der Auszeichnungen und Orden mitgebracht. Willst Du welche?"

 

Moderator: "Sind Erfolge immer folgerichtig? Sei ehrlich, wie viel Glück ist im Spiel?"

 

Erfolg: "Mein neues Buch handelt von den verrücktesten Erfolgsstorys. Mit dem richtigen Mindset kommst Du überall hin. Es sei denn, der Misserfolg hat einen seiner Gastauftritte."

 

Moderator: "Gibt es Erfolgsformeln? Einfach kopieren?"

 

Erfolg: "Ja; im Grunde bin ich simpel gestrickt. Bei der Gelegenheit muss ich einräumen, dass ich einen hohen Preis verlange. Mir kommt entgegen, dass Ihr es hasst, erfolglos zu sein. Ihr findet letztlich immer wieder zu mir zurück. Eine Hassliebe – aber das ist okay. Jede Menge Pyrrhussiege dabei. Ihr habt aus mir eine Religion gemacht – gefällt mir. Der Coach als Erfolgsapostel. Die Couch als Erfolgsapostel des Misserfolgs. Ständige Selbstoptimierung. Ineffizienz als Todsünde. Wobei: Mit dem richtigen Mindset ist auch eine Riesendummheit oder eine Riesenblamage sehr gut zu vermarkten. Scheitern als Geschäftsmodell; es wird zum Teil der Heldenerzählung. Pechsträhnen profitabel machen. Aus der Sackgasse wird ein 'Learning'. Ein bisschen Pathos dazu ... Das Scheitern stolz präsentieren wie einen Pokal mit Delle."

 

Moderator: "Bevorzugst Du die Optimisten? Die Workaholics? Muss man authentisch sein?"

 

Erfolg: "Es gefällt mir, wenn Ihr Euch vergleicht. Ständige Unzufriedenheit als Antrieb. Teilerfolge als kleiner Kick für zwischendurch. Ihr bleibt am Ball. Hustle Culture – wenn die To-dos gar kein Ende nehmen. To-dos bis zum Tod. So gefallt Ihr mir! Gedränge um mich. Hocheffiziente Selbstausbeutung. Grind Culture. Ackern – und hoffen, dass einem diesmal nichts die Ernte verhagelt."

 

Moderator: "Wer gibt die Ziele vor? Was, wenn man schlicht und ergreifend vergessen hat, sich Ziele zu setzen?"

 

Erfolg: "Da bring ich die Deadline ins Spiel. Torschlusspanik. Man muss was erledigen, sonst ist man erledigt. Damit kriege ich sie alle. Mein Favorit: die Bucket List. Die List der Liste. Jede Menge Pflichtveranstaltungen."

 

Moderator: "Wobei Motivation nicht alles ist. Es ist die Startposition, aber man muss auch wirklich losrennen, aktiv werden. Hier kommt die Volition ins Spiel, das ist ihr Tätigkeitsfeld. Was ist das genaue Ziel, welche Hürden gibt es, kann man das Ziel in Teilziele zerlegen? Die Volition trainieren. Für ein Mehr an Volition sorgen. Durchhalten. Volition ist Umsetzungskompetenz."

 

Erfolg: "Ja, ihr verdank ich viel. Automatismen, Gewohnheiten nutzen. Voluntas heißt Wille.  Es darf nicht beim bloßen Entschluss und Wunsch bleiben. Kommt in die Gänge! Es wird spannend durch innere und äußere Widerstände. Ihr braucht Gedanken, die Euch elektrisieren."

 

Moderator: "Kopieren statt kapieren: Erfolgskonzepte übernehmen. Glück von der Stange. Erfolg ist im Anzug. Muss es der Maßanzug sein?"

 

Erfolg: "Maßlosigkeit ist ein guter Anfang. Maßlos enttäuscht sein von sich – der Erfolgsdruck steigt. Ruhelos sein, sich bedeutungslos fühlen: Damit kann ich arbeiten."

 

Moderator: "Antriebslos durch die Nacht – uns fehlt die Orientierung. Dem Erfolg ausweichen – anspruchslos und bedürfnislos sein?"

 

Erfolg: "Dann könnte ich meinen Laden dichtmachen. Meinen Kunden fehlt etwas – und ich tue so, als ob ich genau das Passende für sie dahätte. Ich verkaufe Makellosigkeit, Tadellosigkeit. Und als Zugabe: den Flow. Deine Fähigkeiten wachsen mit den Herausforderungen. Ich führe Euch auf neue Level. In das gelobte Land."

 

Moderator: "Ist Selbststeuerung wichtig? Man muss sich ja selber oft austricksen. Gibt es einen Ersatz für Selbstdisziplin?"

 

Erfolg: "Flow kommt fast ganz ohne Disziplin aus. Man liebt mich, man ist eins mit dem Ziel. Mühelose Mühe. Oder man setzt auf den Druck von außen. Wie eine Gussform, eine Pressform. Man suche sich die geeignete Gussform aus. Ein Charakter wie aus einem Guss. Autoritäre Erziehung setzt auf dieses Verfahren."

 

Moderator: "Umgebung formt den Charakter. Klingt simpel. Die Umgebung die Hauptarbeit machen lassen. Die übernimmt das für einen. Ideal für Mitläufer. Ein Werkstück des Zeitgeistes sein."

 

Erfolg: "Wem Pläne nicht so liegen, für den habe ich auch was: Improvisieren. Sich auf sein Charisma verlassen; spontan sein. Rampensau sein – aber meistens interessiert es keine Sau. Nennen wir es 'Situationsintelligenz' – oder 'Bluffen mit ungewissem Ausgang'. Geistesblitze bis zum Donnerwetter."

 

Moderator: "Wie steht es mit Lifehacks? Rumtricksen. Das Leben, die Arbeit, das Lernen zum Spiel machen: Gamification."

 

Erfolg: "Alle Wege führen nach Rom – und seltsame Wege führen zu mir. Fangt mit Mikrogewohnheiten an, Mini-Etappen – und am Wegesrand stehen Mini-Belohnungen für Euch. Verwandelt monotone Aufgaben in eine tolle Quest. Es gibt Highscores, Fortschrittsbalken, Ranglisten. Das Gamifizieren, Spielifizieren kann die ganze Gesellschaft infizieren!"

 

Moderator: "Und das ist wünschenswert?"

 

Erfolg: "Lernen, wie man sich selbst am besten ausbeutet."

 

Moderator: "Wer sind Deine Feinde?"

 

Erfolg: "Ablenkung, Rückschläge, Zweifel, die Aufschieberitis ... Weitere fallen mir gleich ein. Ich wäre gern erfolgreicher ... Manchmal beneide ich den Misserfolg um seine Sorglosigkeit. Tiefenentspannt in die Apokalypse. Ich könnte das nicht. Ich bin ein Macher; ich will abwenden, verändern, umgestalten. Ich packe an, ich finde mich mit gar nichts ab! Sag ihm das aber bloß nicht! Ich leide an chronischem Perfektionismus. Das Unperfekte ekelt mich an!"

 

Moderator: "Was ist mit Meinungsdruck? Man trägt das Erwartungskostüm von anderen. Es zwickt, es drückt, es lässt einen kaum atmen."

 

Erfolg: "Man kann es sich ja anpassen. Abnäher dran, Saumverkürzung ... Demnächst erscheint meine Autobiografie: 'Geständnisse des Erfolgs – meine gesammelten Versäumnisse'."

 

Moderator: "Wäre man mit einem bequemen Hoodie nicht besser dran?"

 

Erfolg trägt plötzlich statt seines Maßanzugs Jeans und Hoodie.

 

Erfolg: "Ja, ist relaxter. Kreativität erfordert ohnehin eine andere Herangehensweise: Erfolgsorientiertes Denken – so schwer es mir fällt, dies zuzugeben – ist da eher hinderlich. Ludisches Handeln: nicht regel- oder zweckgebunden agieren. Sich den Luxus gönnen und nicht-intentional sein, das Ziel mal außen vor lassen. Die Kreativität nicht verschrecken durch übergroßen Ernst."

 

Moderator: "Treffen, ohne das Ziel anzuvisieren – so in etwa?"

 

Erfolg: "Den Zufall mitspielen lassen, man sperrt ihn ja meist aus. Er hilft der Originalität auf die Sprünge. Plötzlich erntet man Innovationen – hat aber gar nichts Dementsprechendes gesät. Auch wenn sich jemand bei seinem Vortrag viel verspricht, von dem er sich viel verspricht, kann es was Vielversprechendes sein. Wir brauchen mehr Konjunktiv-Künstler und Absichtsakrobaten."

 

Moderator: "Ich danke Dir für das Gespräch. Möchtest Du noch jemanden grüßen?"

 

Erfolg: "Ja, meinen Vater Visionus, meine Mutter Disziplinia, meine Geschwister Ruhm, Reichtum, Erfüllung; dann noch meine Großmutter Ambitiona von Zielstrebigstein, meinen Kollegen Fleiß – und sogar meinen ehemaligen Lehrer Misserfolg!"

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.07.2025

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