Moderator: "Heute zu Gast bei uns im Studio: die Erfahrung! Wie wichtig sind Dir Sprichwörter, kannst Du ihnen noch etwas abgewinnen?"
Erfahrung: "Meiner Erfahrung nach sind sie eine echte Gefahr. Echte Erfahrung wird plattgemacht, niedergewalzt durch Plattitüden. So viele Gemeinplätze, dass kaum noch Platz übrigbleibt für was Neues, Frisches. Schreckliche Satz-Konserven!"
Moderator: "Sie bereichern den Smalltalk. Man hangelt sich von Phrase zu Floskel, bis man bei einem Sprichwort landet, das gut zur Situation passt. Man muss ja nicht Parömiologie betreiben: die Kunde von den Sprichwörtern."
Erfahrung: "Ich bin jedenfalls kein zufriedener Kunde der Sprichwörter-Shops. Was soll das denn für Lebenserfahrung sein?! 'Lachen ist die beste Medizin' – es sei denn, man braucht was aus der Apotheke. Das greift alles zu kurz! Das wirklich wahre Leben braucht was Stärkeres."
Moderator: "Ich bleibe dabei: Binsenweisheiten tun uns gut. Verbergen, wie komplex, chaotisch und seltsam die Welt ist. Wir zitieren das Triviale, umgeben uns mit ihm als eine Art Schutzwall. Sprichwörter versorgen uns mit unserer täglichen Dosis unbegründetem Optimismus. 'Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.'"
Erfahrung: "'Ja, wo ein Wille ist, da ist auch ein Formular. In dreifacher Ausführung. 'Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber er führt in einen Kreisverkehr der Möglichkeiten.' Sprichwörter legen sich nur scheinbar fest; in Wahrheit ist alles voller Schlupflöcher. 'Der Glaube versetzt Berge.' 'Aber wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen.'"
Moderator: "Ja, bei Aktenbergen klappt das auch noch nicht so reibungslos. Da versetzt einen der Glaube."
Erfahrung: "Sprichwörter sind mir zu starr. Weisheiten aus dem Sprüche-Spender. 'Angriff ist die beste Verteidigung' – und man ist mitten drin in der Eskalationsspirale. Sprichwörter haben etwas Teuflisches, Sie umgehen das Denken, sie schleichen sich daran vorbei beziehungsweise gehen schnurstracks vorüber – sie haben einen Passierschein. Sonderbare Gestalten, Worthülsen als Tarnung."
Moderator: "'Gut Ding will Weile haben' – aber wäre eine Deadline nicht hilfreicher? Sprichwörter: ein Fundus an Ausreden. 'Aller Anfang ist schwer' – aber dann wird's richtig kompliziert."
Erfahrung: "Man sollte Sprichwörter kreativ umbauen. Sonst hat man immer die alte Leier. Ich liebe Katachresen: Metaphern-Mischmasch; eine Collage aus sprachlichen Bildern, die sich nicht ausstehen können; Sprachbilder aus Groteskhausen."
Moderator: "'Das ist ein zweigleisiges Schwert.' Sprichwörter sind kein adäquater Ersatz für Weltkenntnis? Man läuft pseudobelehrt herum. Kein wirkliches Erfahrungs-Konzentrat. Aber welche Lebensregeln sollen dann gelten? Mit Katachresen, dem Bildbruch, gelingen einem wohl nur Bruchlandungen?"
Erfahrung: "Ihre Bildhaftigkeit ist vor allem ein Problem. Beifälliges Nicken ist ihnen meist sicher; sobald sie auftreten, gibt es Applaus. Man macht es ihnen zu leicht."
Moderator: "Man kann nicht alle Sprichwörter über einen Kamm scheren?"
Erfahrung: "Hab ich kein Problem mit. Ich finde, alle Sprichwörter sind ergänzungsbedürftig; man darf sie da nicht einfach so stehen lassen. 'Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps' – und Homeoffice ist beides. 'Drum prüfe, wer sich ewig bindet', ob die AGB auch wirklich gelesen wurden. 'Ein Küsschen in Ehren kann niemand verwehren' – Corona schon. 'Einigkeit macht stark' – außer bei Gruppenarbeiten; da ist sich jeder selbst der Nächste. Ich könnte immer so weitermachen."
Moderator: "'Es gibt nichts Gutes, außer man tut es' – oder man kauft es fertig. Stimmt, mit Ergänzungen wird es stimmiger. Sprichwörter als Ausgangsmaterial – als brauchbarer Rohstoff für kleine und größere Philosopheme? Gut verdauliche Philosophie-Brocken. Aber kriegt man damit Intelligenzbestien satt?"
Erfahrung: "'Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird' – außer bei Gerüchten aus der Gerüchteküche: Da wird's noch heißer serviert. Haute Cuisine der Halbwahrheiten. Ja, was taugen Sprichwörter als Baustoff? Wiederverwertung des Baumaterials. Baustoffrecycling betreiben. Wäre das gesundheitsgefährdend? Wäre es zu verantworten?"
Moderator: "Ich finde Sprichwörter ohnehin erbaulich. Sie haben so etwas Tröstliches. 'Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.'"
Erfahrung: "Aber Rom Coms schon: Romantische Komödien. Erfahrung lehrt, dass Menschen das Seichte brauchen, um vor der Tiefe nicht kapitulieren zu müssen. 'Rost frisst Eisen, Sorge den Menschen.' Emotionale Korrosion. Mag sein, dass Sprichwörter so etwas wie eine Schutzschicht sind: seelischer Rostschutz. The show must go on. Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Solche Devisen machen einen reich."
Moderator: "'Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf übermorgen' – dann ist es ein Langzeitprojekt. Mit Sprichwörtern komm ich sehr gut durch den Tag. 'Scherben bringen Glück' – besonders, wenn sie dekorativ verstreut sind: auf Instagram-taugliche Art. Sprichwörter haben Patina. Man sollte es ihnen gleichtun: Patina ansetzen, mit Edelrost geschützt."
Erfahrung: "Man setzt stillschweigend voraus, dass in Sprichwörtern Weisheit steckt. Aber ich behaupte: Sie machen Euch dümmer. Ihr fahrt voll ab auf diese Automatismen – die Gedanken rasen wie auf dem Highway oder der Autobahn. Statt die Nebenstraßen zu nutzen, Altstattgassen, besondere Wege."
Moderator: "Man hat nicht immer Zeit oder Lust zum Nachdenken. Sprichwörter sind willfährig, sie sind bereit, man greift nach ihnen. 'Gleich und Gleich gesellt sich gern' – deshalb sind alle meine Freunde auch pleite. Erkenntnisse am Fließband. 'Fragen kostet nichts' – außer bei Premium-Hotlines. Wieso bleiben Sprichwörter modern? Wie schaffen sie das? Oder holen wir sie immer wieder zwanghaft aus der Mottenkiste raus? Sind sie so etwas wie ein Gedanken-Virus?"
Erfahrung: "Sie wirken nicht antiquiert. Irgendetwas hält sie jung. Sie haben kein Ablaufdatum? 'Glück und Glas, wie leicht bricht das' – aber Glas kann man ersetzen."
Moderator: "'Geteilte Freude ist doppelte Freude' – aber geteilte Pizza ist halbe Pizza. Täglich eine Dosis Sprichwörter. 'Nichts ist unmöglich.' 'Humor ist, wenn man trotzdem lacht.' Man hat mehr Zuversicht, man spricht sich mit Sprichwörtern Mut zu. Schlager funktionieren so ähnlich. Refrains als Mantra. Der frühe Vogel fängt den Ohrwurm."
Erfahrung: "Sprichwörter leiten Euch in die Irre. 'Wer nichts macht, macht nichts falsch' – also perfektes Scheitern durch Inaktivität."
Moderator: "Ich muss Dir leider zustimmen. 'Was uns nicht umbringt, macht uns stark' – sofern es keine Gruppenchats sind, die machen nur mürbe. Sprichwörter sind wie Drogen – man kommt sehr schwer wieder los von ihnen. Als ob sie im Gehirn alle wichtigen Positionen okkupiert haben. Sie haben das Sagen. Sprichwörter verschweigen uns vieles. 'Wer sucht, der findet' – aber oft erst, wenn's keiner mehr braucht. Sprichwörter bleiben auf halber Strecke stehen, aber man denkt, man sei bereits am Ziel. Sie machen uns was vor. 'Übung macht den Meister' – und Wiederholung macht die anderen wahnsinnig. Stichwörter: Blockflöte, Geige. Wiederholung wird zum Lebensstil. Willkommen im Loop des Grauens!"
Erfahrung: "Zurückfinden zu echten, eigenen Erfahrungen. Keine vorgefertigte Gedankenwelt. Nichts fertig Gemixtes. Reim und Versmaß als Spießgesellen der Stichwörter; im Team sind sie noch wirkungsvoller. 'Ohne Fleiß kein Preis.' 'Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.' Sie schleusen sich an der Logik vorbei."
Moderator: "Sprichwörter: Man glaubt an sie, sie haben die Mehrheit hinter sich versammelt, ihre Popularität bewirkt Glaubwürdigkeit. Man führt sie an als Beweis. Überragende Beweiskraft. Man kann sie hervorragend missbrauchen. Keiner misstraut ihnen. Stets dieselbe Formulierung – das ist ihre Erfolgsformel. Eingängigkeit in Perfektion. Diese Bestimmtheit, mit der sie auftreten! Stabreim, Endreim, Binnenreim – sie alle machen mit, beteiligen sich daran! 'Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß' – aber mein Unterbewusstsein schwitzt schon mal prophylaktisch."
Erfahrung: "'Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß' – bis jemand 'Wir müssen reden' sagt, dann glüht das Kopfkino. Ich kenne Eure Erfahrungen. 'Wissen ist Macht' oder Migräne? Durch Sprichwörter seid Ihr gefangen in einem Netz aus Naivität, Selbstschutz und Ignoranz. Man muss Euch daraus befreien! Deswegen habe ich auch ein Buch geschrieben: 'Sprichwörtlich daneben'."
Moderator: "Smalltalk ohne Sprichwörter? Dann fällt doch auf, dass man sich nichts zu sagen hat. Sag es durch die Blume; Stilblüten eignen sich wunderbar dafür. Ab jetzt alles unverblümt?"
Erfahrung: "Das mit den Sprichwörtern wächst mir jedenfalls über den Kopf. Wuchert wie Unkraut! Lieber ein verwelkter Strauß Ehrlichkeit als ein Plastikbouquet aus Phrasen."
Moderator: "Es spielt sich gut auf dem Phrasen-Rasen."
Erfahrung: "Ihr betrachtet und beurteilt mich vom Sprichwörter-Standpunkt. Sprichwörter sollen meine Kritiker sein?! Wie soll ich da aufblühen wie eine Rose im Frühling? Ach, in der Steinzeit hatte ich meine Blütezeit. Ich bin wie eine Primel ohne Primetime. Ich gehe ein wie eine Primel."
Moderator: "Wirst Du jetzt nicht etwas zu melodramatisch? Ich sag ja: 'Ein zu oft gegossener Kaktus geht ein – auch Zuneigung braucht Dosierung.' Wir schätzen Dich; wir können das nicht immer so zeigen. Kein Wunder, dass wir zu den bequemen, schnell verfügbaren Sprichwörtern greifen – Du bist anstrengend, manchmal sogar spröde. Oft ignorierst Du unsere Annäherungsversuche, zeigst uns die kalte Schulter."
Erfahrung: "Ihr kommt mit furchtbaren Experimenten! Was soll ich davon halten? Tests! Laufend diese schrecklichen Tests! Jeder will mir auf den Zahn fühlen – und selten ist ein Zahnarzt dabei! Ich habe es nur mit Laien zu tun, denen man Verstand leihen müsste."
Moderator: "'Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin' – leider gibt sie zuerst die Prüfung, dann den Unterricht. 'Erfahrung ist die Mutter der Weisheit' – aber auch die Schwiegermutter der Verbitterung. Du machst es uns nicht leicht. Sprichwörter sind leichtfüßig, geländegängig."
Erfahrung: "Ich bin keine leichtgeschürzte Muse; lautet so der Verwurf? Ich kann Euch nicht immer entgegenkommen. Ich bin kein Bruder Leichtfuß."
Moderator: "'Erlaubt ist, was gefällt' – solange es nicht piept, explodiert oder juristisch verfolgt wird. Und wenn es 2 Likes in 3 Stunden gibt, hat man etwas richtig gemacht. Das ist heutzutage unsere Bestätigung."
Erfahrung: "'Einmal ist keinmal' – zweimal ist schon ziemlich peinlich. Ihr könntet von mir so viel lernen! 'Fehler sind menschlich' – aber manche sind sogar spektakulär."
Moderator: "Du bist auf Dauer nur zu ertragen mit einem Schuss Zynismus. Ist wie Rum im Tee. Abwarten und Tee trinken, macht so mehr Spaß."
Erfahrung: "Ja, 'Probieren geht über Studieren' – aber Googeln geht über beides. Ihr ersetzt mich durch die digitale Version von mir, Ihr klont mich. Komme mir vor wie ein verlassener Clown. Keiner will mehr etwas mit mir zu tun haben!"
Moderator: "'Probieren geht über Studieren' – deshalb gibt es so viele Kochshows und so wenige Köche. Wir probieren uns aus, wir trauen uns dank Sprichwörtern alles Erdenkliche zu. 'Dem Mutigen gehört die Welt' – aber nur die Hälfte, die andere gehört der Ex-Frau."
Erfahrung: "Ich sage dazu: 'Dem Mutigen gehört die Welt' – aber nur mit Premium-Account. Ihr braucht mittlerweile für alles ein Abo. Immer diese Secondhand-Erfahrungen! Mut zur Lücke – lasst Euch überraschen! Die Welt ist voller herrlicher Fallen; das wird Euch gefallen! In meinem Buch findet Ihr dieses Kapitel: 'Mut, Hoffnung, Wahrheit – die drei, die immer zu spät zur Realität kommen'."
Moderator: "Wir misstrauen Dir. Du bist berüchtigt für Deine paradoxen Wendungen. Wann warst Du zuletzt beim Realitätscheck?"
Erfahrung: "Ihr seid unverbesserliche Idealisten! Die Sprichwörter sind nicht Eure Kumpels, sie sind Eure Feinde! Gedankenschleifen mit Geschenkschleifen. Schaut dem geschenkten Gaul endlich ins Maul!"
Moderator: "'Eine gebratene Taube fliegt keinem ins Maul' – Chicken Wings eventuell? 'Wein, Weib und Gesang' – das perfekte Wochenende. Wir feiern die Sprichwörter. Sie liefern uns für alles eine erstklassige Rechtfertigung. Wie ein Anwalt, der Argumentum ad populum verwendet – Berufung auf das Volk: Etwas gilt als wahr, weil die Mehrheit es für wahr hält. Die Mehrheit als Autorität. Was soll da schon schiefgehen?"
Erfahrung: "Das nähert sich dem Faktoid an: durch häufige Wiederholung werden Fakes zu Fakten aufgewertet. Status: Truthiness – gefühlte Wahrheit. Ein Zeitalter, das ohne Beweise auskommt. Ihr braucht mich nicht mehr! Der gesunde Menschenverstand hat sein Stimmrecht auf Sprichwörter und Truthiness übertragen! Ihr lasst rhetorische Automatismen ans Steuer?"
Moderator: "Man gönnt sich ja sonst nichts. 'Undank ist der Welt Lohn' – und er wird sogar pünktlich ausgezahlt; und manchmal gibt es Bonuszahlungen. Ich finde, wir sind gut dran mit Sprichwörtern."
Erfahrung: "Beschränkt Euch zumindest auf Fußballweisheiten. Wer nicht kämpft, hat schon verloren – wer zu viel kämpft, ist gesperrt. Ein Spiel dauert 90 Minuten – plus Nachspielzeit, plus Halbzeitpause, plus Elfmeterschießen, plus Videobeweis-Warterei. Man sieht nur mit dem Herzen gut – aber der Schiedsrichter sieht mit dem VAR besser."
Moderator: "Mit welcher Floskel darf ich Dich verabschieden? Vielleicht: Tschüss – und denk dran, was in Vegas passiert, bleibt in Vegas, aber was auf Social Media passiert, ist für die Ewigkeit?"
Erfahrung: "Ich nutze in letzter Zeit vermehrt Noise-Cancelling Kopfhörer; damit hält man es einigermaßen aus. Es sind nicht die hellsten Kerzen, die am lautesten schreien. Aber schön, dass wir uns reinen Tisch eingeschenkt haben. Katachresen machen Sprichwörtern den Garaus. Ihnen zeigen, wo die Harke hängt. Die sollen auf keinen grünen Nenner mehr kommen!"
Moderator: "Ein prima Interview. Das lief wie geschmiert auf wackligen Stelzen. Als Katachrese für Fortgeschrittene: Ich will hier keinen Elefanten im Porzellanladen unter den Teppich kehren. Hattest Du genug Redezeit? Wenn Du willst, kannst Du unserem Publikum drei Kapitel aus Deinem Buch vorlesen. Wir haben sie sicherheitshalber mit ihren Stühlen verleimt."
Erfahrung: "Auch mit Reimen kann man gut leimen. Na, dann mal los!"
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2025
Alle Rechte vorbehalten