Aufbruchsstimmung ist ungefähr genauso schlimm wie Reiselust. Es überfällt einen; selbst der überzeugteste Phlegmatiker wird unversehens mitgerissen von dieser starken Emotionswelle. Seit Tagen murmele ich Sätze wie: "Vielleicht könnte man ja ...?" – "Irgendwas muss sich ändern." – "So kann es nicht weitergehen."
Ich habe vermutlich zu viel Lethargie angesammelt – ich stelle mir das vor wie Staub auf dem Gemüt: Großreinemachen ... Aber ich warte auf ein Aufbruchssignal. Ist es ein Blinksignal? Muss man das womöglich selber geben? Meine Couch signalisiert mir: "Innehalten!"
Müsste man bei so einem Aufbruch nicht enthusiastischer sein? Die grundlose Euphorie aller Frohnaturen. In meiner Umgebung sind phänomenale Prokrastinateure. Wie ein Sog in die Tiefe. Das mentale Betriebssystem ist veraltet, ein Software-Update wäre nett. Den Status quo herausfordern – aber wo ist der zugehörige Plan?
Das Morgen lediglich eine Coverversion des Gestern? Yesterday ist das am häufigsten gecoverte Lied. Dicht gefolgt von George Gershwins Summertime. Aufbruchsstimmung im Sommer? Viel zu heiß.
Das Kapitel "Ausreden" aufschlagen. "Das ist ein kreativer Inkubationsprozess." Vulgo: "Denken im Liegen mit Snacks." Habe ich schon meine Allergie gegen To-do-Listen erwähnt? Man soll nichts überstürzen – aber Stagnation verstärkt die innere Unruhe. Man kann das nicht genießen.
Die Optionen wirken wie Auslagen in gut beleuchtenden Schaufenstern. Das Mögliche war schon immer eine starke Motivation. Sich solidarisieren mit der Zuversicht. Die hat ein Abo auf den Optimismus und hat ständig das Gefühl, am Anfang von etwas Großem zu stehen. Die Gegenwart fühlt sich immer ganz arm bei einer dieser Previews der Zukunft. Was die alles anzubieten hat. Das nächste große Ding steht kurz bevor – und man ist gänzlich unvorbereitet. Ein Reparaturset für Träume; ein Reiseführer für das Hier und Jetzt.
Ist Aufbruchsstimmung letztlich etwas Krankes? Etwas, für unruhige Geister. Von der Politik verordnet. Die verramschen das; das muss unter die Leute gebracht werden. Ist den Wählern der Doppel-Wumms wumpe?
Fehlt mir nur Mut? Die Zweifel überstimmen. Oder eine andere Stimmung aussuchen: Konkurrenz beschaffen für die Aufbruchsstimmung. Gegen Stimmungskiller könnte eine Stimmungskanone helfen. Sich passende Philosophen raussuchen, um schnell in eine Weltuntergangsstimmung zu kommen – also im Grunde kommt da fast jeder in Frage. Das Nachdenken über das Sein hat was Betrübliches: Regelmäßig wird alles verworfen, über den Haufen geworfen, was wir uns da zusammengereimt haben. Schon wieder alles falsifiziert. "Dumm wie Brot", steht auf dem Abschlusszeugnis jeder Generation.
Wird man zum Verweigerer des Aufbruchs? Nicht, weil man das Hier und Jetzt so genial findet, sondern weil schon das Wort "Aufbruchsstimmung" suggeriert, dass es nur besser werden kann. Das Wort lügt, es ist ein Blender, es versteht sich auf die Wünsche seines Publikums. Es gibt kein Rückgaberecht für misslungene Tage.
Aufbruchsstimmung wird inszeniert: Die Masse soll sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Die Hoffnung im Geschwindigkeitsrausch; den Verstand nehmen wir bei solchen waghalsigen Unternehmungen lieber gar nicht mit. Man hört, wie die Zukunft einem was Verheißungsvolles zuraunt. Bei diesem Goldrausch will man dabei sein, man will mitmachen. Eine Stampede, die sich als Aufbruch tarnt.
Aufbruchsstimmung – klingt nach Abenteuer. Sie ist wie Parfum – sie verflüchtigt sich ... Sie betört vor allem im ersten Augenblick. Schon erkennt der Prokrastinateur seine Chance: "Morgen ist auch noch ein guter Tag zum Neuanfang!" Man spürt sie – die Aufbruchsstimmung ist immer sehr präsent, aufdringlich, fordernd. Sie will etwas, sie zerrt an einem; es soll losgehen; warum zögert man? Sie hasst Zauderer, da verpufft ihre Wirkung im Nu.
Sie kreuzt sogar höchstpersönlich auf, wenn man sie allzu stark kritisiert. Plötzlich steht die Aufbruchsstimmung vor einem, sie will wissen, was man an ihr auszusetzen habe. Sie wirkt geknickt. "Überall habe ich Fans. Was stimmt nicht mit Dir?", will sie von mir wissen.
Ich beschließe, nicht zu antworten, da es vermutlich nur ein zu intensiver Tagtraum ist.
"So kommst Du mir nicht davon! Erst mich grundlos runtermachen – nur weil Du zu feige für Veränderungen bist, und dann kneifen." Sie kneift mich. Wohl um mir zu beweisen, dass ich wach bin.
Irgendetwas in mir schreit: "Abbruch! Abbruch!" Nicht gut, wenn die Fantasie dahinschießt wie ein Wildbach in der Regenzeit. "Die Zukunft wird fantastisch – glaub mir. Du musst nur meinen Anweisungen folgen."
Soll ich ihr Vorhaltungen machen, sie auf all ihre vergangenen Irrtümer ansprechen? Nicht nötig, sie liest meine Gedanken in Rekordzeit. Sie ist meinen Gedanken sogar schon voraus.
"Ja, ich verspreche viel. Ich existiere vor allem im Konjunktiv. Könnte, sollte, müsste ... Aber es liegt an Dir, all das zu verwandeln in was Echtes."
"Keine Lust!", sage ich trotzig. Man sollte nicht zu lange über Abstrakta nachdenken, die verwandeln sich urplötzlich in Konkreta.
"Ihr braucht Dinge wie den Goldrausch; der Traum von der Lottomillion; das Utopische. Ich liefere es Euch zu günstigen Preisen. Es kostet lediglich den Verstand, wenn man sich ganz auf mich einlässt. Willst Du das ganze Paket?"
Ich mache wilde Handbewegungen. Es muss doch möglich sein, sie zurückzubannen in ihre vorige Form. "Sei wieder ein Geist!", beschwöre ich sie.
"Hör auf mit dem Blödsinn. Du willst doch auch den Aufbruch; jeder will mich; ich bin der Liebling der Massen."
"Versuch Dein Glück bei Glaubens-Junkies. Ich glaub nicht an Wendung und Happy Ends. Nur an jede Menge Plot Holes. Es ist alles Stückwerk. Und einen unzuverlässigen Erzähler habe ich anzubieten."
Die Aufbruchsstimmung sieht enttäuscht aus. Ich habe es fertiggebracht, der Hoffnung die Hoffnung zu nehmen. "Auch ohne Gold hat ein Goldrausch Wert. Man war dabei, man war emotional engagiert, man war raus aus dem Trott, man hat andere Versionen des Ichs erlebt. Ich verkaufe meist nur den Anschein; aber ich hinterlasse Eindruck. Lass Dich von Deiner Unruhe leiten. Sie kennt den Weg. Vertrau ihr; sie führt Dich hinaus. Sonst endet Deine Story auf dem toten Punkt: Das ist der springende Punkt."
Sie klingt überzeugend; außerdem verwirrt mich ihre Rhetorik. "Was ist denn mit der Preview: Was hast Du so in petto? Darf man hinter den Vorhang schauen? Bei jedem Aufbruch bricht man ja mit dem Bisherigen, man verrät es gewissermaßen. Es ist nicht mehr gut genug für einen."
"Ja ich rate zum Überschwang. Schon am Vormittag was Weltbewegendes leisten. Für Newbies und Skeptiker lautet mein Rat: 'Der erste Schritt muss nicht groß sein – nur in eine andere Richtung.'"
"Mich stört Deine Unberechenbarkeit. Es endet meistens ganz anders als gedacht, wenn Du involviert bist."
"Und wenn schon? Chaoten lieben mich. Ich bin amüsant. Selbst der Weg ins Verderben ist gut ausgeschildert: Den Höllenpfad behalte ich auch weiterhin im Angebot – das ist der größte Publikumserfolg. Aber ich habe auch Pegasus als Zugpferd anzubieten. Eine bunte Mischung. Die Halbwertzeit der Begeisterung beträgt meist nur Bruchteile eines Tages. Ich muss schnell sein. Meine Opfer – äh, meine Kunden – überzeugen mit wirklich guten Bluffs. Sonst heißt es: 'Das haben wir doch schon mal versucht'; oder: 'Abwarten und Tee trinken.' Tee als Konkurrent, ich konkurriere mit Tee! Ihr solltet mir den Vorzug geben! Eure Gefühle sind meine Diener, meine Marionetten. Bewahrt Euch Eure Begeisterungsfähigkeit – dann kommen wir ins Geschäft."
"Es ist doch absurd: der Gedanke, die Welt sei veränderbar. Es ist ein Blockuniversum: Determinismus verträgt sich nicht gut mit Gestaltungswillen; kein Gestaltungsspielraum."
"Dann habe ich keine Aufgabe? Das hätte man mir mitteilen müssen! Hier ist nichts mehr stimmig."
Ich spüre ein Triumphgefühl. Das tut meinem Pessimismus allerdings nicht gut. Aufbruchsstimmung macht sich in mir breit. Verdammt!
Sie meint – beinahe entschuldigend: "Ich bin wie die Bank im Casino: Ich gewinne immer."
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2025
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