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Interview mit dem Schweigen

Moderator: "Heute haben wir es mit einem ungewöhnlichen Talkgast zu tun. Vom Naturell her talkt er sehr ungern. Begrüßen Sie mit mir: das Schweigen!"

 

Schweigen räuspert sich.

 

Schweigen: "Sorry, muss mich erst wieder ans Sprechen gewöhnen. – Wo kann ich meinen Mantel hinlegen?"

 

Moderator: "Der berühmte Mantel des Schweigens. Eine Legende. – Häng ihn zum Mantel der Geschichte. Ist ja ein bemerkenswertes Ereignis. Aber bei uns im Studio kommt ja nahezu allem historische Bedeutung zu. Politiker erscheinen hier gerne im Wendemantel. – Ist es gut, sein Schwiegen zu brechen? Hast Du Erfahrung damit?"

 

Schweigen: "Ich bin gerne verschwiegen. Aber Ihr habt mir ein fürstliches Honorar versprochen. Ich packe aus, über was und wen Du willst!"

 

Moderator: "Was hat es mit dem beredten Schweigen auf sich? Wie stellst Du das an? Was muss man dabei beachten?"

 

Schweigen: "Körperhaltung, Gesten, Gesichtsausdruck – es gibt reichlich Ersatz für das Verbale. Schweigen ist bedeutsamer als das Reden. So viel Läppisches ... Die Schweiger gelten als gute Zuhörer – dabei besteht die Kunst darin, verständnisvoll zu nicken ohne dabei einzuschlafen. Beherrschen meine Anhänger beinahe perfekt. Es genügt ja, aufmerksam zu scheinen. Echte Aufmerksamkeit ist nach wie vor ein rares Gut – und eigentlich nur was für wirklich besondere Anlässe. Man streicht stillschweigend den Zuhörerbonus ein – ohne dafür wirklich etwas zu leisten. Ist das genial?"

 

Moderator: "Kommen wir zu Deiner Schattenseite: dem peinlichen Schweigen. Ist dann die Zuflucht zu belanglosen Sätzen okay? 'Ganz schön wetterig heute' – beispielsweise."

 

Schweigen: "Ich habe durch Zufall mein Buch dabei: 'Leitfaden fürs Schweigen'. Darin empfehle ich hervorragende Beispielsätze. 'Glauben Sie, die Farbe Beige weiß, dass sie langweilig ist?'"

 

Moderator: "Und daraus soll sich Smalltalk entwickeln?"

 

Schweigen: "Kontextfreie Äußerungen machen sich immer gut. Darauf lassen sich auch wunderbar philosophische Gespräche aufbauen. 'Ich finde, Regenwürmer haben eine beneidenswert unkomplizierte Lebensphilosophie.'"

 

Moderator: "Verstört man damit seine Mitmenschen nicht?"

 

Schweigen: "Im Grunde ist das Schweigen alternativlos. Es ist energiesparend; man verbirgt auf clevere Art, wie unterbelichtet man sich gerade fühlt. Dort dann wieder einsteigen, wo man mitreden kann. Uninformiertheit verbergen. Manchmal ist man schwer von Kapee. Da springe ich dann ein: Euer Held – das Schweigen!"

 

Moderator: "Mir fällt dazu ein: 'Hättest Du geschwiegen, wärst Du Philosoph geblieben.' Bei Hiob 13,5 steht: 'Wollte Gott, dass Ihr geschwiegen hättet, so wäret Ihr weise geblieben.' – Welche Steigerungsformen des Schweigens gibt es?"

 

Schweigen: "Schweigen wie ein Grab ist stärker als das Schweigen im Walde. Nach einer hitzigen Debatte ist eisiges Schweigen ganz angenehm. Alle Kniffe stehen übrigens auch im meinem Knigge des Schweigens."

 

Moderator: "Die schweigende Mehrheit wirkt meist, als hätte sie ein Schweigegelübde abgelegt. Selbstauferlegt?"

 

Schweigen: "Derzeit sehr im Trend: unpopuläre Meinungen nicht äußern. Die berühmte Schweigespirale. Verschweigen, was man wirklich denkt. Nicht mal ein beredtes Schweigen ist drin. Relevantes totschweigen."

 

Moderator: "Da kommst Du ja ganz auf Deine Kosten."

 

Schweigen: "'Das ist schön, mit jemandem schweigen zu können', meint Kurt Tucholsky. Ich kann ihm da nur zustimmen. Leider macht die Musik mir Konkurrenz. 'Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist", laut Victor Hugo. Sich lautstark anschweigen – ist doch immer wieder schön."

 

Moderator: "Wie würdest Du Dich selbst bezeichnen, charakterisieren?"

 

Schweigen: "Ich bin das Nachwort. Der springende Punkt hinter dem Punkt. Die Pause zwischen zwei Worten. Ich bin der Moment, in dem ein Witz nicht zündet – und alle betreten auf den Boden schauen. Ich bin der Friedhof der Gedanken, die nie ausgesprochen wurden. Totgeschwiegene Meinungen und Fakten kehren zurück als Zombie-Gestalten. Von mir aus könnt Ihr alles mit einem Tabu belegen."

 

Moderator: "All das Ungesagte, was zwischen den Menschen steht: Sollten wir nicht doch mehr miteinander reden?"

 

Schweigen: "Auf keinen Fall! Ich sammle das. Ist fast wie bei 'Doktor Murkes gesammeltes Schweigen'. Schweigestellen der Historie ausfindig machen. Dort finden sich auch die allerschönsten Krisen."

 

Moderator: "Hat das Schweigen was Teuflisches?"

 

Schweigen: "Das ist wie in der Eisdiele: such Dir Deine Eissorte und das Topping aus. Schweigen kann sein wie Feenstaub, Space-Cookie, Wilde Wiese, Cheesecake oder Haselnuss. Das findet sich alles im Extra-Kapitel: Schweige-Stufen."

 

Moderator: "Was bringt einem akustischer Leerlauf? Verbale Enthaltsamkeit. Zeugt das von höherer Weisheit?"

 

Schweigen: "Könnte man vermuten. Dem Schweigsamen wird gerne Größe attestiert. Man muss kein Mann der großen Worte sein. Clint Eastwood oder der Terminator würden als Quasselstrippe weitaus weniger bedrohlich wirken."

 

Moderator: "Schweigt das Universum?"

 

Schweigen: "Beharrlich. Eure Labore wirken wie Verhörräume. Was soll es gestehen? Daumenschrauben anlegen? Planet Erde ist laut – der Rest ist Schweigen. Mir gehört das All!"

 

Moderator: "Was ist Dein Signature Move?"

 

Schweigen: "Der Zeigefinger auf den Lippen: 'Pst!' Sieht man häufig in Bibliotheken."

 

Moderator: "Das Schweigen kann missverstanden werden. Schweigende werden zur Leinwand für die Fantasien anderer. 'Er sagt nichts, also ist er sicher sauer, traurig, gelangweilt, plant meinen Untergang.' In die Stille projizieren Menschen ihre schlimmsten Befürchtungen – selten denkt jemand: 'Er schweigt, weil er gerade innerlich Bachs Goldberg-Variationen durchgeht.'"

 

Schweigen: "Im Roman 'Das Schweigen der Lämmer" tauchen die Goldberg-Variationen auf. – Ich finde, das Schweigen ist ein schönes Hobby. Nicht zu anstrengend ... Auf einem lauten Planeten der Stille zu huldigen, hat ja schon etwas Sakrales."

 

Moderator: "Schweigeminuten okay – aber man sollte es mit dem Schweigen wohl nicht übertreiben?"

 

Schweigen: "Warum wollt Ihr alle das Schweigen brechen? Was hab ich Euch getan?! Das Schweigen ist kein Verbrechen."

 

Moderator: "Manchmal ein Gebrechen. Mutismus ... In 'The Big Bang Theory' leidet der Physiker Raj Koothrappali in den ersten 6 Staffeln an selektivem Mutismus: Er bringt in Gegenwart von Frauen kein Wort heraus."

 

Schweigen: "Schweigen als Störung. Aber meist ist der Wortwechsel die Störung. Drauflossprechen, durcheinandersprechen, widersprechen ... Das endet gar nicht!"

 

Schweigen hält sich die Ohren zu.

 

Moderator: "Sollte man das Schweigen seligsprechen?"

 

Schweigen: "Ja, es würde einiges dafürsprechen. Schweigen ist manchmal die beste Antwort. Insbesondere, wenn man weder Ahnung noch Meinung zum Thema hat. Stille Wasser sind tief. Keine seichte Furt. Seichtes, dahinplätscherndes Geplauder kann da nicht mithalten! – In der Liebe gilt: 'Weniger reden, mehr küssen!' Taten sprechen lauter als Worte – actions speak louder than words."

 

Moderator: "Könnte man sagen: 'Schweigen ist ein zweischneidiges Schwert'? Der richtige Zeitpunkt ist wohl wichtig, das Timing muss stimmen."

 

Schweigen: "Finde ich nicht. Ich bin selten völlig fehl am Platz. Ich genieße immer meine Auftritte. Die peinlichen, die endlosen, die bedrohlichen ... Es gibt mich in der Variante taktvoll oder taktlos. Ich bin für alles offen. Schweigt in allen Sprachen der Welt gleichzeitig!"

 

Moderator: "Du bist zumindest nicht auf den Mund gefallen. – Ist Schweigen Gold – oder im besten Fall vergoldetes Silber?"

 

Schweigen: "Das Nicht-Tun kann einen höheren Wert haben als das Tun."

 

Moderator: "Nicht-Kochen übertrifft das Kochen? In welcher Welt?"

 

Schweigen: "Ohne Unterlass reden, soll besser sein, als es zu unterlassen? Was für eine verquere Logik! Wir brauchen Time-out, die Unterbrechung. Ich vermisse bei Euch die Stopptaste. Innere Einkehr ist nicht verkehrt. Vielleicht verstummen sogar Eure Sorgen?"

 

Moderator: "Du versprichst recht viel."

 

Schweigen: "Ich muss ja auch mein Buch vermarkten. Einkehr ins Wirtshaus der Seele. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein."

 

Moderator: "'Manche Leute verneigen sich gern vor Leuten, die ernsten Gesichts langdauernd schweigen', meint Joachim Ringelnatz. Ich verneige mich vor Deiner Fähigkeit, Dich ins rechte Licht rücken zu können. Noch ein Tipp von Dir zum Schluss?"

 

Schweigen: "Ja, okay, wie bei Comedy ist beim Schweigen das Timing von Bedeutung. Ein gut platziertes Schweigen nach einer rhetorischen Frage? Brillant. Ein peinliches Schweigen nach der Frage 'Möchtest Du mich heiraten?': desaströs – mit Tendenz zur Apokalypse. Manchmal ist Schweigen Gold – aber meist entspricht es nur dem Wert einer Ein-Cent-Münze. Ich bin ein Hochstapler. Was soll ich machen? Das Schweigen ist der große Trickster, der beste Bluff. Bedenkt: Wenn man still ist, nie zu Wort kommt, übernehmen die Lauten die Deutungshoheit. Influencer. Politiker. Hochzeitsredner."

 

Es gibt donnernden Applaus fürs Schweigen. Es macht seinen Signature Move: den Zeigefinger auf die Lippen. "Pst!"

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.05.2025

Alle Rechte vorbehalten

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