Eine Welt, in der alle zu feige zum Kriegführen sind, wäre per se friedlich. Sollte das den Mutigen zu denken geben? Ist der Mut letztlich der Verantwortliche für all das Gemetzel? Keine Schlachten und kein Abschlachten in einer Welt voller Drückeberger und Bangbüxen. Feigheit könnte man geradezu als ein unterschätztes Talent bezeichnen.
Die Evolution ist nicht ganz unschuldig an der Misere; sie pusht in eine gewisse Richtung; beinahe eine Helden-Aufzuchtprogramm. Sie will Heroen, Vabanquespieler, Risiko-affine Typen – sogar Hurrapatrioten. Das Militär und die Militärs verstanden sich schon immer aufs Manipulieren: Mut wird als Tugend gehandelt – selbst in Fällen, wo Abwarten oder auch vernünftige Feigheit aussichtsreicher sind. Warum gegen eine Übermacht kämpfen – scharf auf ein Heldenepos?
Wer viel und intensiv nachdenkt, erkennt auch mehr Risiken. Verhandeln, Diplomatie immer gleich gelichsetzen mit Feigheit? Challenges boomen. Kann gar nicht absurd genug sein. Ist das bereits Mut-Sucht? Sich von der Gesellschaft bestätigen lassen, wie heroisch man sei. Nicht in den sauren Apfel beißen, sondern in Waschmittelkapseln: willkommen bei der Tide Pod Challenge. Oder die Dry Scoop Challenge: Proteinpulver trocken schlucken – ohne Wasser. Ist das der Trend: keine Angst vor Dummheit? Das hätte was Befreiendes.
Aber die Feigheit als Ratgeber ganz auszuklammern, ist mordsdumm und führt zu bösen Überraschungen. Eine Welt, in der alle zu feige zum Kriegführen sind, wäre per se friedlich: nicht aus Liebe, nicht aus Einsicht – sondern aus einer tief empfundenen Abneigung gegen Schmerz, Schweiß und Schützengräben. Ein Lobgesang auf das Zögern. Die großen Euphemismen der Eskalation kursieren: Ehre, Stärke, Stolz. Der Mut zur kollektiven Selbstüberschätzung wirft die Menschheit immer wieder zurück. Pazifistische Anwandlungen nicht unterdrücken.
Oder lieben wir die Konfrontation so sehr? Keine Story kommt ohne Konflikte aus. Wir sind süchtig nach Antagonisten – mit Vorliebe sind es diejenigen, die anderer Meinung sind. Als ob man einem Hund einen Kauknochen zuwirft. Damit ist er erst mal beschäftigt. Wir bekämen von allzu langem Frieden Entzugserscheinungen – Jieper nach Gewalt und Auseinandersetzungen. Die Wartezeit überbrücken mit sinnlosen Challenges.
Die Dezimation bzw. Dezimierung diente als Mittel und Vorbeugung gegen die sogenannte Feigheit vor dem Feind: Jeder zehnte Mann wurde exekutiert – das wurde per Los bestimmt. Gehorsam eintrichtern. Die weiße Feder – "The White Feather" – gab es im britischen Empire für nicht kriegsfähige oder kriegsunwillige Männer. Bloßstellung, Anprangern. Sehr effektvolle Kampagne. So macht man bei Unternehmungen mit, von denen man nicht überzeugt ist. Mag sein, dass oft die Mehrheit der Beteiligten sich nur beteiligte, weil sie dachten, dass die Mehrheit es wolle, dabei waren es womöglich nur ein paar Wenige. So macht man auch Ausflüge, die sogar jeder der Beteiligten eigentlich ablehnt: Man wollte der vermeintlichen Mehrheit nicht im Weg stehen, denen nicht den Tag versauen. Man stellt Vermutungen an über das, was gesellschaftlich akzeptabel ist.
Wohl dem, der sich den Job als Dirigent der herrschenden Meinung rechtzeitig sichern konnte. Herdentiere, Mitläufer – die Feigheit weist in eine andere Richtung. Aber man überhört sie geflissentlich. Öffentliche Meinung als Druckmittel. Wir sind gnädig und erschießen nicht jeden zehnten. Aber gesellschaftlich tot, ist auch nicht schön. Feigheit hat kaum Fürsprecher; wer will sie verteidigen? Der Mut steht glänzend da. Dabei ist er für allerhand Chaos in der Welt verantwortlich. Mut als Must-Have – auch wenn man Mutmaßungen anstellt über den Ausgang der Sache. Oder einfach sein Mütchen kühlen an völlig Unbeteiligten; warum verschämt sein, wenn man unverschämt sein kann? Sich aus den erhaltenen weißen Federn einen Fächer machen ...
Aber Diffamierungskampagnen funktionieren dank Social Media immer perfekter. Wir kooperieren. Alles nicht in Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen. Wie wär's mal mit der Nachdenk-Challenge? Man setzt sich still in einen Raum. Ohne Musik, ohne Filter, ohne Ego. Man denkt nach. Drei Minuten. Ohne zu sprechen. Könnte einen aber auf Gegenkurs bringen zu üblichen Ansichten. Für Erleuchtung fragen Sie bitte Ihre KI. Die macht jetzt auch den Eremiten-Job.
"Extreme Idealisten sind immer Feiglinge, sie nehmen vor der Wirklichkeit Reißaus", meint Jakob Bosshart. Man neigt dazu, seine Ideale verteidigen zu wollen. Bloß nicht zu viele davon anschaffen, sonst kommt man aus dem Argumentieren und Kämpfen gar nicht mehr raus. Er meint ebenfalls: "An einem Helden ist alles verzeihlich, nur nicht die Schwächen." Man verbringt einen Großteil seines Lebens damit, seine Schwächen zu kompensieren; danken sie einem das jemals? Als Weiser erwartet man tatsächlich, dass die Schwächen einen stark machen, wenn man sie nur intensiv genug befragt. Letztlich entwickelt man eine Schwäche für seine Schwächen.
Switchen zu können von Optimismus zu Pessimismus – und umgekehrt – das ist beinahe schon so etwas wie eine Superkraft. Nicht zu lange bei seinen Schwächen verweilen; aber auch seine Stärken nicht überstrapazieren. Sich auf die Seite der Feigheit stellen – wenn es angebracht ist. Allerdings braucht man dafür oft erstaunlich viel Mut. Was verlangt die Situation? Sie hat das Sagen. Sich manchmal den Mut versagen, ist kein Versagen.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2025
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