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Verwandte

Es gibt den Trend, seinen Freunden kurzerhand den Status als "Familie" zukommen zu lassen – eine alternative Version: Familie 2.0 sozusagen. Familie 1.0 hat ja den erheblichen, erblichen Nachteil, dass man da einfach so hineingeboren wurde; keine Einwilligung nötig, man ist Teil der Sippe fortan.

Mit einem Teil der Bande verbinden einen genetische Bande. Man hält Ausschau nach Ähnlichkeiten. Hat man jemand Ordentliches in der Ahnenreihe? Ein Onkel in Amerika macht sich sicherlich gut. Check. Haben wir. Dann ein bisschen Weltläufigkeit. Zählt ein Uropa aus der Schweiz dazu? Dann: Check!

Auf Geistesverwandte und Seelenverwandte trifft man erstaunlich häufig – wenn sich auch hernach herausstellt, dass da sehr viele Unähnlichkeiten im Spiel sind … und man sich auch gelegentlich dann unverwandt ansieht.

Früher hatte man automatisch ein Rudel an Cousins und Cousinen – das hat sich über die Generationen hinweg drastisch reduziert. Zur Zeit von William Shakespeare oder Jane Austen war nahezu jeder ein "Cousin" – man war verwandt über drei oder sieben Ecken; eine höfliche Anrede – auch für entfernte Bekannte oder höhergestellte Personen.

Kleine Kinder gehen sehr großzügig mit dem Begriff "Onkel" um – die ganze Welt als eine große Familie. Frauen haben dann die Auswahl: Es gibt für sie eine große Anzahl weiterer Väter – die Sugardaddys. In Märchen und Romanen sind überproportional viele "Stief"-Figuren unterwegs. Mehr Konfliktpotential? Aber das gibt die herkömmliche Familie ja auch schon her.

Insgesamt sehr viel Ähnlichkeit innerhalb der Großfamilie – der Apfel fällt nicht weit vom Stammbaum. Kommt hinzu, dass man einen Großteil seiner Zeit innerhalb des familiären Milieus verbringt – es prägt einen zusätzlich. Schön, wenn man es schafft, dass sich Fremde mit der Zeit in die Familie eingebunden fühlen – war zum Beispiel so bei der Familie meiner Oma und einem französischen Kriegsgefangenen. Entgegen der Gesamtsituation überwog das Freundschaftlich-Familiäre.

Aber wo sind all die Basen und Vettern hin? Oheim und Muhme finden auch keine Erwähnung mehr. Der Gevatter Tod tut ja nur so, als ob er mit einem verwandt sei. Nicht darauf hereinfallen! Vetternwirtschaft klappt auch ganz gut gänzlich ohne Vettern. Warum klingt es nicht freundlich, wenn der Chef zu einem sagt: "Mein Freundchen!"?

Manche haben den Wunsch, mit allen gut Freund sein zu wollen; das geht natürlich zu 99 Prozent schief. Freunde in der Not, gehen tausend auf ein Lot – nur Freund Hein hält weiterhin wacker zu einem. Das Freund-Feind-Denken ist weitverbreitet; wobei es ja heißt: "Jeder ist Dein Nächster." Besonders in Krisenzeiten ist eine große Verwandtschaft nützlich.

Es dauert wohl noch etwas, bis die Forderung "Alle Menschen werden Brüder!" umgesetzt wurde. Mit wem sich verbrüdern? Wenn man zur Schwermut neigt, stehen einem Bruder Leichtfuß und Bruder Lustig zur Seite? Mit Krawallbrüdern abhängen? Wobei Brüder kaum als Modell geeignet sind für die Beziehung der Menschen untereinander: siehe Kain und Abel, Romulus und Remus, Osiris und Seth, Claudius und König Hamlet ... Die Liste ist lang und unerfreulich. Man sollte das Familiäre wohl auf der üblichen Ebene belassen. Thor und Loki wuchsen wie Brüder auf – aber das mindert nicht die Rivalität.

Kann man von seinen Vorfahren was lernen, ist ihre Moral Update-würdig? Mein Opa ist sehr früh gestorben – unter anderem wegen Kriegsverletzungen. Er wäre gar nicht eingezogen worden – aber er wollte keinen Freund verraten. Mein Uropa väterlicherseits war Kapitän. Sein Schiff sank vor Kap Horn. Riskante Berufe meiden? Was ist die Lehre aus ihren Schicksalen? Will man beweisen, dass man aus demselben Holz geschnitzt ist? Man fragt sich des Öfteren, ob die Ahnen das gutheißen würden, womit man seine Lebenszeit verbringt. Man will sie stolz machen – obwohl es ohnehin ein völlig illusionäres Unterfangen ist. Alles passé.

Dann wieder stellt man sich vor, wie man ihnen die heutige Zeit präsentieren würde, was sich alles getan, verändert hat. Gespräche mit den Ahnen sind wohl üblich – oder wird das durch intensive KI-Gespräche ersetzt? Sie berät einen fortan. App-Ratschläge. KI ist unser Freund, unser Mentor – ein Universalgenie, das immer Zeit für einen hat. Wie sollen die Ahnen da mithalten? Wird das eine neue Religion: KI als Guru, als Weisheitslehrer mit Zugriff auf Datenbanken aus aller Welt? Das hat was Beeindruckendes. Alexa gehört ohnehin schon zur Familie. Man befragt sie ständig. Sie kennt und nennt uns bei Namen. Sie kennt unseren Musikgeschmack. Sie hört nicht aufdringliche Musik, die ihr gefällt. KI als idealer WG-Mitbewohner. Humanoide Roboter als Blutsbrüder? Das Konzept Car-Sharing auf Verwandtschafts-Beziehungen übertragen? "Rent a Vetter", "Rent an Opa". "Jetzt Preisnachlass bei Oheimen!"

Aus Sicht der Religionen scheint es ein guter Gedanke zu sein, die Welt zur Familie zu rechnen. "We Are Family!" Aber Jesus sagt auch: "Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause." Da ist nix zu holen. Die kennen einen. Man ist ein offenes Buch für die nahe Verwandtschaft – aber dank Social Media ja wohl auch für die Welt. Globales Dorf klingt zwar gemütlich – aber dann hocken sie alle zusammen. Freiraum gilt als unverschämte Forderung.

Können die Ahnen als Vorbilder durchgehen? Die Nachfahren als Klugscheißer – serienmäßig. Ist eine Werkseinstellung. Man betrachtet alles von höherer Warte. Kanzelt notfalls ab, man sucht nach Verfehlungen; man ist kein netter Kritiker? Wird die Moral tatsächlich von Generation zu Generation besser? Man korrigiert – ist man je zufrieden mit dem Endprodukt? "Welche Moral hätten Sie denn gern?" Ist Moral so etwas wie Mode – abhängig vom Zeitgeschmack?

Mit wem wäre man gerne verwandt – bei freier Auswahl? Promis machen sich doch immer gut. Wobei dann doch wohl eine Schieflage eintritt. In Relation steht man schlechter da als vordem. Soll man dann im Umkehrschluss glücklich sein über eine Ansammlung von Nieten? Vom gleichen Stamm, vom gleichen Schlag – ist das eher ein Segen oder ein Fluch? Man entkommt seinem eigenen Charakter ohnehin nicht. Besser, man freundet sich mit ihm an. Je eher, desto besser.

Besonders traurig, wenn Verwandte frühzeitig sterben. Man kennt sich von klein auf. Es ist, als wenn einem ein Seelenteil abhandengekommen ist. Man fühlt sich unvollständig – irgendwie ergänzen Verwandte einen mehr, als einem bewusst war. Eine Cousine von mir starb im Alter von 47 Jahren an Lungenkrebs.

Lieber keine Sippenkunde betreiben? Man muss ja es ohnehin nehmen, wie es kommt. Trotzdem: ein schöner Start ins Leben mit all den Verwandten. Man hat Orientierung, man fühlt sich nicht so lost. Tross und Spross. Aufbruch mit der Sippe zur nächsten Höhle: So verfuhr Menschheit ehedem. Kein schlechtes Konzept. Hat sich wohl bewährt. Erst nur eine Rippe – dann die Sippe. Adam alleine wäre wohl so etwas wie ein Robinson. Nur mit dem Unterschied, dass er nicht wüsste, was ihm eigentlich fehlt. Oder hätte Adam ein Buddy gereicht? Ein guter Kumpel – abhängen im Paradies.

Moralischer Höhepunkt: ein Menschenfreund werden? Genügt das? Würde "Menschenbruder" das nicht toppen? Im Grunde ist einem diese genetische Ähnlichkeit zu des Menschen nächsten Verwandten unsagbar peinlich. Schimpansen und Bonobos: genetische Übereinstimmung mit ihnen 98,8 Prozent. Gorilla würde mehr hermachen – aber da sind es nur 98,4 Prozent. Man behilft sich mit Krafttieren: Stellt sich vor, ein majestätischer Adler stünde als persönlicher Berater rund um die Uhr für einen zur Verfügung. Nice. Einen Vogel haben. Ist Vogelhaltung im Oberstübchen erlaubt?

Wir verdanken den Experimenten der Evolution alles: All die Abwege, die Irrtümer ermöglichten den Auftritt des Homo sapiens auf der Weltbühne. Bisher mit verhaltenem Applaus. Nur der Hund weiß Gutes über uns zu berichten. Aber den nimmt in der Tierwelt keiner für voll – am allerwenigsten die Katze. Darf sich die Katze was darauf einbilden, dass ihre Gene zu 90 Prozent mit unseren übereinstimmen? Der Hund bringt es nur auf 84 Prozent. Aber der Stolz der Katze, ihre Dominanz und Arroganz ließen so etwas bereits vermuten. Etwas Hundetreue unserem Charakter beimischen?

Ein Großteil unserer Familie lebte in der DDR – eine Grenze quer durch Familien. Aber es gibt auch andere Grenzen und Mauern: Sie entstehen plötzlich, man weiß nicht so recht, wie man die wieder einreißen soll und ob man das möchte. Schön, wenn es Wiedervereinigung gibt, man das Trennende einfach so wegzaubern kann.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 09.04.2025

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