Beim diesjährigen Frechheits-Wettbewerb sind der Fuchs und die Möwe haushohe Favoriten. Wer wird sich den Titel schnappen? Als Location: ein wildschäumender Bach. Die Tiere und Pflanzen lieben diese Festivitäten; man kommt zusammen, der Sekt fließt in Strömen – und ausnahmsweise fließt mal kein Blut. Vorteil von Festen: Man festigt Freundschaften.
Es läuft ja nicht immer fabelhaft – auch nicht bei uns in der Fabelwelt. Vorurteile haften an einem. Der Esel ist nur montags störrisch. Der Wolf ist die Liebenswürdigkeit in Person – nach eigenen Aussagen. Stimmt allerdings nicht überein mit den Angaben auf seinem Steckbrief. Okay, die hier Versammelten haben alle Dreck am Stecken. Ist ja nicht leicht, sich in der Tierwelt zu behaupten.
Das Rednerpult ist aufgebaut. Es wird wohl so etwas wie ein Poetry-Slam. Auch Roasten ist erlaubt oder Stand-up-Comedy. Hier können die Schafe sich an den Wölfen rächen – zumindest verbal. Immerhin. Wir berichten wie immer live. Noch ist Zeit für Eure Wetteinsätze.
Der Storch ist zum ersten Mal dabei – viele kennen ihn als Meister Adebar, doch er ist inzwischen Professor. Rund um den Löwen bildet sich ein freier Bereich – einerseits wohl aus Ehrerbietung, andererseits ist das wohl auf seinen knurrenden Magen zurückzuführen, den man bis hierher hören kann. Nur der Rabe hüpft um ihn herum. "Angeber!", hustet der Hahn. Eine Angewohnheit von ihm: Immer, wenn er was Unverschämtes sagen möchte, kaschiert er das geschickt mit einem Hüsteln. Soll ihm das mal jemand nachweisen. Und da balgen sie schon. Der Rabe stürzt sich auf den Hahn, die Ziege will schlichten; aber sie wird in dieses Knäuel mit hineingezogen. Der Rabe zupft ihr ein paar Fellhaare aus.
Der Fuchs bittet um Gehör. Der Bär hat sein Hörgerät verlegt; der Igel hilft ihm beim Suchen. Nicht hilfreich, dass sich der Esel auf dem Igel häuslich niederlässt. Beide schreien auf. Keiner kriegt die Pointen des Fuchses mit, was der Möwe ganz recht zu sein scheint. Sie feuert sämtliche Kontrahenten an: Es haben sich mittlerweile kämpfende Zweier und Dreier-Gruppen gebildet.
Die Lichtung wird immer größer, die Bäume ziehen sich wohl verärgert zurück. Sie lieben die Waldesruhe; sie halten gar nichts von Poetry-Slam. Der Singsang der Vögel genügt ihnen vollauf. Manchmal ein Schuhu der Eule – das muss doch genügen! Man serviert dem Löwen ein Waffel-Eis; das hat die Möwe von den Menschen stibitzt. Enorm, was die so erübrigen können.
"Ich kann Dir auch ein Fischbrötchen besorgen!", gibt sie an. Die Sprüche des Fuchses gehen völlig unter im Tumult. Er greift zum Megaphon; er kennt das schon.
"Mach doch die Jäger nicht auf uns aufmerksam!", ruft ihm der Hase zu. Das Wort "Jäger" lässt sie alle verstummen. Ein gemeinsamer Feind; das eint sie.
"Machen wir uns jetzt verbal fertig, oder was?!", will der Fuchs wissen.
"Ich bin so fertig", stöhnt der Igel. Ihn bedrückt der Esel auf seinem Rücken.
Der Adler schwebt majestätisch herbei. "Sorry, ich habe mich etwas verspätet. Ich habe uns Fischbrötchen mitgebracht!"
"Das kann doch nicht wahr sein!", empört sich die Möwe. Das ist doch ihr Ding, will er ihr tatsächlich die Show stehlen? Sie beschließt, dem Adler die Stirn zu bieten; aufgrund der Größendifferenz wirkt das allerdings recht kurios. Sie begnügt sich mit einem zornigen Blick; verächtlich zu blicken – das hebt sie sich für später auf, wenn der Sekt wirkt. Nüchtern sein, ist – nüchtern betrachtet – meist ein Nachteil. Zusätzlich gibt es Bier vom Fass – auch ein Geschenk der Menschen. Was die so alles auf dem Markt stehen lassen.
Darum geht es auch in der zweiten Runde: "Wer kann besser stibitzen?" Eine wertvolle Fähigkeit im Tierreich. Der Fuchs schlägt der Möwe vor, dass sie es als Team versuchen sollten. So macht man eventuell größere Beute. Die Zeit läuft – wer wird die beste und schönste Beute anschleppen? Getreu dem Motto "Frechheit siegt".
Die Katze präsentiert stolz ein paar Käseecken. "Stammen aus Mausefallen. Unter Lebensgefahr erbeutet." Sie verschweigt, dass sich dabei nur die Mäuse in Lebensgefahr befanden, so als Vorhut. Sie ist auf der Hut. Sie legt das zum Buffet.
Der Fuchs präsentiert eine Gans. Es stellt sich aber heraus, dass es sich hierbei um ein Stofftier handelt. "Und wenn schon. 'Fuchs, Du hast die Gans gestohlen!' ", rechtfertigt er sich.
"Ich möchte Euch einen entfernten Verwandten von mir vorstellen", meint der Hahn. "Ein Wetterhahn – ich habe ihn von einem Hausdach entfernt."
"Ich glaube, wir holen uns nur Schrott in den Wald", meint der Esel.
"Ist das Dein fachmännisches Urteil, oder was", knurrt der Kater, der auf seine geklauten Stiefel sehr stolz ist. Auch wenn er meist beim zweibeinigen Gehen vornüberfällt – in einem Märchen hat er gelesen, dass man es auf diese Art weit bringen kann. Die müssen es ja wissen.
"Wir sind so etwas wie die Bande von Robin Hood", meint der Bär. Er liebt solche Vergleiche. Er hat ein paar Fischkonserven besorgt; allerdings sind die meisten Dosen bereits leer. "Ich hatte Hunger", verteidigt er sich.
"Wir müssen trinkfester werden!", ermahnt sie der Storch. Er lehnt an einem hilfreichen Baum, da die Welt zu einem sich immer schneller drehenden Karussell geworden ist. Anderen Tieren geht es ähnlich. Der Esel kippt auf den Igel. "Nicht schon wieder!", brüllt dieser.
Der Löwe ist auf der Suche nach einem Appetithappen; außerdem würde er gerne auch so schöne Stiefel haben wie der Kater. Er beauftragt das Team Fuchs-Möwe damit, ihm welche zu besorgen. "In Leder. Schöne Boots. Was Edles." Dem Löwen widerspricht man nicht, man besorgt ihm das Gewünschte. Diesbezügliche Ratlosigkeit sollte kein Hindernis sein.
Man beratschlagt sich – und dann überfällt man einen Wanderer, zieht ihm die Stiefel aus. Soweit der Plan. Zunächst finden sie nur Wanderer mit Sandalen oder Turnschuhen. Der Esel schließt sich ihnen an. "Von Euch kann ich sicherlich noch was lernen." Da sind sich die beiden nicht so sicher. Eigentlich soll keiner mitbekommen, dass nicht alle Taten zielführend sind. "Auf jeden Highway kommen 10 Holzwege", philosophiert der Fuchs.
Letztlich finden sie einen geeigneten Kandidaten: ein Wanderer mit wunderschönen Stiefeln.
"Wir könnten es so machen wie die Bremer Stadtmusikanten; ihn damit beeindrucken", schlägt der Esel vor. Gesagt, getan. Der Fuchs springt auf den Esel, die Möwe setzt sich dem Fuchs auf den Kopf. Der Wanderer hält inne: Kommt auch nicht alle Tage vor, dass man diese Abart der Bremer Stadtmusikanten im Wald trifft. Er will ein Selfie mit ihnen machen; der Fuchs grinst zutraulich; die Möwe setzt ihr bestes Lächeln auf.
"Wir brauchen Stiefel – für unseren König, den Löwen", erläutert der Fuchs. Leider ist der Wanderer des Füchsischen nicht mächtig.
"Vielleicht kann er Möwisch?" Die Möwe trägt laut und deutlich ihr Anliegen vor. Keine Reaktion. Dem Esel wird das zu bunt. "Diese Sprache wird er verstehen!". Er keilt aus – mehrmals hintereinander. "Das haut ihn um." Sie machen selber noch ein paar Selfies. Schließlich soll der Wanderer ein schöneres Andenken erhalten als nur die Tritte und blauen Flecken.
"Der gestiefelte Löwe – hoffentlich wird er dann nicht noch arroganter", meint der Esel.
"So, Stiefel-Mission erledigt. Rückzug!", kommandiert der Fuchs, dem es gefällt, eine Truppe zu haben. In Gedanken plant er bereits weitere abenteuerliche Missionen. Den Frechen steht die ganze Welt offen.
Der Löwe ist sehr zufrieden mit den Boots. Man stützt ihn beim Aufrecht-Gehen. Das Känguru macht es ihm vor; allerdings sieht es dann doch recht grotesk aus, wenn ein Löwe auf zwei Beinen hopst. Da geht einiges an Würde verloren. "Wir beschenken uns mit dem, was die Menschen erübrigen können – nicht immer ganz freiwillig, nicht immer schmerzlos. Im Gegenzug lernen sie angeblich was aus den Fabeln; eine Win-Win-Situation", urteilt der Fuchs.
"Das Team Fuchs-Möwe-Esel ist unser diesjähriger Gewinner", verkündet der Löwe. "Wir müssen unsere Frechheit stärken, gut darin sein; es genügt nicht, gelegentlich ein Frechdachs zu sein."
"Ich bin kein Vorbild mehr?", will der Dachs wissen. "'Frech wie Oskar!', lautet ab jetzt unsere Devise!" "Ich heiße Oskar", piepst eine Maus. "Die soll unser Vorbild sein?", erkundigt sich der Fuchs. Der Löwe rauft sich seine Mähne. "Ich mache aus Euch allen Stofftiere!!", brüllt er.
Ich bitte ihn, das Tempo etwas rauszunehmen, denn ich komme mit dem Erzählen nicht nach. "Ich brauche keinen Erzähler! Die besten Storys erzählen sich alleine." Er scheint auf den Geschmack gekommen zu sein – er wirkt unangenehm menschlich – so auf zwei Beinen. Verleitet das per se zum Arrogant-Sein? Konnten die Menschen gar nicht anders, als fortan auf die Tierwelt herabzublicken? Das Känguru dazu befragen? Aber das ist ja kein echter Zweibeiner. Ein Erzähler darf sich nicht zu sehr seinen Gedanken überlassen, sonst kriegt er selber von der Handlung kaum noch was mit, ihm entgeht da Wichtiges. Wieso ist vom Buffet kaum noch was übrig?
Der Löwe meint: "Nächsten Monat treffen wir uns dann für den Karate-Wettbewerb. Übt schön. Denkt daran, dass Ihr selbst Euer bester Mentor seid." "Ich hätte gerne einen anderen Mentor", beschwert sich der Esel. "Von mir lerne ich nur Fauxpas."
Der Löwe hängt ihm die Siegesmedaille um. "Euer Team hat doch gewonnen. Auf 10 Fauxpas kommt mindestens ein guter Tritt. Das muss genügen. Frank Sinatra singt: 'Mmm, you give me a boot. I get a kick out of you. I get no kick from champagne.'" Der Löwe lässt sich dennoch ein weiteres Glas Sekt eingießen. Er befiehlt den Vögeln des Waldes, "I Get a Kick Out of You" zu singen. Man kommt seinem Wunsch nach. Besonders laut singen sie die Zeilen: "Flying too high with some gal in the sky – is my idea of nothing to do."
Aus dem Wald schleppt sich ein Wanderer, der nur Socken anhat. Als er den Löwen mit seinen Stiefeln sieht, würde er gerne auf dem nicht vorhandenen Absatz kehrtmachen.
"Hey, Big Spender", begrüßt ihn der Löwe. Vermutlich kann der Spender kein Löwisch, denn er zögert mit seiner Antwort. Dafür singen die Waldtiere: "Wouldn't you like to have fun, fun, fun?"
Menschen wissen oft nicht dieses Entgegenkommen zu würdigen. Dabei sind sie vermutlich die Weltmeister sowohl bei der Unverfrorenheit als auch beim Zuweitgehen. Wie tarnt man einen Rückzug, so dass es nicht wie eine erbärmliche Flucht wirkt? Dieser Gedanke rattert wohl in seinem Kopf. Seine Ausdruckslosigkeit spricht Bände.
"Wanderer, kommst Du nach Hause, verkündige dorten, Du habest uns hier feiern gesehn, wie das Gesetz es befahl", deklamiert der Löwe recht eindrucksvoll.
Nächsten Monat berichte ich dann von den Karate-Meisterschaften – das wird legendär.
"Märchen bringen einen echt weiter; man lernt so vieles von ihnen." Der Löwe betrachtet glücklich seine neuen Stiefel. "Inspirationen, die sich lohnen. – Nächsten Monat bringt Ihr mir Rapunzels Haare. Ich muss was für meine Mähne tun."
Wir haben also einiges vor; das Fabelreich hat meist Fabelhaftes zu bieten. Mit weniger sollte man sich nicht zufriedengeben.
ENDE
Cover: Cover-Bild von Manuela - https://old.bookrix.de/-schnief/
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2025
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