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Interview mit Antonio Vivaldi

Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio – ein Geigenvirtuose und virtuoser Komponist: Antonio Vivaldi! 1741 – also vor über 280 Jahren das Zeitliche gesegnet ... Aber Du bist zeitlos; die Feen hatten keinerlei Mühe, Dich mit diesem preiswerten Feenstaub zu reaktivieren."

 

Antonio Vivaldi: "Sogar mein Asthma ist weg."

 

Moderator: "Ja, es hilft gegen allerlei Wehwehchen. Il Prete Rosso – der rote Priester – wurdest Du genannt. Was ist für Dich ein rotes Tuch, wem möchtest Du auch jetzt noch die Meinung geigen?"

 

Antonio Vivaldi: "Für mich ist das Leben wie eine kostbare Violine. Keine Melodie, die man herunterfiedelt – man setzt sich ernsthaft damit auseinander, man interpretiert."

 

Moderator: "Es nicht vergeigen. Mit Talent gesegnet zu sein, ist dabei vermutlich hilfreich?"

 

Antonio Vivaldi: "Talent kann ein Fluch sein; es legt einen fest; man folgt ihm. Aber der Geldsegen ist beachtlich."

 

Moderator: "Trotzdem bettelarm gestorben. Wie kommt's? Alles verprasst?"

 

Antonio Vivaldi: "Ich habe Geld verschwendet – und nicht die Zeit. Letzteres wäre für mich das größere Übel. Ein Frevel gegen das Leben."

 

Moderator: "Deine Opern haben die Zeit nicht so gut überstanden. Nur 20 von den von Dir genannten 94 sind erhalten – manche davon nicht mal vollständig. Macht Dich das traurig?"

 

Antonio Vivaldi: "Ich hätte sorgsamer damit umgehen müssen. Konzessionen an das Leben, an den jeweiligen Augenblick – der Augenblick beansprucht alles, volle Konzentration; wie soll man da den Blick richten auf das Dahinterliegende? Man ist ja kein Diener der Zukunft."

 

Moderator: "Was sagst Du zum Vorwurf, dass Deine Opern Flickopern seien? Stichwort: Pasticcio. Man verwendet munter was von anderen Komponisten, wenn es sich doch so gut da hineinfügt; Wiederverwertung von etwas Eigenem. Ohne Musenkuss greift der Musikus zum Recycling?"

 

Antonio Vivaldi: "Ich war immer inspiriert!"

 

Moderator: "Stichwort Musen. Du hast das erste Mädchenorchester der Welt geleitet. Das Ospedale della Pietà in Venedig: Waisenhaus und Musikschule. Auch Touristen waren davon angetan. Eine schöne Wirkungsstätte."

 

Antonio Vivaldi: "Witzigerweise unterrichte ich im Himmel weibliche Engel. Der Himmel meint es gut mit mir. Der Himmel hängt voller Geigen, wenn ich unterrichte. Mag sein, man bekommt dort ähnliche Tätigkeiten zugewiesen wie im irdischen Jammertal."

 

Moderator: "Was willst Du mit Deiner Musik ausdrücken? Igor Strawinsky meint: 'Vivaldi hat nicht 500 Konzerte geschrieben, sondern 500 Mal dasselbe Konzert.' Fun Fact – das wohl bekannteste Musikstück aller Zeiten: Deine vier Violinkonzerten 'Die vier Jahreszeiten'."

 

Antonio Vivaldi: "Na, immerhin. Programmmusik liegt mir. Malen mit Tönen. Habe ich im Jenseits perfektioniert."

 

Moderator: "Gratulation. Es ist das meistverkaufte Klassikalbum: 'Die vier Jahreszeiten' mit dem Geiger Nigel Kennedy. Für einen Priester hast Du es weit gebracht."

 

Antonio Vivaldi: "Unvergessen zu sein, kein Unzeitgemäßer ... Ein Schwung, der die Jahrhunderte überdauert ... Wenn man sich mit der Kunst einlässt, wird man selten enttäuscht. Sie ist die beste Gefährtin der Menschheit. Sie fordert alles von einem. Sie lässt einem die Auswahl, auf welchem ihrer zahlreichen Gebiete man tätig sein will. Geistlicher Acker, weltlicher Acker ... Wie ist die Ernte?"

 

Moderator: "Manchmal muss man sich damit begnügen, die zweite Geige zu spielen. Man hat Glück, wenn es eine Stradivari ist."

 

Antonio Vivaldi: "Zumindest den Eindruck erwecken, dass man stets erstklassig ist. Ein Pasticcio hat nichts Anrüchiges für mich. Nennen wir es 'lebensverlängernde Maßnahmen' für einige Opernstücke; Rettungsmaßnahmen – man nimmt sie mit in die nächste Saison, sie können nochmals brillieren; man leiht sich was aus ... Nicht nur Arien sind Versatzstücke ... Urbilder tauchen wieder auf. Mythen, Sagen, Legenden webt man in sein Leben – macht sie sich zu eigen. Soll man das Glück versetzen? Die Seele selbst ist wohl ein Pasticcio. Viel von den Ahnen steckt da mit drin – und nach und nach gesellen sich einige Vorbilder hinzu. Ein Genie ist ein Gigant, der aus vielen Zwergen aufgebaut ist. Man bediene sich am Kunst-Buffet."

 

Moderator: "Musstest Du mit Deiner Meinung hinterm Berg halten? Übergroße Rücksichtnahme auf die Meinung der Kirche? Die Opernhäuser als Stätte des fröhlichen Lasters. Wie statthaft ist das für einen Priester – auch wenn er damit stattliches Geld verdient?"

 

Antonio Vivaldi: "Recht ansehnliche Summen. Soll man mir die Lebensfreude nicht ansehen? Das Leben ist Tanz, Freude – meine Musik bewahrt dieses Gefühl, es macht sie aus. Jeden Tag ist man ein Auferstandener; heute bin ich's ganz im Besonderen. Musik kann was Überirdisches haben, wenn man es zulässt. Wobei frenetischer Applaus auch was Schönes ist. Mir bekam die Popularität sehr gut."

 

Moderator: "Eine lebende Legende ... dennoch in Vergessenheit geraten. Man hat Dich wiederentdeckt – 1926 zum Beispiel fand man mehrere Bände mit Deiner Musik: Sie enthielten unter anderem 300 Konzerte und 19 Opern."

 

Antonio Vivaldi: "Ein Grund aufzuatmen. Ein Blech- oder Holzblasinstrument kam für mich nie infrage. Ich musste Rücksicht nehmen auf mein Asthma. Frei atmen zu können, war mir nur in der Welt der Musik möglich. Sie soll nicht das durchmachen, was der Komponist erleiden muss; sie ist befreit von seiner Beengtheit, seinen Schwächen. Sie ist reiner; sie verwirklicht seine Ideale. Sie erreicht beinahe mühelos und spielerisch, was ihrem Schöpfer verwehrt bleibt. Vielleicht ergeht es unserem Schöpfer auch so – dass wir zu etwas in der Lage sind, wozu er sich außerstande sieht? Jeder Mensch ist eine Melodie, eine Abfolge von zusammengehörigen Tönen. Musik muss frei atmen können. Zwänge tun ihr nicht gut."

 

Moderator: "Dein Vater war ebenfalls Geiger; er starb 1736 – fünf Jahre vor Deinem Tod. Ihr standet Euch recht nahe; er hat Dich in allem unterstützt. Ein schönes Privileg, wenn die Familie so zusammenhält – 8 Geschwister hattest Du. Ist Familie so etwas wie Generalbass – er stützt die Melodie, sorgt für passende Harmonie?"

 

Antonio Vivaldi: "Ja, Harmonie ist wichtig. Gerade, wenn einem die Kirche Sittenlosigkeit vorwirft."

 

Moderator: "Will man da im Dreieck springen? Hilft die Methode des Dreisatzes: Wechsel von langsamen und schnellen Passagen? Allegro – Adagio – Allegro."

 

Antonio Vivaldi: "Man sollte im Leben auf Episoden achten, die wiederauftauchen. Es ordnet sich wohl auch wie ein Musikstück, in dem das Ritornell öfters wiederkehrt: der Refrain im Leben. Was ist die Hauptaussage? Wiederkehr und Abwandlung des Wichtigsten. Dann ist Zeit für die Couplets, die Zwischenspiele. Struktur ist wichtig; sonst ist es nur eine unverbindliche Abfolge von Lauten. Man sollte in der Tat sein Leben komponieren. Platz für Tutti- und Soloabschnitte."

 

Moderator: "Die Sängerin Anna Giró war lange Zeit an Deiner Seite. Du bist ihr 1726 zuerst begegnet. War sie mehr als Deine Studentin, Dein Protegé ...? Die Prima Donna Deines Herzens?"

 

Antonio Vivaldi: "Mein Kontrapunkt. Meine Ergänzung. Man muss sich kontrapunktieren. Das bereichert."

 

Moderator: "Stichwort Barockmusik. Barock bedeutet unregelmäßig – eine nicht ebenmäßige Perle. Das Unvollkommene als Thema in der Kunst. Das Reich des Tatsächlichen – fehlerbehaftet, Mängel, wohin man schaut. Tonmalerei ist dann so etwas wie ein akustischer Spiegel der Natur. Einem fallen die Fehler auf, aber sie fallen nicht ins Gewicht. Hat Barock etwas Versöhnliches, Versöhnendes?"

 

Antonio Vivaldi: "Betrifft ja alle Affekte. Etwas ist durcheinandergeraten, man konzentriert sich zu sehr auf ein Gefühl; es bestimmt, beherrscht Dein Denken. Auch übergroße Liebe kann so zu einem Problem werden. Verlangen, Hass, Trauer ... wir kommen sehr schnell aus dem Gleichgewicht. Die Musik – die Arie – kann das sehr schön zum Ausdruck bringen. Die Handlung stockt, sie pausiert; man gibt sich ganz dem Gefühl hin; man badet darin – aber es ist nicht immer ein Schaumbad. Als Teufelsgeiger mit roten Haaren hatte ich mich eigentlich auf Schwefelbäder in der Hölle vorbereitet. Kommt immer alles anders, als man denkt."

 

Moderator: "Dann wünschen wir Dir frohes Schaffen im Himmel. Musik vermag uns ein zeitweiliges Elysium zu ermöglichen. Als ob man neben einer Himmelsleiter stehen würde – aber das klappt vermutlich nicht mit Fahrstuhlmusik. Ich bedanke mich für Deinen Besuch. Uns bleibt nur die Hoffnung, dass wir nicht allzu viel vergeigen."

 

Antonio Vivaldi: "Herausfinden, nach wessen Geige man tanzt. Damit ist schon viel gewonnen. Ist noch Zeit für ein Bad in der Menge?"

 

Das Publikum steht auf und applaudiert ihm.

 

Moderator: "Schön, wenn man diesen Zustand erreicht hat: kein Wunsch, jemandem die Meinung zu geigen. Wenn man den Bogen nicht raushat, hilft nur der Ellenbogen. Recht zuverlässig.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.11.2024

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