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Wildnis

Sehnsucht nach dem Wildromantischen – aber mit allem Komfort, den die Zivilisation zu bieten hat. Man will immer das Gesamtpaket. Wenn es mit dem Service hapert, könnte man fuchsteufelswild werden. Man selber bevorzugt Wildwestmethoden – möchte aber mit dem gebührenden Respekt behandelt werden. Wildheit nicht um jeden Preis.

Das Meer sollte sich zu benehmen wissen – Übertreibungen verbittet man sich als zivilisierter Mensch. Früher konnte man es durch Opfergaben beschwichtigen; war praktisch. Den inneren Barbaren aktivieren bei Bedarf – umschalten in den Berserkermodus bei Gefahr: Die Natur hat vorgesorgt. Gentlemanlike ist manchmal keine Option. Sich das Unzivilisiert-Sein gestatten.

Hat die Seele mitgezogen – ist man durch und durch kultiviert – oder sind da Freiflächen? Seelen-Wildnis? Die Evolution stellt Forderungen an einen, sie drängt, sie will was. Das entspricht nicht immer dem, was der Kulturkreis gutheißt. Da gibt es Spannungen. Ein Großteil des Selbst bleibt ein Wildtier. Wir sind wohl alle so etwas wie schlecht dressierte Wildpferde – die Erinnerung an die ursprüngliche Freiheit weckt beispielsweise der Marlboro-Cowboy. Okay, wir haben die Wildheit gegen was Wertvolles eingetauscht: Kultur en masse. Dank Kulturbeutel hat man im Dschungel das Duschgel immer dabei.

Technik ist toll – bis sie versagt; dann könnte man wild werden. Zivilisation verwandelt Natur in eine Müllkippe. Ist das ihre eigentliche Bestimmung?  Ausgelassen tobt die Technik durch das Jahrhundert. Windräder quetschen sich zwischen die Bäume. Ein Wildbach ist romantischer als ein Kanal. Jeden Gedanken an Idylle ad acta legen? Wir wildern im Bereich des Wilden; wir machen gute Beute. Transformieren es, veredeln es zu Plastik. Macht der Kreislauf von Mutter Natur das mit, macht er schlapp? Flora und Fauna in geordnetem Zustand – wir räumen auf –, gratis gibt es ein paar Gene für sie dazu. Natur aufpeppen – ihr die Wildheit austreiben.

Früher bekam Poseidon anständige Opfer, jetzt gibt es Plastik. Soll er sich damit seinen Palast bauen? Kein Wunder, dass er in Rage kommt. Das Glück möchte eine Wild Card? Man ist ganz wild aufs Glück, aber in den Lebensplänen ist kein Platz vorgesehen für Glück oder Lebensfreude. Pläne und wildes Durcheinander vertragen sich nicht. Glück ist chaotisch, es schaut herein, wenn ihm danach ist. Ein Übermaß an Plänen macht ihm den Garaus. Freiheit gehört zum Glück. Ein Übermaß an Bestimmungen, Einschränkungen, Direktiven und Überwachung lässt kaum Spielraum für das Glück, das den Zufall als seinen Verbündeten gerne an seiner Seite hat. Zivilisation sieht sich umgeben vom Chaos. Sie will eine Insel der Ruhe, sie wird beinahe süchtig nach dem Unchaotischen. Sortiert, arrangiert, Wohlgeordnetheit. Kein Marlboro-Cowboy, der durch die Blumenbeete reitet oder über Hecken springt. Wildwuchs beschneiden, das Wilde gilt es zurückzudrängen.

Dem Menschen ist faustisch zumute. Das Planvolle dominiert; was kann man rausholen aus der Zeit? Effizienz. Man kann keinen Termin anberaumen für Lebensfreude, kein Date mit dem Augenblick, bei dem man ihm mitzuteilen gedenkt, wie außerordentlich schön er sei. Wildheit des Charakters – dennoch nicht bei nächstbester Gelegenheit rumspringen wie Rumpelstilzchen.

Wildnis wird zum raren Gut – ist das halb so wild? Ein Planet, überzogen mit Kultur – kennt das Universum sonst so wohl nicht. Woanders nimmt die Entropie zu – bei uns nimmt sie ab. Wir lieben das Komplexe. Beziehungsstatus zu unserer Natur: "Es ist kompliziert." Früher war es wohl so etwas wie eine wilde Ehe.

Man duldet nur die veredelte Version von sich – durch Vorbilder gestützt, mühsam in Form gehalten. Sehr natürlich wirkt das nicht. Wildern bei den Vorbildern, den Idolen. Angleichung der Charaktere – bis zur völligen Übereinstimmung. Mental-Klon als Ziel? Gedeihen im Zeitalter der Stream-Kultur. Auch Firmen setzen auf massentaugliche Meinungen. Corporate Identity bedeutet: bloß keine Ecken und Kanten.

Das Wilde wird zum Luxus. Wildes Parken ist schon recht kess. Wilde Beschimpfungen gönnt man sich zu besonderen Anlässen. Wilde Gerüchte lässt man von einer KI zubereiten. Wilde Leidenschaft delegieren wir an Film- und Romanfiguren. Alles Wilde outsourcen. Eine Hochkultur hat genug zu tun mit Zivilisationskram.

Wild auf Perfektion. Wie nach zu vielen Schönheits-OPs: Plötzlich ist man sich wildfremd. Entfremdung – weil man sich zu seiner eigenen Natur nicht bekennen will. Wilde Panik, wenn man wie Faust feststellt: kein einziger Moment dabei, der Glück enthält. Die Zeit ist einem zwischen den Fingern durchgeronnen … Wie ein glückloser Goldwäscher.

 

ENDE

 

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Cover: https://pixabay.com/de/photos/berge-see-landschaft-natur-drau%C3%9Fen-4473760/
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2024

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