Moderator: "Es gruselt einem bei dem bloßen Gedanken an unseren heutigen Talkgast: kein Gruselclown, kein Stellvertreter, sondern der Grusel selbst. Schön, dass Du Zeit für uns hast."
Grusel: "Ihr habt Dusel – an sich bin ich fast ausgebucht dieser Tage."
Moderator: "Ja, Du hast viele Fans. Normalerweise trifft man Dich in Spukschlössern, in einem haunted house, in Kellergewölben, Verliesen, Friedhöfen ... Erschreckt Dich so ein gemütliches Studio? Fühlst Du Dich völlig fehl am Platz?"
Grusel: "Ich habe Euch Spinnweben aus der Dose mitgebracht."
Moderator: "Bist Du gut in Form?"
Grusel: "Seit der Aufklärung geht es mit mir bergab. Meine Gespenstertruppen haben kaum noch Auftrittsmöglichkeiten. Wie ein Komiker, der verpflichtet ist, Tag für Tag vor einem humorlosen, todernsten Publikum aufzutreten. Die Ratio macht uns einen Strich durch die Rechnung. 'Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum', wie es so schön bei Schiller heißt. Ihr seid der Graus! Macht uns den Garaus."
Moderator: "Ist Grusel überflüssig? Was sind Deine Stärken? Inwiefern könnte der Zeitgeist von Dir profitieren?"
Grusel: "Ich habe darüber ein Buch geschrieben. Titel: 'Ach, wenn mir's nur gruselte!' – Eine Anspielung auf das beliebte Märchen: 'Das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen'. Das Leben muss eine Achterbahnfahrt der Gefühle sein. Wie wollt Ihr Erleichterung spüren, kennen – wenn Ihr nie bedrückt wart? Ich sorge für Sorgen, für Schrecken. Ich führe Euch zur Nachtseite – und stoße Euch hinein. Am Gruseligsten ist ohnehin die eigene Seele. Wenn die Ratio nicht aufpasst, nicht hinsieht ... Es ist ein Graus mit all den Fehlern, den Irrtümern, den Verfehlungen: ein Grusical."
Moderator: "Und da schaffst Du Abhilfe?"
Grusel: "Sich nicht abwenden vom Mysterium. Es ist immer beides zugleich: erschreckend und faszinierend. Grusel hat zwei Seiten. Alles ist ambivalent. Mysterium tremendum und Mysterium fascinosum – Furcht und Anziehung."
Moderator: "Du vermarktest Dich recht gut. Aber inwieweit bringt einen ein Horrortrip weiter?"
Grusel: "Ihr denkt, Ihr habt das Übernatürliche und Phantastische erfolgreich ausgeblendet? Befehlt Ihr mit ebensolcher Überheblichkeit den Stürmen, dem Unwetter? Roger Caillois meint: 'Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.' Ihr wollt der Welt Eure Grenzen aufzwingen?! Mich hinausdrängen? Wie vermessen ist das! Seht her, was ich mit dem Maßband der Wissenschaft anstelle!"
Einige Poltergeister tanzen ein Ballett.
Moderator: "Sehr gruselig wirkt das nicht."
Grusel: "Ich habe in der Eile keine anderen bekommen können."
Moderator: "Unser Zeitalter kennt sich aus mit schaurig-schönem Kitsch. Ist das ein Trost für Dich?"
Grusel: "Ihr müsstet bereit sein, aus dem Grusel was zu lernen. Gespenster haben eine Mission. Last Euch von ihnen belehren. Aber in Eurer Seele ist es immer taghell – Ihr lasst wohlweislich das Licht an. Ihr wollt sie nicht in Aktion sehen. 'O schaudervoll! O schaudervoll, höchst schaudervoll!'"
Moderator: "Wieso bemühst Du jetzt Shakespeares Hamlet?"
Grusel: "Du kommst doch auch mit Zitaten. Grusel unterbricht die Kontinuität des Einerleis. 'In allen Dingen weckt die Kontinuität den Ekel', meint Blaise Pascal. Unterbrechungen tun Euch gut. – Wobei ich anmerken muss: ziemliche Gruselshow Eure Politik."
Moderator: "Ist die Welt ein Gruselkabinett – und wir wollen das nur nicht wahrhaben?"
Grusel: "Ja, das wäre unheimlich. Aber Ihr eliminiert das Unheimliche – Ihr gebt ihm gar keine Chance! Ihr rückt mit Eurem Wissenschafts-Regiment an. Kein Nachtmahr, kein Nachtalb ist vor Euch sicher! Sie können ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen – bekommen Depressionen. Dämonen, die an sich selber zweifeln – kein schöner Anblick. Ich bin auch hier, um für mehr Verständnis für die Monster zu werben. Ihr gebt dem Jenseitigen ja gar keine Chance! Betonmonster, Bürokratiemonster, Monstertrucks – das Diesseits ist bei Euch zu präsent. Filme wie 'Ghostbusters' sind bei Euch beliebt. Ständig irgendwo Licht – was ist mit der guten alten Geisterstunde?! Geister – verbannt in Bücher. Eine ganz und gar geistlose Welt!"
Ein Monster tobt durch das Studio.
Grusel: "Wir sind ständig auf der Suche nach guten Monstern. Wir haben kaum noch Werwölfe und Vampire. Falls jemand Interesse hat? Formwandler sind fast ausgestorben. Sie sind in ihrem Bestand gefährdet. Die Ratio macht uns allen zu schaffen. Früher waren wir für die Doppelgänger zuständig; jetzt beauftragt Ihr die KIs damit. Es ist wirklich beunruhigend."
Moderator: "Mehr Verständnis für das Grauen wäre wohl wichtig. Uns genügt mittlerweile das Morgengrauen. Wir sind zu grausam zum Grauen?"
Grusel: "Euch ist nicht zu trauen. Gruselig mitanzuschauen, wie Ihr all meine Beauftragten und Gesandten zugerichtet habt. Sie glauben nicht mehr an sich. Weinende Dämonen! Meint Ihr, funktionsfähige Monster wachsen auf Bäumen? Wo ich Nachschub herbekomme, ist Euch wohl völlig egal?!"
Moderator: "Jetzt kommt der Chor der Gruselclowns. Das wird Dir gefallen."
Grusel: "Die lassen sie ja nicht mal mehr bei McDonald's rein! Das sind ganz schreckliche Arbeitsbedingungen für alle im Schreck-Business."
Moderator: "Dann kommt jetzt der Tanz der Irrlichter."
Grusel: "Vermutlich KI-gesteuert. Ich bin unterwältigt. Ich war mal ein angesehener Choreograf des Schreckens. Was ist mir geblieben? Eine müde Truppe, die nicht mal halbherzig bei der Sache ist. Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass die meisten gar kein Herz haben. – Wann warst Du zuletzt halb ohnmächtig vor Schreck? – Früher war ich gut in meinem Job. Mordsschreck, Heidenschreck – die ganze Bandbreite. Jetzt sind das eher laue Pranks. Fehlt noch, dass ich einen YouTube-Channel starte ..."
Das Publikum klatscht rhythmisch zum Tanz der Irrlichter.
Grusel: "Es ist nur noch Klamauk! Das ist so cringe. Wir waren angesehene Schreckgestalten."
Moderator: "Etwas Fusel für den Grusel? Der Teufel hat diesen Schnaps gemacht, um uns zu umwerben."
Grusel: "Ja, gieß ein. Früher gelangen mir Schreckstunden – jetzt bejuble ich sogar schon Schrecksekunden. Bin ich schlecht in meinem Job?"
Moderator: "Du könntest Dich von Stephen King beraten lassen."
Der Chor der Gruselclowns tritt doch noch auf. Sie singen 'Kauf Dir einen bunten Luftballon' – allerdings mit verändertem Text.
Moderator: "Sie singen: 'Und er wird Dich, eh Du's denkst zum Lohn in das Land der Alpträume ziehn'. Gibt es weniger Alpträume als früher? Arbeiten Sukkuben und Inkuben noch für Dich? Das gute alte Seelen-Aussaugen."
Grusel: "Nächtliche Dämonen sind schwer zu bekommen. Muss ich über die Jenseits-Grenze schleusen."
Moderator: "Die Sukkuben in den guten Stuben. Statt Sukkubus haben wir demnächst Sex-Roboter. Frag doch die KI, was Du anders machen kannst. Sie halluziniert bisweilen ganz fürchterlich."
Grusel: "Es hilft alles nichts. Diese Welt hat mich nicht verdient! Qualitäts-Grusel ist einfach nicht mehr gefragt. Pranks haben mich vollständig ersetzt. Streiche, billigster Ersatz-Horror. Ich gerate auf die schiefe Geisterbahn. – Die Aufklärung ist mein Endgegner. Ihr seid alle so vernünftig. Ernährungsaufklärung, Verbrechensaufklärung, Luftaufklärung und Satellitenaufklärung ... Wie komm ich an gegen so viel Aufgeklärtheit? Ihr sollt in Euren Seelenabgrund schauen – aber dafür gibt es keine Drohnen."
Moderator: "Vermutlich fehlt uns beim Numinosen eine Hälfte: Wir bewundern die Götter, wir sind ihre Fans. Mysterium fascinosum ist das eine – aber Mysterium tremendum leugnen wir? Die Rede ist vom ehrfürchtigen Erschauern. Götter pflegen sich in Nebel oder Wolken zu hüllen – alles andere würde uns überfordern, zu sehr erschrecken? Manchmal sind Götter Formwandler – erscheinen in Gestalt eines Stieres zum Beispiel. Geschieht das aus Rücksichtnahme auf uns? Unfähig, das Jenseitige in seiner wahren Gestalt ertragen zu können? Grusel ist wohl mit dabei, wenn wir uns so weit weg von uns selbst begeben. Man hat es gerne heimelig, man hat es sich im Diesseits behaglich gemacht. Einfacherweise leugnet man alles Jenseitige, meidet den Kontakt mit ihm; pfuscht damit auch dem Grauen und dem Grusel ins Handwerk. Das Mysterium tremendum riskieren? Oder immer wieder die Ratio als Schutzschild verwenden? Sich dahinter gut verschanzen? Nicht hervorschauen? Man will nur die eine Seite zulassen – allerhöchstens: Das Mysterium fascinosum – so ganz ohne Furcht und Zittern – ist bequemer. Ein Gebet müsste doch reichen am Tag? Man will gar keine genauere Kenntnis haben von dem Jenseitigen; dem, was da abgeht außerhalb des von der Ratio abgesteckten Bereichs. Dann begegnet man dem Numinosen, dem Numinosum: Was will es hier im Diesseits? Was will es bewirken, wozu ist man aufgefordert?"
Grusel: "Schön, dass Du mich verstehst. Es geht ja immer um das Gesamtpaket. Ich bin dabei – ich steck da mit drin. Kommt mit Eurer Furcht klar. Das Fürchten zu lernen, das Fürchten wieder zu lernen, verhilft Euch – wie im Märchen – zu einem Happy End? Ich empfehle in diesem Zusammenhang mein Buch 'Ach, wenn mir's nur gruselte!' Gruseln ist cool. Oder seid Ihr dazu verflucht, der Ratio auf ewig dienen zu müssen? Lehnstreue geschworen der Ratio? Unter dem Bann, der Knute der allmächtigen Ratio? – Ihr habt die Spukschlösser in Euch. Vermutlich ist Eure ganze Seele ein haunted house."
Moderator: "Das hört sich sehr kathartisch an. Wandlung durchs Grauen. Ich bin da etwas skeptisch. Aristoteles spricht von Jammer, eleos – und Schaudern, phobos."
Grusel: "Ich bin Lieferant von phobos. So viel phobos, wie Ihr wollt und vertragt! Schaudert Euch gesund!"
Grusel haut nach den wildgewordenen Irrlichtern.
Grusel: "Schlimmer als Mücken."
Moderator: "Kann man dem Grauen trauen? Faust meint zuversichtlich:
'Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil,
Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil;'
Grusel: "So ist es! Schauderumnachtet ins Glück. Nur was verwirrt war, kann sich entwirren. Kann aber auch eine monströse Lüge sein."
Moderator: "Schönes Schlusswort. Viel Erfolg mit Deinem Buch. Ich wünsche uns allen viele Gänsehautmomente."
ENDE
Cover: https://pixabay.com/de/photos/haus-friedhof-spukhaus-dunkel-2187170/
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2024
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