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Das Frühstück der Ruderer

Gemälde als Lebenshilfe? In dem Film "Die fabelhafte Welt der Amélie" kopiert der Maler Raymond Dufayel zum zwanzigsten Mal das Gemälde "Das Frühstück der Ruderer – Le déjeuner des canotiers" von Pierre-Auguste Renoir. Gemälde können einen gefangen nehmen; manche sprechen einen auf Anhieb an, sie lösen etwas aus. Können sie die Knoten in unserem Denken auflösen? Museen als Therapie-Möglichkeit?

Jeder wähle die Gemälde, die ihm am meisten zusagen. Was haben sie ihm zu sagen? Mal zuhören – ganz intensiv. Bei jedem Betrachten kopiert man ja eine Version davon für sich in sein Gedächtnis. Man kann sie wieder abrufen, sie mental betrachten. Manchmal kommt man nicht darauf, was das Gemälde in einem bewirkt hat: Etwas ist anders ... Gemälde sind keine Bücher; es bleibt einem überlasen, wie man sie liest. Ihnen Erinnerungen anbieten – sie zum Gespräch einladen; was ist ihre Antwort, wie reagieren sie? Es kommt zu Gleichsetzungen; man vergleicht sich mit einigen der Gemäldefiguren; man nimmt in Gedanken ihre Position ein. Man hat Zeit; das Gemälde gibt einem diese Zeit. Es ist kein Film, der einen auf Trab hält; es geht in die Tiefe; man wird in das Bild hineingesogen; hineingezogen – wenn man es zulässt. Das Bild ist höflich, es zerrt nicht unaufgefordert an einem, es wartet auf die Einwilligung der Museumsbesucher.

Entdeckt man Seelenverwandte – aus anderen Zeiten, anderen Seins-Ebenen? Was ist das für eine Seins-Welt: die gemalte Wirklichkeit? Noch seltsamer als die Spiegelwelt. Irgendwie echt sind sie alle.

Es wirkt wie ein Widerspruch: Renoir braucht über ein Jahr, um einen Augenblick festzuhalten. Kein echter Moment – ein zusammengefügter – man muss sich als Maler die Puzzleteile besorgen; man erschafft Kunst-Augenblicke. Hat viel gemeinsam mit Meditation. Wie viel lässt man hineinfließen von seinen Vorbildern, ist man bereit, sie durchscheinen zu lassen? Anspielungen, Ähnlichkeiten ... Zugeständnisse ans Real Life – andererseits will man über das Reale hinausgehen; nicht nur Kopist sein.

Aber Raymond Dufayel malt Renoirs Gemälde immer wieder. Es wirkt zunächst wie Folter: keine Abwechslung zulassen, sich nicht was Neuem zuwenden. Man ist dankbar für Variationen; allzu große Ähnlichkeit mit dem vorherigen Tag nimmt dem jetzigen Tag alles Besondere. Die Kunststile ändern sich, man wird ihrer überdrüssig. 1000 Jahre impressionistische Malerei – wir hätten dann vermutlich eine Sehnsucht nach was Abstraktem. Es überlebt sich, legt sich selbst ad acta. Wir sind nicht gemacht für Dasselbe ...

Vermutlich sprechen uns insbesondere die Gemälde an, die in uns etwas vervollständigen; fehlende Puzzleteile; man war schon lange auf der Suche nach ihnen. Amélie hilft das Reden über Renoirs Gemälde. Die eigenen Probleme bekommen eine Bühne – sie bekommen Figuren, Darsteller zugewiesen. Man hat etwas, worauf man sich beziehen kann; es wird anschaulicher. Gemälde verhelfen einem zur Klarheit. "Bitte, gern geschehen", scheinen sie einem hinterherzurufen.

20 Mal das Bild zu malen – das ist wohl eine sehr intensive Befragung; direkt ein Verhör. Projektionsfläche für die eigene Seele – mal was anderes als immer nur diese Wolken. Der Seele was anbieten; wo findet sie sich wieder, welche Details interessieren sie besonders?

Es ist ein lebensfrohes Bild. 14 Personen beim Frühstück – beim Abendmahl von Leonardo da Vinci sind es 13. ... Anfang und Ende. Das Leben meint es gut mit einem; man hat Freunde. Sie sitzen in einer Guinguette – eine Taverne auf einer Seineinsel. Beinahe so etwas wie Insel der Seligen. Eine fabelhafte Welt. Lebensfreude als Motiv; nichts Düsteres.

Reif für die Insel? Wie wäre es mit der "Île des Impressionnistes" – der "Insel der Impressionisten"? Claude Monet, Alfred Sisley, Édouard Manet und Auguste Renoir haben dort Zeit verbracht. Beim Betrachten von "Le déjeuner des canotiers" beamt man sich bequem dorthin.

Gemälde als Portale; sogar zu Gefühlen, die gar nicht die eigenen sind. Sie haben Zeit, sie sind geduldig, sie hetzen Dich nicht, sie warten, bis Du mit Deinen Überlegungen so weit bist.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.10.2024

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