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Interview mit dem Lärm

Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: der Lärm! Ich bitte um einen Riesenapplaus für ihn; er ist mittlerweile doch etwas schwerhörig."

 

Lärm: "Oh, vielen Dank. Ich bin das nicht gewohnt, dass man mich einlädt. Jeder schimpft auf mich. Ich habe mittlerweile echte Komplexe. Jeder vergleicht mich mit der Stille – wie toll sie sei. Ich bin umgeben von Lärmgegnern."

 

Moderator: "Wo siehst Du Deine Vorteile, wo kannst Du punkten?"

 

Lärm: "Schall ist toll. Im Weltraum kann ich nichts bewirken. Aber Planet Erde ist mein Labor, mein Wirkungsort. Hier bin ich Krach, hier darf ich's sein!"

 

Moderator: "Ich sehe, Du trägst Deine Krachlederne. Wie wichtig ist Dir Tradition?"

 

Lärm: "Ich habe nichts gegen neue Geräusche. Kratzen, schaben, zischen, surren, knacken – alles, was stört, ist hochwillkommen! 30 dB genügen, wenn man es geschickt anstellt: Die Mücke ist einer meiner Favoriten. Muss ja nicht immer ein Düsenjet sein."

 

Moderator: "Kurt Tucholsky meint: 'Lärm ist das Geräusch der anderen.' Sollte man mehr Rücksicht nehmen auf seine Nachbarn?"

 

Lärm: "Wer fordert das? Die Stille?! Sie opponiert gegen mich, sie will mich auslöschen. In der Stille finde man Frieden ... und was sie alles verspricht. Sie ist in erster Linie ein großer Langweiler. Tinnitus ist doch ein kleiner Preis für all die Segnungen des Lärms in all seiner Vielfalt und Herrlichkeit: Baulärm, Fluglärm, Motorenlärm, Maschinenlärm … Das zieht bis ins Gedärm! So soll es sein! Da lebt man auf ... Wieso habt Ihr hier geräuschdämpfende Teppiche?! Soll das ein Affront sein? – Gar keine Radaubrüder im Publikum?"

 

Moderator: "Lärmschutz ist uns wichtig. Lärmschutzwände, Lärmschutzfenster, Flüsterasphalt ..."

 

Der Lärm skandiert: "Keinen Wall gegen Krawall!"

 

Kaum einer aus dem Publikum unterstützt ihn.

 

Lärm: "Wann wäre denn meine Stunde? Was habt Ihr da für mich reserviert? Ein Stündchen zu Silvester? Mehr soll im ganzen Jahr nicht drin sein für mich?! Kinder haben Spaß beim Lärmen. Lärm ist ein Privileg. Tiere verhalten sich so ruhig wie möglich. Ihr aber dürft auffallen; keine Tarnfarben. Lizenz zum Krakeelen. Nutzt es. Die Natur ist sehr großzügig zu Euch. Aber selbst die Laute spielt Ihr leise. Was bleibt von meinem schönen Traum vom Krach-Palast?"

 

Moderator: "Du hast seltsame Träume."

 

Lärm: "Okay, ich bin ein Ruhestörer. Das liegt mir, das ist meine wahre Natur. Hin und wieder bin ich leider nützlich. Jaja, der Alarm. Aber ich will nicht gerechtfertigt sein! Ich bin ein Chaot; ich träume von Dauerbelästigung, von Schrecken. Ach, das Wunder des Erschreckens ... Jäh, unvermittelt, lautstark. Der Schreck fährt in die Glieder. Lärmerfüllte Welt ... Aber Ihr habt recht – ich wäre nicht halb so wirkungsvoll ohne meinen Partner, die Stille. Sie ist so etwas wie meine Vorband. In Städten habe ich meine besten Auftritte: als Lärmmonster – wenn man mich lässt. Unerträglich sein, unzumutbar, infernalisch ... nicht bloß ruhestörend. Ja, das sind so meine Ambitionen. Man darf sich nicht schonen. – Aber selbst der Börsenkrach ist furchtbar leise. Ich leide. Die Ruhe tut mir nicht gut. – Könnte die Band einen Heidenlärm machen? Je unmelodischer, desto besser. Hier, eine Komposition von mir: Katzenmusik für 5 Topfdeckel, 3 Schellen, 40 Ratschen und einen großen Blecheimer."

 

Moderator: "Du hast seltsame Wünsche."

 

Die Katzenmusik tut dem Lärm sichtlich gut.

 

Lärm: "Das sind die einfachen Dinge des Lebens."

 

Moderator: "Man soll das Unangenehme wertschätzen. Zumutungen genießen können. Willst Du uns das damit sagen?"

 

Lärm: "Ist ja immer eine Einstellungssache. Absolute Stille ist für Euch tödlich. Erträgt keiner. Ihr trennt sauber zwischen Störschall und Nutzschall – aber es geht doch darum, das ganze Spektrum zu genießen. Sich nicht nur dem Harmonischen zuwenden; das Disharmonische miteinbeziehen; nicht weghören. Es ergänzt sich letztlich. Vogelsang kann so schön sein wie die Verkehrshölle zur Rushhour."

 

Moderator: "Ich bin noch nicht ganz überzeugt."

 

Lärm: "Ihr müsst üben. Wünscht Euch beispielsweise den Lärminator zu Weihnachten. Habe ich Euch mitgebracht. Ganz perfide Geräusche. The worst of the worst. Geräuschreduzierende Kopfhörer sind da machtlos. Und noch in der Erinnerung ruft es außergewöhnliches Unbehagen hervor. Ich will nicht zu viel versprechen: Aber der Lärminator ist das ideale Trainingsgerät für alle akustischen Herausforderungen des Anthropozäns."

 

Moderator: "Ja, die Lärmverschmutzung nimmt zu. Wie ja auch die Umweltverschmutzung, Gewässerverschmutzung, Lichtverschmutzung, Luftverschmutzung ..."

 

Lärm: "Aber ich mache kaum Fortschritte. Man bekämpft mich. Echte Wertschätzung ist selten. Soll ich mich nur noch auf Polterabende freuen? Selbst die Poltergeister mucken kaum auf. Wie eine gespenstische, große Bibliothek: Ein Flüsterschleier sinkt hernieder, erstickt all meine Bemühungen im Keim."

 

Moderator: "Mit dem Lärm des Industriezeitalters wollten wir wohl die Gespenster des Irrealen verscheuchen; uns unserer Realität versichern; unserer Version von dem, was künftig als real gilt; alles andere wird weggeleugnet. Wir lärmen. Vermutlich, weil wir die Stille als Dauergast tatsächlich als unangenehm empfinden – sie macht uns Angst."

 

Lärm: "Hah! Du gibst mir recht! Sie ist unheimlich. Immer plant sie was. 'Ruhe vor dem Sturm' – das ist ihr Markenzeichen. Schiller nennt es 'Die Ruhe eines Kirchhofs'. Lärm und Leben gehören zusammen. Getöse – kein Gedöse!"

 

Moderator: "Seltsame Schlachtrufe. – Extra für Dich: ein bisschen Beifallsgetöse!"

 

Lärm: "Standing Ovations von vier Leuten? Man nimmt, was man kriegen kann."

 

Der Lärm verbeugt sich.

 

Lärm: "Ich befürchte ja, wir führen das Theaterstück auf 'Viel Lärm um nichts'. Ein stiller Kosmos – und hier eine Oase des Lärms. Schallenergie – hier gibt's was auf die Ohren. Für Ohrenschmaus seid Ihr bei mir an der falschen Adresse. Wie wäre es mit einem Potpourri meiner besten Kracher, Brüller und Knüller?"

 

Moderator: "Ambrose Bierce definiert Dich so: 'Lärm: Gestank im Ohr.'"

 

Lärm: "Ja, die Ruhe ist beliebter. Mir gelingen Erfolge schon bei 20 dB. Stinkwut durch Uhrenticken! Bin ich ganz besonders stolz drauf. Muss nicht immer der Presslufthammer mit 100 dB sein. Piesacken ist eine Kunst!"

 

Moderator: "Was rätst Du denen, die sich mit Dir nicht anfreunden können?"

 

Lärm: "Den Lärminator kaufen. Mit Rabattcode 'Superkrach' spart Ihr jetzt 15 Prozent. Konditioniert Euch so, dass Ihr Lärm genießt. 'Das Unerwünschte als maßgeblicher Anteil Eures Daseins' – ist ein Kalenderspruch aus der Hölle. Sehr zu empfehlen. 'Mit Ach und Krach das Leben meistern' – ist auch so ein Spruch von dort."

 

Moderator: "Man verbringt ja viel Zeit damit, die innere Ruhe zu finden. Du meinst, das sei völlig unnötig?"

 

Lärm: "Gebt dem Leben, was dem Leben gebührt: ungebührender Lärm. Besser als Wille ist Unwille."

 

Moderator: "Schön, dass Du uns an Deinen Weisheiten teilhaben lässt."

 

Lärm: "Es geht ja nicht nur darum, sich an Lärm zu gewöhnen – man muss ihn herbeisehnen."

 

Moderator: "In einer Sendung von Otto konnte man Geräusche gewinnen. Was ist Dein Lieblingsgeräusch?"

 

Lärm: "Der Stick-Slip-Effekt hat viel Schönes: das Quietschen von Schulkreide oder Luftballons; das Geigenspiel eines blutigen Anfängers. Haftgleiteffekt, Reibschwingung genannt."

 

Moderator: "Dann doch lieber Fluglärm."

 

Lärm: "Wollen wir Geräusche-Quiz spielen? Ich habe hier einen besonders schönen Lärmteppich. Gewebt aus 1001 Alpträumen."

 

Moderator: "Leider reicht dafür unsere Sendezeit nicht mehr. Viel Erfolg mit Deinem Lärminator. Ich werde meiner Schwiegermutter einen schenken. Am 30. April 2025 ist der 28. "Tag gegen Lärm – International Noise Awareness Day". Wirst Du da sein?"

 

Lärm: "Ganz egal, was Ihr tut: Der Lärm schwillt an; das ist mein Jahrhundert. Lasst es krachen!"

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.08.2024

Alle Rechte vorbehalten

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