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Natur

Das Grün schwindet; das Grau macht sich breit, beansprucht dessen Platz. Natur auf dem Rückzug? Flieht sie vor uns? Fürchtet sie die Kultur, wie ein Löwe den Dompteur fürchtet: eigentlich gar kein Anlass, alles nur ein großer Bluff? Wollen wir uns ernstlich mit der Natur anlegen?

Fühlen wir uns so sehr hingezogen zur Kultur: Die soll die Natur nach und nach ersetzen? Wir fühlen uns wohl damit, es ist bequem, wir machen gute Fortschritte. Obstkultur, Monokultur, Zellkultur Aquakultur ... Kulturübergreifend ist die Kultur übergriffig.

Sollte man seiner eigenen Natur treu bleiben? Oder sind das altertümliche Ansichten – allenfalls was für Frühmenschen und Höhlenmenschen? Aber doch nicht für Vernunftmenschen und Ellenbogenmenschen … Wir setzen uns durch, wir weisen die Natur in ihre Schranken!

"Alle Natur befindet sich im Krieg miteinander oder mit der äußeren Natur", meint Charles Darwin. Also gar nicht gut, sich näher auf die Natur einzulassen. Lieber Abstand wahren. Die ist ja unberechenbar! Abrücken von ihr; so schnell wie möglich. Machen wir, dass wir wegkommen! Zuflucht zur Kultur. Die ist verlässlich. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Mensch sich zur Kultur hingezogen fühlt. So nach und nach übernimmt sie alles; man kann wunderbar delegieren. Man lässt denken: Die KI macht das schon. Warum zu Fuß gehen, wenn man ein Auto hat? Schönheitsoperationen – warum nicht? Man ist am Verbessern; Natürlichkeit gilt als Schwäche; einfach nur peinlich.

Natürlich sagt auch keiner mehr, was er wirklich denkt. Cancelkultur – Cancel-Culture – hält Einzug. Das Lügen wird uns zur zweiten Natur. Das Künstliche nimmt überhand. Man wäre gerne in Übereinstimmung mit seiner eigenen Natur. Was bleibt noch übrig von einem selbst, wenn die Kultur fertig ist mit ihrem Werk? Alles Natürliche ausgetilgt, vernichtet, ausradiert … Natur soll weichen, schrumpfen. Man liest die Genome der Lebewesen, man kennt sie in- und auswendig. Man redet zur Natur in der von ihr erfundenen Gen-Sprache; man entreißt ihr ihre Geheimnisse. Man verändert, bastelt, gestaltet. Der Mensch als genialer Bildhauer, der aus der Natur erst mal was macht. Alles so unbehauen, ein Klotz. Wann ist man zufrieden, wann tritt man zurück und betrachtet mit Wohlwollen sein Werk?

Der Mensch – ein Dauernörgler? Immer gibt es etwas auszusetzen. Die Natur offeriert einfach nicht genügend Komfortzonen. Man muss nahhelfen. Eine schief gewachsene Birke, ein sich windender Bach – geht das nicht mathematisch exakter? Akkuratesse! "Sorry, Wildblume, Du musst hier weg." "Tausche Bäume gegen Windräder!" Die grüne Lunge macht schlapp. "Kultur, komm an meine grüne Seite!"

Natur kann leider nicht debattieren. Natur hat kein Stimmrecht. Debattenkultur – man vermisst sie; steht nicht mehr zur Debatte. Es gibt ja nur noch eine Meinung. Früher hat man sich bemüht, beide Seiten zu sehen. Objektivität war einem wichtig. Jetzt gibt es Vorgaben. Verschweigen, verhüllen ... Laut klingt das Wort in der Lobby. Das hat Resonanz, das überhört man nicht.

Dogmen sind Kult. Es erfasst auch die Wissenschaft: bereits durchtränkt mit Ideologie. Schönheitsoperationen an der Wahrheit. Schön blöd, wenn man das noch glaubt? Pseudowissenschaften boomen. Von Steuergeldern bezahlt. Das Authentische ist der Kultur suspekt; sie bevorzugt das Artifizielle. Alles muss sie nachbessern ... Was treibt die Natur da bloß schon wieder?! Dogmen sind durch Objektivität gefährdet. Das ist ihr natürlicher Feind. Gegenteilige Meinungen verkneift man sich. "Es gibt nur noch eine Betrachtungsweise", sagt der Weise, froh, dass er endlich die amtlich verbürgte Weisheit gefunden hat.

Wie lange lässt sich die eigene Natur erfolgreich verleugnen? Soll man sie ad acta legen? Was rückt dann ins Zentrum vom Selbst? Technik, Ersatzteile, Schrott – eine Cyborg-Seele? Das Individuelle gilt als Verrat an der Sache? "Bitte machen Sie sich diese Meinungen jetzt zu eigen." Kongruenz mit sich selbst? Alles ein wenig verschoben. Man wird verrückt.

Alles steht zur Disposition – das große Austauschprogramm – Natur hat nichts mehr zu melden. Wie eine Strichzeichnung, die durch ein Ölgemälde ersetzt wird: viel schöner, gewaltiger. Aber im Grunde hat man sich gerade ausradiert.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 17.08.2024

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