Meine Freundin Cecilia liebt Rollenspiele. Sie lässt sich gerne inspirieren von berühmten Gemälden. In deren Welt eintauchen ... Vorige Woche war sie Sulamith, die Geliebte Salomos. Einige Kopien aus dem Bilderzyklus "Das Hohelied Salomos" von Egon Tschirch hängen noch immer an unseren Wänden. Mal ein Grund, wieder in der Bibel zu blättern. Man will seiner Rolle ja auch gerecht werden.
"'Adam und Eva' wäre doch nett. Von Albrecht Dürer." Sie schaut mich erwartungsvoll an. "Das verspricht reichlich Sünde. Die Kunst muss herhalten als Stimulanz für Erotik." "Genau", sie gibt mir recht.
Vielleicht sollte man öfters mal eine lebende Statue sein – innehalten, pausieren? Ganz Kunst werden. Man kann jede Figur in jedem Gemälde sein ... "Warum bist Du so versessen auf lebende Gemälde? Wieso müssen wir immer jemand anderes sein? Fliehen wir vor uns selbst?", will ich von ihr wissen, derweil sie mir einen Zweig mit einem Apfel in die Hand drückt.
"Setz Deine Lockenperücke auf – und schau bewundernd zu mir rüber", lautet ihre Regieanweisung. Sie zieht eine Schlange aus ihrer Reisetasche. "Könntest Du die ansprechend platzieren?" "Die ist echt??!" "Ja, aber die kann nicht sprechen."
Ich frage mich, ob all diese 'Tableaux vivants' ihrem Verstand geschadet haben. "Cecilia, übertreiben wir nicht?" "Ich bin Eva." "Jaja, aber zum Zeitvertreib die Vertreibung aus dem Paradies nachzuspielen, hat doch auch was Blasphemisches?" "Erst hören wir auf die Schlange – und dann machen wir es uns gemütlich außerhalb des Paradieses", lautet ihr Vorschlag. Die Schlange windet sich an meinem Bein hoch. "Lass doch den Apfel nicht fallen!", herrscht sie mich an.
Ich beginne zu ahnen, wie dem armen Adam damals zumute gewesen sein muss. Männlich zugeben, dass es seine Schuld war, statt mit Ausflüchten zu kommen? Wäre dann ein Verzeihen noch im Bereich des Möglichen gewesen? Hat Gott vor allem Adams Feigheit gestört? Feigenblätter zuhauf in der Menschheitsgeschichte. Auch an Deckmänteln hat es nie gefehlt.
"Wir kommen nicht gut klar mit Verboten. Renitent von Anfang an." Cecilia meint: "Siehst Du, wie gut es Dir tut, Dich auf das Rollenspiel einzulassen? Manchmal muss man bei Adam und Eva anfangen, um den alten Adam ablegen zu können." "Ja, aber der alte Adam regt sich bei mir." Sie steht mittlerweile nackt vor mir. "Schickes Evakostüm. Gut, dass wir nicht die Tizian- oder Rubens-Version nachstellen. Bei Dürer ist alles dürrer." "Willst Du behaupten, dass ich dürr sei??!" Selbst die Schlange zuckt zusammen. Gewitterstimmung – als ob die Vorbereitungen für die Jungfernfahrt der Arche Noah laufen.
Ich betrachte angelegentlich das 'Adam und Eva'-Poster. Sich in den Kunst-Bereich flüchten, wenn das Reallife einem zu schaffen macht. Cecilia sieht sich in unserer Wohnung um. "Es sieht noch nicht paradiesisch genug aus. Das Land, wo Milch und Honig fließt ..." Mir schwant Übles. Sie ist schon beim Kühlschrank – und holt die Milchpackung heraus. "Holst Du mal den Honig?"
Man kann die Cherubim verstehen, dass sie uns nicht zurück ins Paradies lassen wollen. Befehl von ganz oben. Wir würden ohne Gnade Gartenzwerge in den Garten Eden stellen. Ganz andere Vorstellungen von Idylle als Gott. Da gehen Meinungen auseinander.
"Ungetrübtes Glück – das ist so wie ständige Sommerhitze", sage ich zu Cecilia. "Und ich bin der Regen – oder was?" Versteht sie mich mit Absicht falsch? "Wir könnten mal wieder Rippchen machen", schlage ich vor. Ich finde mich immer besser in meine Rolle hinein. Cecilia meint: "Vielleicht haben Adam und Eva dauernd gezofft – und das war der eigentliche Grund für den Rausschmiss? Immerhin gab es eine Garnitur Fellkleidung gratis – geschneidert von Gott. – Ich habe gar nichts anzuziehen!" "Das genau gefällt mir. Für feierliche Anlässe: ein Feigenblatt. Kesser Lendenschurz hätte auch seine Reize."
Cecilia meint: "Was ich nicht versteh: Andauernd heißt es in der Bibel 'Und Gott sah, dass es gut war' – aber Er ist ständig unzufrieden mit Sich und Seinem vermeintlichen Meisterwerk. Hat Er ernsthaft erwartet, dass wir als schlichte Befehlsempfänger uns in alles so einfach fügen?"
Ich antworte: "Es gibt den Begriff 'Konkupiszenz': Der Mensch liebt die Sünde. Verbote sind für ihn Herausforderungen, Challenges. Von Natur aus ist man kein Asket." "Adam als Nerd. Reichlich Mansplaining." Die Schlange meint: "Sorry, Leute, dass ich mich einmische, aber ich bin ja in diese Geschichte doch sehr involviert."
Ich vermute zu Recht, dass wir beide zu viel Gras geraucht haben ... Kann man das abtun als Hirngespinst? "Kann man nicht!", widerspricht die Schlange sofort. "Jede Beschäftigung mit der Bibel legt tiefere Schichten des menschlichen Wesens frei. Wunderbar. Leichter zugänglich für unsereins. Der Teufel beziehungsweise die Teufelin sucht ja die Pforte, den Zugang in Euer erbärmliches Reallife – oder was Ihr dafür haltet. Gestattet, dass ich mich verwandle." Ein greller Blitz erhellt die gute Stube. Ich bin enttäuscht: Die Schlange hat sich nicht verwandelt. "Verdammt! Der Mechanismus klemmt!"
"Sollten wir nicht den Zoo anrufen?", will Cecilia von mir wissen. "Wo hast Du die her?" "Ich hab die mir aus dem Zoo geliehen." "Ich bin aber keine Requisite. Typisch menschliche Sitte: Alles für sich beanspruchen ..." "Schlangen können nicht sprechen!", behaupte ich. "Wer diskutiert denn hier mit einer Schlange?!" Verdammt gutes Argument der Schlange.
"Vielleicht sollten wir mit ihr verhandeln?", schlägt Cecilia vor. "Das hat ja letztes Mal auch so wunderbar geklappt", lautet mein Einwand. Ich finde gar nicht wieder raus aus dieser Adam-Rolle. Die Bibel steckt voller Magie. Selbst Teile von ihr, Absätze, Sätze durchdringen einen. Die Logik versucht gar nicht erst, sich da einzumischen. Heidenrespekt vor allem, was den Wesenskern des Seins und des Menschen ausmacht. Für sie sind das alles Singularitäten, Paradoxien.
"Nun tu doch was!", fordert mich Cecilia auf. Ich beiße erneut in den Apfel. Bekomme ich noch mehr Weisheit, Erkenntnistiefe? Ich sage: "Lapsus Adami – der Sündenfall – erstaunlich präsent. – Stell Dir vor, wenn nur Eva allein in den Apfel gebissen hätte. Die Männer könnten noch immer im Paradies sein!" "Ganz verquere Logik! Und wieso hast Du überhaupt einen Bauchnabel?!"
Der Schlange scheint unser kleines Streitgespräch zu gefallen. Sie leuchtet giftgrün. Cecilia meint: "Von all den Tieren im Paradies konnte tatsächlich nur die Schlange sprechen? Das ist außergewöhnlich. – Gott erschuf alles vor allem durch das Wort. Sprechakte. 'Und Gott sprach: ...' – wie ein Magier; es geschieht kraft Seines Willens. Das Sprechen ersetzt das Handeln, das Sprechen ist das Handeln."
Ich sage: "Was mich beeindruckt: Mit 130 zeugt Adam seinen dritten Sohn, den Set. Der konnte sich Zeit lassen. Außerdem hat er ganz alleine die Tiere des Feldes und des Himmels benannt. Da warst Du noch Rippe." "Und, war es alleine so viel besser?! Außerdem: Tiere benennen – das kann doch jeder!" "Es hat sich zumindest keiner beschwert", antworte ich gereizt. Wieso liegt mir so viel daran, Adam zu verteidigen?
Cecilia sagt: "Was unheimlich ist: Zu Noahs Zeit, 'als die Gottessöhne mit den Töchtern der Menschen verkehrten und diese ihnen Kinder gebaren, waren die Riesen auf Erden.'" "Vielleicht weiß die Schlange dazu Näheres?" Ich blicke die Schlange erwartungsvoll an. "Schau an, die Krone der Schöpfung braucht Rat. Durch mich wurdet Ihr zum Ausbrecherkönig. Wer will den Hortus conclusus, einen verschlossenen Garten, wenn ihm das Universum gehören kann?" Ich pflichte der Schlange bei. Sie hat ja sowas von Recht!
Cecilia benimmt sich unartig: Sie reibt mich mit flüssigem Honig ein ... Mein Feigenblatt verrutscht. "Jetzt wird es paradiesisch!", sagt sie verheißungsvoll. "Ich sollte viel öfter mein Evakostüm tragen. Sitzt wie angegossen."
"Da wäre noch ein Baum, dessen Früchte näherer Betrachtung wert sind: 'Der Baum des Lebens'", zischelt die Schlange. Ich sage: "Alles sehr verführerisch; man weiß gar nicht, wo man zuerst hinlangen soll." "Lass Dich von der Schlange nicht vom Wesentlichen ablenken!", ermahnt mich Cecilia. "Mir ist so Eva-ngelisch!"
Ich antworte: "Die Konkupiszenz-Theorie stimmt vermutlich: Die Begierde mag keine Verbote; sie setzt sich darüber hinweg. 'So tauml' ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht' ich nach Begierde.'" Das ist doch gut so", meint die Schlange, "nur so könnt Ihr wachsen." Cecilia sagt: "Man wächst mit seinen Aufgaben: Je mehr man aufgibt, umso größer wird man. – Jetzt aber zurück zu Deiner Pflichtaufgabe: keine Kapitulation bei der Kopulation."
"Aber vielleicht kennt die Schlange den Weg ins Paradies?", gebe ich zu bedenken. "Wie kommt man denn an den Cherubim vorbei? Die haben so eine Art Lichtschwert. Es werden doch keine Jedis sein? Flammende Schwerter ... ich finde, da sind Ähnlichkeiten." "Jedis bewachen das Paradies? – Du guckst zu viel Star Wars."
Die Schlange meint: "Ich hab Connections, ich schaffe das." Neben dem Philodendron materialisiert sich ein Cherub. "Ich sollte mir was anziehen", meint Cecilia. "Wir machen hier ein Rollenspiel", erkläre ich dem Cherub, da er sich fragend umsieht. "Und dabei beschwört Ihr einen Engel herbei? Aber ich habe momentan ohnehin nichts Besseres zu tun. Als Paradies-Wächter kommt man nicht viel rum. Hey, Schlange; so sieht man sich also wieder!"
Das geht ja glatt über die Bühne. Er hat in der Tat ein Lichtschwert dabei. Ich darf es testen – und zerlege damit den Wohnzimmerschrank. Geht durch wie Butter. Tadellos. "Cool." Der Cherub ähnelt einem Sphinx. Wobei sein Löwenanteil nicht ganz festgelegt zu sein scheint: Mal wirkt er gänzlich wie ein Mensch mit Flügeln, mal wie ein verzauberter Löwe. "Das hängt mit meiner Stimmung zusammen. Ich habe darauf kaum Einfluss. Manchmal ähnele ich einem Rind, einem Adler oder allem zugleich."
Cecilia will unbedingt ein Selfie mit ihm machen. Sie hat völlig vergessen, dass sie nackt ist. "Frag ihn nach dem Lebensbaum", ermahnt mich die Schlange. Jetzt wäre die Weisheit Salomos recht nützlich; Adam ist ja nicht so bekannt für seine klugen Entscheidungen. "Alexa, spiel Harfenmusik!" Soll der Cherub sich wie zuhause fühlen. "Was darf ich Dir anbieten? Cola, Sekt, Kaffee, heißen Kakao?" "Ja, bitte. Für jede meiner vier Persönlichkeiten ein Getränk. Wie passend." Er legt seine Füße auf den Wohnzimmertisch. "Idyllisch. Es gelingt wohl immer nur, sich kleine Idyllen einzurichten. Das ganz große Paradies blieb Euch verwehrt. Schade eigentlich. Engel und Menschen – wir hätten uns gut verstanden. Aber auch wir müssen gehorchen. Man öffnet die Bibel – und das Reale tritt zurück; eine andere Realität erwacht; als würde sie jäh geweckt."
Der Cherub verspricht wiederzukommen. Er würde sich gerne unseren Fernseher ausleihen. Das Streaming-Angebot bei Netflix überwältigt ihn. "Das würde mir so gut die Zeit vertreiben. Man kennt die Jokes der anderen Cherubim. Man wacht, man wartet, man steht sich die Löwenbeine in den Adlerbauch." Cecilia massiert ihm den Nacken. "Lebendes Gemälde – interessante Idee. Verschmelzen mit dem Geist eines anderen. Überlagerung: beides zugleich sein. Adler, Löwe, Rind, Mensch ... Überlagerung von Waren – übermäßig lange lagern: Das schadet einem, die Qualität nimmt ab. Ich bin es leid: Hier, da habt Ihr einen dieser goldenen Äpfel vom Baum des Lebens!" Er legt ihn auf den Tisch. Ist das ein Test? Erneute Versuchung? Einfach nur ein Gastgeschenk? Ewiges Leben als kleine Aufmerksamkeit? Ob ich das Lichtschwert auch behalten darf? Ist ja fast wie Weihnachten.
"So, ich will Euch nicht weiter stören bei der schönsten Nebensache der Welt." Sein Blick wandert immer wieder rüber zum Fernseher." "55 Zoll – Du kannst den gerne haben." Hatte gar nicht gewusst, dass Engel so scharf aufs Streaming sind. Hoffentlich kommen die dann ihren anderen Aufgaben noch nach. Keine Ausfälle bei der Schutzengel-Truppe. "Danke." Er miniaturisiert den Fernseher auf Daumennagelgröße. "Lässt sich so besser transportieren. – Man sieht sich!" Mit einem Plopp ist der Cherub verschwunden. Wie weggezappt.
"Wie isst man einen goldenen Apfel?", will Cecilia wissen. "So", meint die Schlange und schlingt ihn im Ganzen runter. "Wie gewonnen, so zerronnen", lautet mein Kommentar. "Von wegen!" Cecilia geht mit einem Besen auf die Schlange los.
Leider hört zu diesem Zeitpunkt die berauschende Wirkung des Grases auf ... und wir verstehen nicht mehr, was die Schlange uns mitteilen will. Magie hängt immer ab vom Grad des Highseins. Das Normale hat uns wieder. Aber wo ist der Fernseher?
Cecilia sagt: "Nächste Woche hören wir uns Richard Strauss' Oper Salome an. Ich tanz den 'Tanz der sieben Schleier' für Dich. Müssen ja nicht immer Gemälde sein, die uns elektrisieren."
Ein wenig fühlt man sich wie aus dem Paradies getrieben, wenn der Rausch nachlässt. Das gilt wohl für jeden Rausch; auch das Schreiben kann ein Rausch sein. Man verlässt als Autor seine Figuren, die man soeben belebt hat, ihnen den Lebensatem eingehaucht hat. Man möchte von sich möglichst oft sagen können: "Und der Autor sah, dass es gut war." Aber das mögliche Zerwürfnis mit der eigenen Schöpfung bleibt wohl immer ein hochaktuelles Thema.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2024
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