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Das Süßholzraspler-Virus

Ich bin liebend gern ein Brummbär, komme damit gut zurecht: Leider habe ich mich mit dem hochansteckenden Süßholzraspler-Virus infiziert. Witzigerweise arbeite ich in der Holzbranche. Alles erscheint mir momentan irgendwie witzig; völlig verzerrt – das Virus verändert die Gehirnchemie, es macht einen netter, geselliger – ohne Erbarmen.

"Hey, Zuckerschnecke!", sage ich zu der Verkäuferin. Vor der Süßholzraspler-Pandemie wäre das ein glatter Verstoß gegen die Etikette. Jetzt aber haben die Menschen Verständnis für klebrige Sprüche. Sprache wie klebrige Süßigkeit. Man lächelt zuckersüß, auch wenn man heftigste Schmerzen hat. Eine groteske Joker-Welt.

Ich kaufe mir ein Honigbrötchen. Verlangen nach was Süßem – und noch mehr. Früher war Süßholzraspeln allenfalls ein Hobby – jetzt sind die Infizierten unentwegt damit beschäftigt. Man macht sich gegenseitig den Hof. Die Kopulations-Häufigkeit steigt exponentiell. Komplimente schwirren durch die Luft ... Die ganze Gesellschaft hat die Zuckerkrankheit. Im Kaufhaus spielen sie das Lied "Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanzgruppe"; ich singe mit – mein Bewusstsein wird gar nicht erst gefragt. Das Virus setzt Merkwürdiges in Gang. Manchmal erscheint einem die Welt wie in Zuckerwatte eingepackt, gehüllt. Ein riesiger Kokon. Da schlüpft doch nichts Gutes raus? "Ey, Praline, setz Dich zu mir!", rufe ich einer hübschen Passantin zu. Ein Flirt-Sturm zieht auf? Man klebt aneinander, es zieht einen zum Nächstbesten. Früher mochte ich schwarzen Kaffee – jetzt nur noch mit viel Zucker und Sahne. Streuzucker immer dabei – früher ein Springmesser. Die Gewohnheiten haben sich verändert, die Persönlichkeit verändert sich sukzessive. Als ob man ein neues Organ eingepflanzt bekommen hätte.

Vor einem Schaufenster versuche ich meinen berühmten bärbeißigen Gesichtsausdruck – aber die Freundlichkeit ist beharrlich, sie weicht nicht: Echter Ingrimm sieht anders aus. Ich bin zutiefst enttäuscht – aber man sieht es mir nicht an. Ein Honigkuchenpferd könnte nicht zufriedener wirken. Dass man sich tatsächlich mal nach Unzufriedenheit sehnen würde ... Ein älterer Mann neben mir kämpft gleichfalls mit seiner Mimik. "Die macht einfach nicht das, was sie soll! – Ich war früher berühmt für meine toxische Männlichkeit. Jetzt purzeln mir die Komplimente über die Lippen. Ich finde alles goldig. Ich stecke im Lobe-Sumpf fest! Zieht mich denn keiner hier raus?!" Er streckt tatsächlich die Arme nach oben; und ich bin versucht, ihn aus seiner Misere zu ziehen – als ob das ein Bühnenstück sei.

"Ich bin unterwegs zum 'Friedhof der ehrlichen Worte'", sage ich theatralisch. Mein Satz stößt auf Interesse. Man sehnt sich nach der guten alten Ehrlichkeit. Nicht mal diese Varianten sind dem Virus genehm: bittersüß, herbsüß, süßsauer ... Er versüßt uns das Leben ohne Gnade. Die Welt wird ein widerlich süßes Kompott – mir ist kafkaesk zumute. Ein Zuckerberg. Zuckerbrot ohne Peitsche.

Ich kaufe als Wegzehrung ein paar Kekse. Ich lobe die Natur, den Bäumen mache ich Komplimente, die Vögel kriegen ein paar Keks-Krümel ab; es wird sonniger ... Ich muss dem Virus den Garaus machen. Man will man selbst sein – auch wenn es die widerliche Version ist. Ein Anrecht auf Missmut. Früher hatte man ein inneres Navi; jetzt habe ich zig Apps auf meinem Handy – und keine weist mir den Weg zum 'Friedhof der ehrlichen Worte'. Meine Kollegin Sarah läuft mir über den Weg. Ich kenne sie schon seit Jahren – so eine Beziehung wie bei Alice: "Fast jeden Tag traf ich sie im Flur. Ich grüßte jedes Mal, doch sie lächelte nur."

"Geht es Dir nicht gut?", will sie von mir wissen. Ich will es unterdrücken – doch ich rede sie an mit "Hasipupsi".

"Du glaubst gar nicht, wie vielen Süßholzrasplern ich heute schon begegnet bin!".

"50.000? Es gibt dafür vermutlich eine App – so wie ein Schrittzähler." Sie findet meine Antwort witzig. Aber was heißt das schon? Halb-Infizierte und Voll-Infizierte sind immer angenehm berührt von allem, was ihnen so widerfährt.

"Wir versinken im süßen Morast", sage ich so beiläufig wie möglich. "Man will nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt sein wie der Rest der Gesellschaft."

"Die Süßholzraspelei vereint uns schön", erhalte ich von ihr als Antwort.

 "Vereint im Geiste. Aber was macht ein hölzerner Süßholzraspler?"

"Man muss fleißig üben. Ich habe gerade etwas Zeit."

"Das Schicksal wirkt wie ein Zuckerbäcker. Kann man dem trauen? Ich will mal wieder sauer sein. Unvermischt!", sage ich – aber es klingt nicht barsch, sondern ich singe es fast wie in einem Musical. "Die Musical-Version des Lebens – inklusive Sonnenuntergängen mitten am Tag."

"Ist mir auch schon aufgefallen – die Sonne macht dieses ganze Theater mit, sie ist einbezogen in diese Aufführung. Wie ein gelber Lolli klebt sie am Firmament – als ob sie jeden Moment auf uns herabstürzen würde. Dann lässt sie sich plötzlich in den Horizont sacken. Die Wolken mit Puderzucker bestreut ... Als ob es jemand darauf abgesehen hat, dass man den Tag lobt. Selbst der Regen ist sanft, hat ein gutes Rhythmusgefühl. Es wirkt wie eine Venusfliegenfalle: Das Süße lockt uns geradewegs in den Tod." Sie hat das gut analysiert, das ausgesprochen, was in meinem Unterbewusstsein nur als Rohentwurf stand.

"Lass mich von Deinem Nektar kosten!", sage ich völlig unpassend zu ihr. "Der Nihilismus lässt sich nicht so einfach beiseiteschieben; er will auf der Bühne bleiben. Für ihn ist das alles die Süßlichkeit des Todes."

"Wieso so dystopisch?", will sie von mir wissen. "Knuffige Welt. Das Unheilvolle wird angenehm und stilvoll überdeckt, überlagert von köstlicher Glasur. Alles wird zur süßen Versuchung." Will sie geküsst werden? Sollte man letztlich dem Süßholzraspler-Virus dankbar sein? Überall sind jetzt Lakritz-Shops; Symbol der neuen Zeit?

Sie nennt mich Honey. "Mach mir den Kuscheltiger!" Ich komme ihrer Aufforderung gerne nach. Das läuft hier besser als im Lied mit Alice. Sie meint: "Wir leben Tür an Tür mit dem Glück – das hat uns das Virus offenbart. 'Just waitin' for a chance' – ist einfach nicht genug."

Aus Versehen nenne ich sie Alice – doch sie lächelt nur. Dann ist das eben die Zuckerbäcker-Version des Seins. Ich singe: "Zucker im Kaffee. Und Zitrone oder Sahne in den Tee. Und im Herzen alle Tage lang Amor. Das ist wunderbar, Señora!"

Die Wolken tanzen. Einige machen allerdings auch obszöne Gesten. Pantomime vom Schlimmsten. "Was die sich trauen!" "Vermutlich wollen sie uns anfeuern", meint Sarah. Selbst den Straßenlärm verwandelt das Virus in eine Symphonie, eine Klangwolke. Häuser scheinen miteinander zu flirten; aneinander gelehnt, man stützt sich, gibt sich Halt; ein gemeinsames Ruhen.

"Man hat schon lange keine Schimpfworte mehr gehört. – Wie ausgestorben. Ein Brummbär wäre fehl am Platz – trotz all des Bärendrecks und Bärenzuckers", sinniere ich. Bäume verformen sich zu Lakritz-Schnecken. "War das gestern auch schon so?"

"Sage mir was Süßes", bittet mich Sarah. "Ich habe Entzugserscheinungen. Das Virus verlangt verbale Süßigkeiten.

"Bestes Bunny!", sage ich versuchsweise zu ihr. Balzen jetzt bereits die Bäume im Park? Irgendwie ansteckend – die Natur swingt. Nicht uninteressant. Standen der Kirschbaum und der Apfelbaum immer so nah beieinander? Unsittliches Verhalten der beiden?

"Ich sollte mir einen kirschroten Lippenstift besorgen", meint Sarah, die meinen Gedankengängen auf wundersame Art problemlos folgen kann.

"Süßes macht Appetit auf weitere Süßigkeiten – ohne Ende."

"Ich hoffe, dass Du unersättlich bist", erwidert Sarah.

"Tür an Tür mit Sarah – gefällt mir gut. Dank Süßholzraspler-Virus kann man mit der Tür ins Haus fallen."

 

ENDE

 

Impressum

Cover: https://pixabay.com/de/photos/s%C3%BCssigkeit-lakritze-farben-bunt-171343/
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2024

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