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Fan der Fantasie

Fantasie kann beflügeln, sie kann einen zutiefst erschrecken, sie fordert einen heraus. Sie hat Monster zu bieten – und Wesen mit Engelsgeduld. Es ist nie wirklich Verlass auf sie. Man bedient sie nicht per Knopfdruck; sie ist zwar nicht unwillig, aber eigenwillig. In den unpassendsten Momenten präsentiert sie uns stolz ihr neuestes Geistesprodukt. Wie soll man da mit der Realität klarkommen – wenn sie was viel Fantastischeres anzubieten hat? Sie verführt einen, sie hat zig Parallelwelten der Realität im Angebot – alle mit mehr oder weniger Magie als Zutat. Die magielose Version empfindet man als stumpfsinnig. Dennoch meint der Süchtige: "Fantasie – verlass mich nie!"

Albert Camus meint: "Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind." Da ist er wieder: der Eskapismus-Vorwurf. Als ob die Fantasie nicht das Zeugs dazu hätte, das Real Life selbst besser zu machen, es umzugestalten, wie ein guter Gärtner aus einem Stück Natur im Nu einen Traumgarten macht. Umgestalten, mitgestalten; die innere Welt will beteiligt sein. Sie sieht da Möglichkeiten. Der Mikrokosmos projiziert fleißig, eifrig seine Visionen auf die Makrokosmos-Leinwand. Warum sich nur mit mentalen Bildern begnügen? So eine winzige Leinwand. "Die ganze Welt soll es erfahren!", meint die Fantasie ganz im Stil des tapferen Schneiderleins.

Künstler würden ohne sie nicht weit kommen. Wunderschöne Fantasiegebilde. Als Schriftsteller bemüht man sich sodann, ihnen das allzu Irreale zu nehmen; sie sollen an Glaubwürdigkeit gewinnen. Fit for Real Life. So wandert man zwischen den Welten. Sucht sich was Passendes aus seiner Fantasiewelt und verfrachtet es in die Realität; ist es dort willkommen, stimmt die Beleuchtung? Völlig anderes Framing. Wie macht sich das Ausgedachte inmitten eines realen Settings? Architekt des Möglichen. Mathematik und Physik haben ihr ein Wörtchen mitzureden: Alles nimmt das Real Life nicht so ohne Weiteres an. Als ob es eine gut funktionierendes Immunsystem hat – es stößt allzu große Hirngespinste ab.

Man malt sich gerne etwas aus. Das Gehirn als Ausmalbuch. Man stärkt die Fantasie, man trainiert sie ... Wächst sie einem über den Kopf – wie ein Gestrüpp wuchert eine allzu üppige, blühende Fantasie alles zu? Sie raunt einem was zu von Großmachtfantasie. "Wolltest Du nicht immer schon ein Omnipotenzgefühl haben?" Klingt ja nicht schlecht. Man lässt sie weiterreden. Sie ist sehr fantasievoll bei ihrer Argumentation. "Das Real Life ist doch uninteressant im Verglich zu mir?" Sie will das bestätigt haben.

Träume haben den Nachteil, dass sie sich nicht gut verpacken lassen; man muss sie meist im Traumland lassen. Fantasie hat dieses fantastische Arrangement mit dem Bewusstsein: Sie ist präsent, sie ist verfügbar, sie geht auch gerne für eine Weile ins Archiv. In der Musik gibt es die Fantasie als Kompositionsform. Spontan soll es sein, nicht der Form unterworfen, der Einfall hat freies Spiel. Was fällt der Fantasie ein? Nicht immer wartet sie auf ihr Stichwort. Sie liebt die überraschenden, spontanen Auftritte. Vorlaut; aber immer willens, mitzuarbeiten an den aktuellen Problemen. Manchmal übereifrig ... Verliebt in ihre Art des Herangehens: Magie verkürzt die Wege. Soll man sie jedes Mal zurechtweisen? "Was wäre, wenn ...?", ist wohl ihr Lieblings-Mantra. Das Unbequeme des Real Lifes einfach mal fallenlassen, ganz neue Bedingungen schaffen, eine Hobby-Werkstatt mitten im Mythen- und Märchenwald. Über den Umweg über das Magie-Dorf auf eine neue Ebene der Realität. Gedachte Zwischenstationen. Kann man hinterher ja wieder ausradieren, entfernen.

Fantasie bereichert einen – muss sich auch die Evolution gedacht haben: Sie beschenkte uns mit Vorstellungsvermögen. Der Fantasie verdanken wir: Einfallsreichtum, Erfindungsreichtum, Ideenreichtum. Afantasie wäre eine Strafe. Wobei man dann vermutlich eher den Fokus beim Hier und Jetzt hätte. Die Fantasie ermöglicht einem Ausflüge in die Vergangenheit und Zukunft; man ist ungebundener, man beschwört die Geister der Vergangenheit. Im Verbund mit Sorgen nicht immer eine angenehme Erfahrung. "Sich in Fantasien verlieren" – man gewinnt nicht immer durchs Fantasieren; man verliert vor allem Zeit. Dem Real Life Zeit abzwacken, es großzügig der Fantasie zukommen lassen, es ihr zuschieben. Den Schwerpunkt verlagern.

In gewissem Sinn ist die Fantasie so etwas wie eine Virtual-Reality-Brille: Mentale Kommentare, Anmerkungen blenden sich ein in das Geschaute; Zusatz-Infos – manchmal auch Filter. Fantasie schafft Abstand – das hat sie mit dem Humor gemeinsam. Man vergrößert den Abstand zur Realität – da sind Zusatz-Hindernisse, Gräben, Barrikaden. In gewissem Sinne ist das auch ein Schutz, ein Puffer. Die Fantasie kann was abpuffern, sie modifiziert im Handumdrehen das ihr Vorgesetzte. Sie ist der Vorgesetzte der Realität. Jedenfalls führt sie sich oft so auf. "Sapere aude" – der Fantasie gestatten, kühn zu sein. Im Real Life ist das Universum verdammt groß – die Fantasie verkleinert sich das auf handliches Format. "In a nutshell" – die Kurzversion. Sich geistig darüberstellen.

Und was macht man mit all den Fantasieprodukten, mit den Phantasmen? Wo soll man sich die ganzen Bilder hinhängen? Zu viel Deko in der Innenwelt? Noch ein Vorstellungsbild ... Fantasieren als Gruppenerlebnis: zusammen etwas zusammenfantasieren. Vielleicht lässt sich ja die Zukunft davon beeindrucken – und schlägt einen anderen Kurs ein? Hoffnung als Zutat großzügig beimengen; auch wenn der Realist abfällig grummelt: "Ausgeburt der Fantasie!" Tja, immer diese Wirklichkeitsmenschen. Denen sollte man kein Wolkenkuckucksheim zum Geburtstag schenken. Für Fantasy Bras – juwelenbesetzte BHs – von Victoria's Secret können die sich eher begeistern? Das ist was zum Anfassen. Auch wenn sie "Diamond Dream", "Dream Angel", "Heavenly Star" und "Bombshell" heißen. Der Realist will alles anfassen können. Aber Mental-Bilder beeinflussen uns, das Gedachte bewirkt etwas, es verändert die Wahrnehmung. Es ist ein anderes Framing, ein anderer Rahmen für das Reale. Pompöser, lächerlicher. Etwas wird bagatellisiert, aufgewertet; man stellt andere Bezüge her. Schmutzige Fantasien peppen den grauen Alltag auf. Triste Politik erlangt durch raffinierte Verschwörungsfantasien den Status eines erstklassigen Thrillers. Sich Gefahren vorstellen – das hat den Vorteil, dass man sie dann bereits näher kennt.

Wie soll man ohne Fantasie originell und innovativ sein? Folgerungen alleine bringen einen nur etwas voran. Die Fantasie ermöglicht einem Riesensätze, man überspringt Hürden, Abgründe, Gräben in Rekordzeit. Bruchlandungen lassen sich verschmerzen – es ist alles virtuell. Die Philosophie ist beinahe eine reine Fantasie-Wissenschaft. Gedankenexperimente, Gedankenkosmos – hoffen auf Gedankenschwere. Alles nur Gedankenspielereien – Überlegungen, die einen nicht überlegen machen? Die Fantasie ist per se unverbindlich. Sie will ja nur spielen. Man muss ihr diesen Glauben lassen. Sie ist kein Arbeitstier, kein Workaholic. Sie macht ihr Ding. Sie bewahrt sich eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der Seele, dem Bewusstsein, der Ratio. Wie eine Katze – etwas domestiziert, aber eben nicht völlig. Sie hält die Verbindung zu ihrer eigentlichen Heimat: den Sternen. Sehnsucht dahin zurück. Das rein Reale ist ihr zu wenig, das gibt ja nichts her; da braucht sie anderes Material. Sie fühlt sich dem Künstler verbunden, gesellt sich gerne zum Maler, macht ihm Vorschläge. Immer auf der Suche nach dem Eigentlichen. Hinter dem Sagbaren und Malbaren, das Unsagbare und Unmalbare.

Die Fantasie ist kein guter Führer. Ein Pionier, der sich öfters am Tag verirrt, nicht mal den Startpunkt mit Sicherheit wiederfindet. Wildes Spekulieren liegt ihr. Man sollte sie aber nicht unbeaufsichtigt an der Börse agieren lassen. Manchmal helfen Requisiten der Fantasie auf die Sprünge: beispielsweise ein Fantasy Bra. Mann kommt ins Träumen. "Star of Victoria", "Champagne Nights" ... Manchmal ist die Fantasie gar nicht zu halten, sie eilt schon mal voran, in der Hoffnung, dass das Real Life irgendwann hinterhertrottet. Aber sie hat auch ihre Gesetze. Es gibt zunächst unüberwindbare Mauern; vor allem Gefühls-Mauern. Oder sie scheut sich wie ein Pferd beim Parcours, ein besonders schwieriges Hindernis zu nehmen. Sie gibt es ungern zu, aber sie ist doch stärker an die Realität gekettet, als ihr lieb ist. Kein Freigeist im eigentlichen Sinne. Eher ein Begleiter der Realität: Wie ein Mond auf einer Umlaufbahn um seinen Planeten kreist – oder ein Adler, der hoch über dem Adlerjäger, dem Berkutschi, kreist. Fantasie macht uns größer oder kleiner – zu Riesen oder Gnomen; sie hat diese Macht. Bannflüche, Verwünschungen, Verzauberungen – alles in ihrem Repertoire. Sie gibt dem Leben das gewisse Etwas; sie hat aber auch den umgekehrten Effekt: Sie kann alles zerstören, alles zunichtemachen, sie kann dem schönsten Sonnentag etwas Dämonisches oder Beunruhigendes verleihen. Wo ist der Fantasie-Regler? Man befiehlt ihr am besten indirekt etwas. Bei der direkten Ansprache kann sie patzig reagieren. Ihr etwas nahelegen, es ihr unterschieben, es mit Suggestionen versuchen – mal sehen, ob sie darauf anspringt, sich darauf einlässt.

Es ist nicht immer leicht, ein Fan der Fantasie zu sein. Wohin zieht sie einen diesmal? Oft kommt sie der Konzentration in die Quere. Allem Ernsten abgeneigt. "Komm, spiel mit mir!", ruft sie einem immer wieder zu. Joan Miró meint: "Das Unbewegliche beeindruckt mich. Diese Flasche, dieses Glas, ein großer Stein an einem verlassenen Strand, diese Dinge bewegen sich nicht, aber meine Phantasie bewegen sie sehr." Die Fantasie macht aus allem etwas – sie macht aus der Mücke einen Elefanten – aber auch umgekehrt. Ein Magier in einer magielosen Welt. Eigentlich haben wir sie gar nicht verdient. Wir sind prosaisch, Pedanten ...  Sie soll jobben bei Faktenhuber & Co.?

Vielleicht sollte die Einbildungskraft den Naturkräften zur Seite gestellt werden? "Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns", meint Immanuel Kant. Sie beeinflusst uns. Wie soll das Arrangement aussehen: Wollen wir eine schwache oder eine starke Wechselwirkung zwischen ihr und uns? Misstraut man der Fantasie – ist sie Freund, ist sie Feind? Urplötzlich wendet sie sich gegen einen, zerfetzt Plan A und Plan B, malt den Teufel an die Wand, unkt weltmeisterlich. Unke als Krafttier?

Albert Einstein ermuntert die Fantasie sogar: "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." Aber auch tröstlich: Wenn alles erforscht wurde, die Wissens-Wiese vollends abgegrast, dann bleibt uns noch immer die Fantasie, stets jung, unverbraucht, bereit zu neuen Taten und Schandtaten. "Alles wiederholt sich im Leben, ewig jung ist nur die Phantasie. Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie!", ist auch Friedrich Schiller überzeugt.

Ist die Wirklichkeit ihr Endgegner? Genügt ihr ein Sieg nach Punkten? Aber was will die Fantasie mit lauter Fantasten? Ich glaube, insgeheim liebt sie die Realität, sie profitiert von diesem Spannungsverhältnis. Das macht ihre Auftritte nur umso spektakulärer. Wie eine Diva, die eine Prunktreppe herabschreitet. Eine Kellertreppe wäre dafür ungeeignet. Die Wirklichkeit gibt ihr das Ambiente, den nötigen, effektvollen Background.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2024

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