Wahn als Begleiter des Menschen, der Menschheit. Nur auf Vernunft setzen? Man muss an besondere Befähigung und Berechtigung glauben. Was wäre ein Diktator ohne seinen Cäsarenwahn? Den Zeitgeist befällt eine zeitgemäße Paranoia; Modekrankheiten grassieren. Man ist sich aber gar nicht so sicher, ob eine entsprechende Heilung bzw. Kur erwünscht ist.
Gemeinsinn ersetzen durch Eigensinn: Beginnt da bereits der Wahn, hat er da seinen Ursprung? Nicht konform gehen wollen mit den Mehrheitsbeschlüssen. Ein Abweichler im Geiste. Wer ist mehr vom Wahn befallen: der Zeitgeist oder das Ego? Schön mitmachen beim Hexenwahn? Medien leiden am Sendungswahn?
Die Hoffnung muss zugeben, dass sie ohne die Hilfe des Wahns ziemlich mutlos dastehen würde. Wahn kann extrem nützlich sein. Schönes Bündnis mit der Fantasie: Einladung geht raus an alle Schriftsteller. Das Real Life hat da nichts vergleichbar Hochwertiges im Angebot. Der Gebildete pflegt sein Wahngebilde. Dank seiner Fantasie findet der Humorist die Welt wahnsinnig witzig: Er braucht jeweils nur ein Quäntchen Fantasie der Realität hinzuzufügen, schon gelingt ihm ein Reframing, ein Remake – eine Verwandlung des Realen ins Groteske, Surreale.
Unschöne Nebenwirkung des Wahns: man steht außerhalb von sich, außerhalb von allem. Als ob man keinen Einlass wieder fände ins Normale, das von der Ratio Verwaltete. Will sich die Ratio auf diese Art rächen? Sie wird nicht gerne ausgehebelt, beiseitegeschoben.
Manchmal sind irrsinnige Anstrengungen nötig. Von woher bezieht man seine Kraft, sein Durchhaltevermögen? Der Wahn verspricht zu liefern. Besessenheit; Dämon des Fleißes, des Wissenwollens. Befällt Männer vermutlich häufiger als Frauen. So eine Art Philosophen-Krankheit – geht in Richtung Sammlerwut. Sein Wissen komplettieren, Lücken auffüllen. Irrtümer: nur eine Aufforderung, einen anderen Weg zu testen; mal sehen, wohin der führt. Irregehen? Kein Problem. Irrewerden schon. Man sollte den guten Kontakt mit der Ratio wahren; sie ist hilfreich; auch wenn sie ein großer Angeber ist. Alles kriegt sie nicht auf die Reihe.
Der Wahn ist zuständig für die Motivation, er ist Ideengeber, in ihm steckt Unendlichkeit, unauslotbare Tiefe und er verspricht sagenhafte Höhenflüge. Ein Pakt, ohne den man einpacken könnte. Ratio ist nicht so für Ekstase, für absolute Begeisterung; sie hält sich zurück; sie ist vornehm. Der Wahn ist unternehmungslustiger, man kann mit ihm mehr unternehmen, sich weitaus mehr vornehmen. Zu was er einen alles befähigt! Er stellt freiweg jede Lizenz aus. Er ist nicht knauserig. "Nimm Dir die Freiheit!", ruft er einem zu. Man pioniert umher; in abstrakten Landen unterwegs.
Das fragile Reich der Gedankenassoziationen – bei weitem nicht so stabil wie Seifenblasen. Man schlussfolgert von einem Stuss auf den nächstbesten Nonsens. Ergibt alles zeitweise Sinn: Das ist das Erstaunliche daran – und das Bewunderungswürdige am Wahngebilde. Man baut mit den seltsamsten Materialien. Ab und an stößt man auf etwas, das selbst die Ratio überrascht – und sie an der erwiesenen Nutzlosigkeit des Wahns zweifeln lässt. "Hast Du gut gemacht", rutscht es ihr heraus. Vorzeigbare Beute. Zufallstreffer? Die Ratio kann da kein System erkennen, ausmachen. Was treiben der Wahn und der Wahnsinnige da bloß? Schliemann war besessen von Troja. Fiktion für Realität nehmen.
Der Wahn ist der eifrigste Fürsprecher der Hoffnung. Die Hoffnung ist ohnehin meist weit voraus, sie macht den Kurier im Zukunftsland. Die Ratio eilt schnaufend hinterdrein. Ihr geht das alles viel zu fix. Der Wahn will nicht verschnaufen, er hat große Pläne, er hat Großes vor. Was ihm da alles so vorschwebt! Er malt eifrig auf der inneren Leinwand. Steckt alle an mit seinem Enthusiasmus. Was er da alles zeigt und präsentiert! Ach, wenn das doch möglich wäre. Man kommt ins Träumen ... Die Ratio sieht den Wahn mehr denn je als direkten Konkurrenten. Obwohl er sich ja zuweilen als recht nützlich erwiesen hat. Ein nützlicher Idiot? Kann man ihn ausnutzen? Von ihm Kraft und Energie heimlich abzapfen? Die Ratio kommt in Versuchung. Wird sie zum Wahn-Junkie? Gutes Zeugs. Von der Evolution höchstpersönlich empfohlen. Sie mischt uns das bei. Her mit dem Männlichkeitswahn, dem Weiblichkeitswahn! Weg mit dem Kontrollwahn der Ratio! So wird das ja nichts. Liebe und Wahn – das gehört für die Evolution einfach zusammen. Sie warnt vor dem drögen Schiller. "Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang." Was bitte, mischt der sich ein?!
Der Ratio den Wahn schmackhaft machen, indem man viel von "Eigensinn" redet und wie wichtig Selbstbestimmung sei? Da kommt man eben in Konflikt mit all dem Normalen und dem, was man gemeinhin macht und was einen auf Dauer fertigmacht. Ein Abweichler sein. Das aufweichen, was zum täglichen Brot gehört.
Sich auch mal Cäsarenwahn gönnen? Warum sind immer nur die Diktatoren an der Reihe? Sendungswahn für jedermann! Vater Staats Kontrollwahn ist ja kaum noch auszuhalten. Man will Wahnsinnsideen, infiziert sich aber ständig nur mit Wahnideen? Wie Abhilfe schaffen? Beim Genderwahn mitmachen? Die Leiden der deutschen Sprache ignorieren, ihr Jammern und Mosern geflissentlich überhören? Der Wahn, die Wähnin.
Das Tolle am Wahn: Jeder wähnt sich im Recht. Es gibt einen Wahn für jedermann. Wahn-Ausverkauf. So was Langweiliges wie Abmahnwahn? Oder doch lieber etwas Reizvolleres: zum Beispiel Querulantenwahn? "Jedem in die Quere kommen" – ein heiteres Lebensmotto. Männer lieben wahnwitzige Unternehmungen; vorher die Ratio möglichst betäuben: Die soll das gar nicht so mitkriegen. Sich die Probleme schöntrinken. Schon gelingt jedes Unterfangen. "Unterfängt sich der Wahn wieder, das Kommando zu übernehmen?", sagt und sorgt sich die Ratio.
Aber witzig ist das Aberwitzige. Es fordert einen heraus. Offen sein für Tollheiten, irrsinnig viel Spaß haben. Es fällt auf, dass das Moderate in Spaß-Angelegenheiten keinen leichten Stand hat. Heftiger Widerwille gegen eine nüchterne Bilanz? Wie lässt sich Spaß aufrechnen? Ohne Wahn im Spiel hat man sich verrechnet? Keine erfolgreiche Lebensbilanz ohne Wahnsinnsleistungen? Die Ratio mit ihren Bedenken: Sie will nicht irregehen, sie will keine Irrfahrt des Grauens. Aber was wäre Odysseus ohne seine Odyssee, seine Irrfahrten? Keine Angst vor Irrtümern; sind ja keine ungestümen Ungetüme. Sich verirren, sich verlaufen, das Paradoxe als Gegner akzeptieren. Eine Weile ohne Sinn und Verstand agieren – soll der Wahn einen führen, leiten. Was hat er in petto, wie lautet sein Angebot, das man nicht ablehnen kann? Verschrobenheit allein bringt's ja nicht. Völlig sinnbefreit ... über den Umweg des selten Dämlichen zu was Außergewöhnlichem, Einzigartigem. Statt unverrückt mit der Ratio ausharren.
Lehrer Wahn – ausdrücklich von der Evolution empfohlen. Bestes Rezept. "Gibt's das auch von Ratio-pharm?", will die Ratio wissen. Der dröge Schiller warnt hingegen: "Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn." Andy Grove, Mitbegründer von Intel, meint: "'Only the paranoid survive' – 'Nur die Paranoiden überleben'." Das ist der Vor- und Nachteil der Fantasie: Man sieht mehr, als real vorhanden ist, erweitert das Reale um neue Sinnebenen, man nimmt mit Argusaugen alles in Augenschein. Es ist eine Offerte an den Wahnsinn: "Bring Dich ein; entdecke Zusammenhänge!" Verknüpfungs-Meister. Erstaunlich, wie viel Wahn Menschheit bisher überstanden hat: politischen Wahn, religiösen Wahn. Mein lieber Schwan!
Die Tiere halten uns vermutlich für crazy. Sie schwören auf ihre Instinkte. Ist Wahn ein Luxus, den sich die Evolution bei uns gönnt: Im Zusammenspiel mit der Ratio hat man damit völlig neue Programmier-Möglichkeiten? Verrückt sein, um vorzurücken? Irgendwie eifert uns die KI nach: Sie halluziniert, stellt wilde Vermutungen an, verknüpft, was nie zusammengehörte. Der Wahn ist ihr inhärent? Liegt ihr gewissermaßen im digitalen Blut? Freigabe zum lustigen Paranoia-Spiel.
Ist Wahn zielführend, irreführend? Er ist ein großer Verführer. Ein Versprecher des Möglichen, des Erwünschten: Es sei ja so nah, beinahe greifbar. Nur das bisschen Realität steht im Weg. Mal sehen, wann die KI uns mit Sendungswahn überrascht, damit um die Ecke kommt.
Der Schriftsteller lebt gerne in seinem Reich, wo Fantasie als Währung akzeptiert wird. Er ist mit dem Wahn befreundet, ein gern gesehener und gehörter Ratgeber. Er schuldet ihm so einiges. Schreiben ist so etwas wie gezügelte Raserei. Soll sich die Ratio nicht so anstellen. Sattelt den Pegasus! Dessen Existenz wird nach wie vor von der Ratio heftigst geleugnet.
Die Welt: nur eine Wahnvorstellung? Lediglich Energie, die sich mit sich selbst vergnügt, und die die Umwandlung in Materie perfekt beherrscht. Fata Morganen unter sich. Die Welt – eine Wahnidee, eine Schnapsidee? Eine fixe Idee bringt was Solides ins Spiel, in diese Quanten-Schaumschlägerei.
Das Irreale nimmt zu, beansprucht immer größere Areale. Realität ist auf dem Rückzug. Wobei man zugeben muss: Das Sein war sich seiner nie ganz sicher. Ihm wohnt was Schwankendes inne. Das Virtuelle wartet auf seiner Schwelle.
Man wähnt sich auch im Traum im Realen. Erst beim Aufwachen stellt man fest, dass man schon wieder reingelegt wurde. Der Wahn gibt offenherzig zu: Irrealität ist seine Spezialität. Mitunter verwandeln wir es in was Reales. Das Irreale tritt hinüber ins Reale, durchschreitet feierlich das Portal. Nannte man das früher Magie? Harry Potter ist allgegenwärtig. Du kriegst die Fantasy-Tür nicht zu! Die Fiktion wurde immer mehr Teil unserer Welt. Ermuntert das den Wahn nur unnötig, fühlt er sich aufgefordert, jetzt erst recht zu zeigen, was er vermag? Magie-Ähnliches. Wer will darauf schon verzichten?
Die Zwischenrufe der Ratio überhören wir. Sie liefert in letzter Zeit immer weniger sachdienliche Hinweise zur Realität. Die KI befragen – unseren neuen Guru.
ENDE
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Tag der Veröffentlichung: 29.04.2024
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