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Inhalt

SIEG 4

Storys, Interviews, Essays, Gedichte

 

Storys und Interviews:

Flohmarkt im Märchenwald * Fasten * Schatten * Interview mit zwei Aphroditen * Das Mädchen mit dem Perlenohrring: Interview * Interview mit Caesar * Interview mit dem Buchstaben L * Interview mit dem Frust * Interview mit dem G * Interview mit dem Malheur * Interview mit dem Nachtisch * Interview mit den Simpsons * Interview mit der Chinesischen Mauer * Interview mit der Frechheit * Interview mit der Pünktlichkeit, der Verspätung und der Verfrühung * Interview mit der Stilblüte * Interview mit der Tragik * Interview mit einem Alien * Interview mit einer Fee * Interview mit Narziss und Echo * Interview mit Odysseus * Interview mit Pegasus * Interview mit Superhelden * Spitzen Pizzen-Interview

 

Essays:

Alexa die Große * Alexandrias Essay * Ambivalenz * Bis der Fernseharzt kommt * Challenges * Comebacks * Constanze Mozart und Wolfgang Amadeus Mozart * Denksportler * Entspannen * Erinnerungen * Familie * Fast Food * Fernsehen * Fotografie und Kunst * Frauenquote * Geschichten und Geschichte * Gewohnheiten * Grün * Was ist gut an den guten Vorsätzen? * Humorist * Kobolde * Kraft des Lächelns * Künstliche Intelligenz * Peinlichkeit in aller Herrlichkeit * Plädoyer für die kognitive Dissonanz * Pläne vs. Freiheit * Popkultur * Populärwissenschaftliche Literatur * Quizzer * Rätsel * Magie vs. Wissenschaft * Reisen * Sternstunde der Verbote * Verzeihen * Wege * Wenn das Fass überläuft ... * Werbesprüche * Wunder

 

Gedichte:

Gute Vorsätze? * Bänke und Banken * Buchstabe M * Christkind * Crashkurs * Denkfabriken * Elbe - ein Gedicht * Fifty Shades of November-Grey * Flora * Haare * Katze und Küken * Klavier zu mir! * Kultig * Motorrad * Pigasus - wenn Schweine fliegen ... * Ratgeber für Politiker * Schreck * Silvester-Gedanken * Smog * Sparen * Spott * Stillleben * Volkslieder * Weihnachtszauber * Zeitenwende

 

Drabbles und Aphorismen

 

 

Flohmarkt im Märchenwald


Im Märchenwald war mal wieder Flohmarkt. Es war schwer geworden, magiefreie Gegenstände zu bekommen. Magie war allgegenwärtig. Nervige Spiegel, die klugscheißern. Ich geriet an einen verzauberten Teppich, der sich einbildete, eine Brieftaube zu sein.

Leider leide ich an Kaufzwang, bin ein Shopaholic und bin nicht allzu wählerisch bei meinen Einkäufen. Die Gegenstände spüren das: Da ist ein Kaufwilliger, man könnte mit ihm Abenteuer erleben. Komme mir vor wie in einem Tierheim, wo alle darum betteln, mitkommen zu dürfen.

Was soll ich mit einem Armreif der Ehrlichkeit? Aber er ließ sich nicht wieder abstreifen. Der Teppich fragte mich zum siebten Mal, ob er jetzt einen Brief zustellen soll. Ich kaufte die Truhe der Verzweiflung; mir war danach. Sobald man sie aufmachte, jammerte sie los. Es war wirklich nicht sehr erbaulich. Magie durchdringt einen, sie kennt kein Erbarmen. Superhelden verdanken ihre Fähigkeiten oft ihren magischen Gegenständen. Sie sind auf sie angewiesen, als Person fühlt man sich schwach ohne ihre Präsenz. War es bei mir Magie-Sucht? War ich bereits ein Magie-Messie?

Ich kaufte mir das Monokel der Faulheit. Nicht mehr über seine eigenen Fehler nachdenken müssen. Das war ganz erholsam. Aber mein Shopaholic-Charakter drängte mich zu weiteren Einkäufen. Warum fällt es der Magie schwer, den Charakter entscheidend zu verbessern? Es bleibt alles so äußerlich, es dringt nicht bis ins Innerste. Man bleibt von all der Magie unberührt. Den anderen Flohmarkt-Besuchern schien es ähnlich zu gehen. Man erstand etwas – und wollte sich von was anderem befreien.

Ein Wolf bot seine Wackersteine an. Kaum benutzt. Wirklich tadelloser Zustand. Ein beknabbertes Lebkuchenhaus in Fertigbauweise. Die Verkäuferin sah noch angefressener aus. Da ich den Armreif der Ehrlichkeit trug, sagte ich zu ihr: "Du siehst urlaubsreif aus."

"Ich könnte Dich krankenhausreif schlagen", bot sie mir an.

"Was würde mich diese Gefälligkeit kosten?" Wir aßen gemeinsam vom Lebkuchenhaus. Wir diskutierten über die Vor- und Nachteile der Magie. Da sie unter die Lebkuchen reichlich Designer-Drogen gemischt hatte, wurde das Gespräch zunehmend surrealistischer.

Am Nebenstand erstand ich die Büchse der Pandora. Ich lud alles auf den fliegenden Teppich, der im Grunde praktischer war als ein Einkaufswagen. "Kaufst Du mir einen Briefbeschwerer?", bettelte er. "Ich will Briefe zustellen, wichtige Botschaften überbringen."

"So hat jeder seine Ziele." Ich kaufte dem Wolf einen von seinen Wackersteinen ab – wunderbar verwendbar als Briefbeschwerer. Der Teppich war nicht meiner Meinung.

Der Flohmarkt war wunderbar: Tinnef und Magie im Verbund. Vermutlich, weil die Seele aus ähnlichem Material gemacht ist, weil sie sich darin wiederfindet: Deshalb bin ich süchtig danach?

Ich gönnte mir die Laterne der Zwietracht. Was soll man mit innerem Frieden? Man verharrt, man stagniert. Dazu die Schreibfeder des Zorns. Hat einem Journalisten gehört.

"Dich ziehen nur die fragwürdigen Sachen an?", wollte Aurora, die Verkäuferin des Lebkuchenhauses, von mir wissen.

"Die Unzufriedenheit ist ein interessanter Zustand. Man ist ein Suchender. Magie führt Dich ohne Umwege zu Deinem Ziel. Vielleicht will man sich die Sehnsucht bewahren? Sie ist etwas Wertvolles."

Ich kaufte die blaue Blume der Romantiker – sie stand da einfach so rum, unbeachtet; in einem Topf; schon lange nicht mehr gegossen. Hans im Glück war der Verkäufer. Er drängte mir einen kopfgroßen Klumpen Gold auf. "Das belastet einen nur."

Ich bot ihm den verzauberten Teppich an. Der Teppich war empört. "Ich werde hier behandelt wie ein Fußabtreter!"

"Ein fliegender Teppich ist unpraktisch. Bei ihm kann man nichts unter den Teppich kehren." Das gab ihm zu denken.

Die blaue Blume gönnte sich einen Whisky. "Was meinst Du, warum ich 'blaue Blume' heiße?"

Jeder Gegenstand auf dem Flohmarkt hatte seine Geschichte, jeder war gewillt, sie zu erzählen. Das "Es war einmal ..." kursierte als Losung. Magie-übersättigte Welt. Ich kam mir vor wie Hans im Glück, der sein Gold als Last empfand. Als Sehnsuchtsziel erfüllt es nur seine Funktion, wenn es in der Ferne bleibt. Man darf ihm nicht zu nah sein. Ich rückte die blaue Blume von mir weg. "Was hab ich Dir getan? Ziehst Du etwa die 'Truhe der Verzweiflung' mir vor?! Ihr habt Euch die Büchse der Pandora redlich verdient! Badet doch im Unheil, suhlt Euch in Eurem Pech."

"Die betrunkene Blume hat Recht!", pflichtete die Laterne der Zwietracht ihr bei. "Hier ist zu viel Magie unterwegs. Ist wie mit Parfum: Ein Hauch genügt – alles andere ist widerwärtig!"

Das Problem ist nicht, dass der Zauber verfliegt, sondern, dass er sich verdichtet, omnipräsent ist. Dichte Zauberschwaden. "Flieg mit mir allem davon!", schlug der Teppich vor – und schob sich unter mich. "Magie braucht Abstand. Ein Philosoph darf nicht mitten im Getümmel stecken."

Aurora wollte mitkommen. "Mein Besen ist zur Reparatur. Mir gefällt Dein Charisma."

Das lag bestimmt am Monokel der Faulheit. "Man fühlt sich damit unglaublich kultiviert. Meine geistig-sittliche Verfeinerung explodiert geradezu", lobte ich das Monokel.

"Wer lobt mich?" wollte die Büchse der Pandora wissen. Ich griff in sie hinein und zog unter Mühen die Hoffnung hervor. "Die hat ziemlich gedrückt."

"Geht's jetzt los?", wollte der Teppich wissen. Er schoss steil nach oben; tat so, als sei er der Fahrstuhl ins Glück. Abrupt hielt er an. "Wolke sieben. Bitte alle aussteigen."

"Gibt's kein anderes Stockwerk?"

Die blaue Blume übergab sich.

"Bist Du mit Deinen Einkäufen zufrieden?", wollte Aurora wissen.

"Ich befürchte, dass mir das Glück immer nur aus der Ferne gefällt. Ich will nicht heranzoomen. Ganz ohne Mühen auf Wolke sieben sein?"

"Warum nicht? Die Wolken sind herrlich!" Sie nahm ein Wolkenbad.

Der Teppich schlug vor: "Ich könnte das alles notieren. Dann hätte ich eine Botschaft." Ich nahm ihm die Schreibfeder des Zorns weg. "Widerlich autoritär!", fuhr er mich an. Dann rollte er sich zusammen. "Ich begnüge mich fortan mit der Rolle als Zuschauer!"

Die Magie entwich aus den Gegenständen. Es war, als hätte meine Unzufriedenheit sie infiziert. Die blaue Blume welkte. Die Wolken wurden grau. Ich brachte es fertig, Wolke sieben in einen Ort der Traurigkeit zu verwandeln.

"Ich funktioniere noch", meinte der Armreif der Ehrlichkeit. "Ich könnte Deine Rettung sein. Der Ring, der den gesamten Schatz wiederherstellt. – Ich bin der beste Fighter. Du weißt doch: Ehrlich wehrt am längsten. Ich bin ein Wehrexperte!" Er klang so zuversichtlich.

"Man sollte dem Glück den roten Teppich ausrollen. Es ist der Stargast der gesamten Veranstaltung", meinte Aurora.

Aus Wolken bauten wir uns ein Luftschloss. Dem Teppich wurde sein aufgerollter Zustand zu langweilig.

"Die Magie nimmt immer Anleihen beim Glück; das ist ihr eigentlicher Ursprung", belehrte mich Aurora.

Der Teppich sah mich erwartungsvoll an. "Okay. Dann schreib Deine Story. Du kannst auch ein E-Book draus machen. E-Books sind ja auch so was wie Briefe."

"Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Teppiche sind die besten Erzähler! Knüpfen und weben – da bin ich in meinem Element! … Aber ich beginne diesmal nicht mit 'Es war einmal', sondern mit dem Satz: 'Im Märchenwald war mal wieder Flohmarkt.'"


ENDE


Fasten



Hieronymus meint: "Ein voller Bauch diskutiert leicht über das Fasten." An sich ist das Fasten leicht: Es geht um ein Unterlassen. Unterlassene Hilfeleistung für den knurrenden Magen. Beim Hungern denkt man ohne Unterlass an all die Köstlichkeiten. Sogar das, was man ansonsten nie anrühren würde, gewinnt an Attraktivität. Vergammelte Konserven erleben ihr Revival. Mit anschließender Revolte des Magen-Darm-Systems. "Genießbarkeit" wird zu einem dehnbaren Begriff. Man selber wird beim Fasten immer ungenießbarer. Am besten, man macht das als Solo-Programm. Das Thema Kannibalismus könnte aktuell werden. Komplimente wie "Du siehst aber lecker aus" und "Du siehst zum Anbeißen aus" sind in dieser Zeit mit Vorsicht zu genießen.

Warum kasteit man sich? Askese als TikTok-Trend? Dem "niederen Selbst" zeigen, wer der Meister ist? Man hat sich im Griff. Man darf sich ja wohl noch in der Nähe des Kühlschranks aufhalten? Spricht er zu einem? Was ist seine Botschaft? Hervorragend: Man macht beim Vergeistigen tolle Fortschritte. Intensive Gespräche mit dem Brotlaib sind möglich. Faszinierende Ansichten. Das Tischtuch wird misstrauisch: Will man am Hungertuch nagen? Man hat den Hunger als Gegner – er spielt im gegnerischen Team. Kann man ihn mit Ballaststoffen austricksen?

Mittlerweile hat man es mit einem Bärenhunger zu tun. Aber die Waage hält zu einem – es purzeln zwar nicht die Pfunde, aber die Milligramme. Man droht seinem niederen Ich: "Bist Du nicht abnehmwillig, so brauch ich Gewalt!" Verzicht ist in einer Wohlstandsgesellschaft besonders schwer: Alles lockt. Verlockende Angebote von allen Seiten. Wo bleiben die versprochenen Endorphine? Nach drei Fastentagen sollte sich der Hunger verabschieden und Euphorie könnte sich breitmachen. Hat dem Gehirn keiner Bescheid gesagt? Wo bleibt der Kick? Oder 40 Tage fasten und Gespräche mit dem Teufel führen? Der Kühlschrank ist jetzt schon sehr gesprächig – dabei ist das gar nicht die Smart-Version.

Alles riecht intensiver, als wollten die Lebensmittel auf sich aufmerksam machen. Sie fühlen sich ignoriert. Was stimmt nicht mit ihnen? Wie vergeistigt ist man? Man selber hat das Gefühl, es geht rapide in Richtung geistige Umnachtung. Man träumt von Fast Food. Der Heißhunger hat 1001 Grad erreicht. Märchengestalten bevölkern die Büroräume. Man spricht mit interessanten Phantomen übers Heilfasten. Essen gewinnt an Wert. Knabbereien erhalten den Status von etwas Göttlichem. Das alles wird angetrieben von der eigenen Entschlossenheit. Man ist stolz auf sich. Ein Kräftemessen mit dem Hunger; wer legt sich freiwillig mit ihm an? Das niedere Selbst führt sich auf, als wollte man es systematisch aushungern. Es berserkert rum. Nicht die richtige Meditations-Idylle. Aber Wüste ist einfacher als Supermarkt. Man steht da unentschlossen zwischen den Regalen rum. Packt abrupt Kekspackungen in seine drei Einkaufswagen.

Man könnte das Fasten mit Digital Detox verbinden: Entzug auf allen Ebenen. Keinem soll es gutgehen. Autarkie stärken. Nicht so fremdbestimmt sein. Entzug üben – das ist zumindest der Plan in groben Zügen. Die Dinge reagieren unwillig darauf, wenn man ihnen die Macht entziehen will. Das Fasten gelingt einem meist auch nur fast. Vermutlich heißt es deswegen so.

Man hat Appetit auf die Welt – auch wenn Buddha meint, dass man sich das schleunigst abgewöhnen soll. Wünsche totschlagen – danach kann man die Zeit totschlagen. Alles abtöten, was die Welt wie einen verheißungsvollen Ort wirken lässt. Askese heißt das Zauberwort. Das niedere Ich hört was von Käse. Lebensmittel als Lebensmitte – wie profan ist das denn?

Dank der Endorphin-Serotonin-Mischung – großzügig bereitgestellt vom Gehirn – ist man jetzt halbwegs high. Die Gespräche mit dem Kühlschrank werden intensiver – man bezieht jetzt auch den Toaster mit ein. "Fütter mich", sagt der Toaster – aber man hat keine Brotscheibe für ihn. So macht das Kasteien Spaß – das Gehirn spendiert noch mehr aus seiner Apotheke. Ein bewährtes Drogen-Rezept aus Steinzeit-Tagen. Man ist stoned. Läufer kennen das vom Runner's High. Das Gehirn ist großzügig, es belohnt Anfälle von Jogging-Wahnsinn. "Will noch jemand Enkephaline, Endocannabinoide?" Das macht Laune. Eben noch launisch – jetzt die volle Dröhnung mit Ekstase-Garantie.

Her mit dem härenen Gewand! Noch mehr Entbehrungen und Abstriche. Alles streichen! Zum Beispiel ein Brötchen mit Honig streichen. Der Bärenhunger wirkt interessiert. Fasten-Pläne streichen? Man will ja durchhalten – aber die Lebensmittel formieren sich; sie haben einen umstellt. Das Knäckebrot ist der Wortführer. "Kaum Kalorien", preist es sich selber an. Die Gewürzgurken pflichten ihm bei: "Wir sind beinahe kalorienfrei." "Du musst Dich mit der Gurkentruppe nicht zufriedengeben", geben die Lebkuchen zu bedenken, "wir sind eine ganz andere Liga."

Wo ist die Willensstärke, wenn man sie mal braucht? Ich sollte mich zu einem herrischen "Nein!" aufraffen, aber es reicht nur für ein mattes "Ich weiß nicht". Mir ist die Unentschlossenheit ins Gesicht geschrieben. Die Dosen-Ananas legt nach: "Fang doch mit den Light-Produkten an. Die fallen nicht ins Gewicht." Die Dos and Don'ts beim Fasten: Man sollte sich vor allem nicht von den heimtückischen Lebensmitteln vom rechten Pfad abbringen lassen. Hunger wie ein Wolf. Und jede Menge Schafe um mich herum.

"Du bist ein schwarzes Schaf!", sage ich anklagend zum Schwarzbrot. Es sieht mich verstört an. "Soll ich mich schwarzärgern – oder drückst Du jetzt den Toaster runter?", will das Toastbrot wissen. In Gedanken bestreiche ich es mit Marmelade. Ich bin ihm verfallen. "Unser tägliches Brot gib uns heute" – von Fasten war nie die Rede.

Ich befrage die Katjes-Tüte. "Katjes – jes – jes – jes." Das deute ich als Zustimmung. Eine Salami raunt mir zu: "BiFi ... muss mit. BiFi hat Biss." Sie ignoriert die Tatsache, dass sie eine No-Name-Pfeffersalami ist. Versuchen sie die Salamitaktik? Mich nach und nach mürbemachen? Mürbeteig – ich könnte mal wieder backen. Ich blättere im Rezeptbuch. Meine Selbstbeherrschung fühlt sich getriggert. Ich sollte zumindest noch weitere sieben Tage fasten – aber selbst sieben Minuten fallen mir momentan schwer. Mein Fernseher begrüßt mich mit einer Kochshow. Er hat einen sehr speziellen Humor.

Die Gesellschaft macht einem das Fasten nicht leicht; man soll nicht entsagen. Hungern und dürsten nach den Segnungen der Zivilisation – jeder soll sein Fett abkriegen. Aber wie wird man es wieder los? Politiker und Frauenmagazine schwören auf Diäten.

Oder man bucht 40 Tage Wüsten-Urlaub, führt anregende Gespräche mit dem Teufel statt mit dem Kühlschrank – und macht spirituelle Fortschritte. Inmitten all der Köstlichkeiten ist das eine echte Challenge – viel höherer Schwierigkeitsgrad.



ENDE



Schatten



"Ich hab noch nie ..." - an sich ein amüsantes Trinkspiel; aber Defizite treten zutage. Versäumnisse ... Setzt man das alles auf die Bucket List? Man kann sich einreden, dass es Unsinn sei, unwichtig. Ich bin leider noch nüchtern, da ich keine der Trinkspiel-Fragen bejahen konnte. Wurde mir attestiert, dass ich hervorragende Qualitäten als Langweiler habe? Alexa fragen, wie man über die Stränge schlagen kann? Brauche ich einen Spaß-Berater?

Mein Schatten löst sich von der Hauswand, als sei das sein Stichwort gewesen. "Du brauchst Hilfe?" Ich versuche, meinen Schatten irgendwie wieder an der Hauswand zu befestigen. Wie macht man das? Im Baumarkt nachfragen? "Du hast in den Grübler-Modus geschaltet. 'Aktiviere den Doppelgänger' – uraltes Programm der Evolution. Sehr zuverlässig, wenn Du mich fragst."

Wie ignoriert man seinen Schatten, wenn der sich vor einem aufbaut? "Du empfindest Dich als flach? Frag mal, wie mir zumute ist", fordert mich mein Schatten auf. Er will mich nur in ein Gespräch verwickeln. "Wenn ich Lucky Luke wäre, könnte ich Dich erschießen", überlege ich laut.

"Ich soll in das Reich der Schatten hinabsteigen? Wie witzig." Vielleicht kennt er sich da aus? Ich könnte ihn fragen. "Willst Du nun Deine Oberflächlichkeit ablegen, oder was?" Er schwebt mir voran; ungewöhnliches Verhalten. Er löst sich von mir, scheint, unseren Bündnis-Vertrag gekündigt zu haben.

"Hier ist die Straßenbeleuchtung besser. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten." Er wächst. "Willst Du nun die wildere Version von Dir kennenlernen? Abwarten, bis die Bravheit ihre Marionette zu Ende geschnitzt hat? Ich bin ein zuverlässiges Programm der Evolution."

"Das ist Deine ganze Referenz?" Was stimmt mit meinen Genen nicht? Nie von Schatten-Genen gehört. "Krasses Licht. Spürst Du, wie Deine mentale Stärke in mich hinüberfließt? Ich zapfe Dich ab."

"Bedien Dich!" Hab ich ernstlich geglaubt, durch Moral zu einer Lichtgestalt werden zu können? Ausbund an Langeweile.

"Ich könnte Dein Mentor sein. Mir schwebt da so ein Gleichgewicht der Kräfte vor. Im Realen kennst Du Dich besser aus. Materie ist für unsereins nicht leicht zu händeln. Aber Du hast doch nichts gegen Energiewesen? Irgendwelche Vorbehalte, Bedenken? – Ich verlange vorbehaltlose Solidarität!"

"Wirkt wie ein fairer Deal."

"Gratuliere, ab jetzt kannst Du über Deinen eigenen Schatten springen! Wir probieren das gleich mal aus."



ENDE



Interview mit zwei Aphroditen



Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: die bezaubernde Aphrodite. Von Beruf Liebesgöttin. Der Anlass ist erfreulich: Die Original-Statue der Aphrodite von Knidos ist wieder aufgetaucht. 350 v. Chr. vom Bildhauer Praxiteles erschaffen. Darf ich Dich bitten, Dich neben die Statue zu stellen? Siehst Du da Ähnlichkeiten? Findest Du, die Statue hat die Jahrtausende besser überstanden als Du?"



Aphrodite: "Sie ist in hervorragendem Zustand. Weißer Marmor von der griechischen Insel Paros. Nur beste Qualität. So hat unsereins es gern."



Moderator: "Wir versuchen, uns dem Göttlichen gerne durch Bilder oder Skulpturen zu nähern. Findest Du diese Versuche verwerflich? Immerhin ist die Knidische Aphrodite gänzlich nackt. Sie will ein Bad nehmen."



Aphrodite: "Ja, das rituelle Bad: dient der Wiederherstellung meiner Jungfräulichkeit. Schon sehr praktisch. Alles bleibt beim Alten. Es ist jedes Mal wieder das erste Mal. Sie sieht mir sogar ein bisschen ähnlich. Aber ich habe Praxiteles nicht Modell gestanden. Das war die Hetäre Phryne. Überaus schöne Frau. Der Bildhauer kann nur so gut sein wie sein Modell; der Künstler kann sich zum Ideal vortasten, wenn die Realität mit gutem Material nicht knausert."



Moderator: "Die Knidische Aphrodite war in der Antike überaus populär; keine andere Statue war dermaßen beliebt. Eine Touristenattraktion. Weibliche Schönheit von Dauer. Hat Kunst womöglich per se eine Spur Göttlichkeit in sich, einen Splitter?"



Aphrodite: "Ihr schmeichelt uns mit Eurer Kunst. Man stößt wohl nur über den Umweg des Sinnlichen ins Übersinnliche vor. Aber das predige ich ja ohnehin schon seit Jahrtausenden. Das ist mein Metier: die sinnliche Begierde, die Liebessehnsucht, der Triumph des Begehrens über alles Nihilistische. Man muss es aber verwandeln, es sublimieren. Das ist keine Zauberei, kein Hexenwerk. Man gelangt dorthin auch über die Betrachtung des Schönen. Vielleicht schaue ich deswegen so oft in den Spiegel? Schwingt darin ein Gutteil Überheblichkeit mit? Ein Spritzer sei jedem gestattet."



Moderator: "Heutzutage verwenden wir Avatare. Ist so eine Großplastik so etwas wie eine Stellvertreterin für Dich?"



Aphrodite: "Man könnte ja sagen, man hat sein Auskommen auf dem Olymp. Man ist unter sich im Pantheon. Aber es ist schön, wenn man Fans hat. Bewunderung ist für mich wie ein Aphrodisiakum. Es berauscht. Vielleicht bin auch ein klein wenig süchtig danach? Ich bin ein Fürsprecher der Liebe. Die Liebe findet ihre Vollendung und schönste Form als Liebeskunst. Ich geh nicht hausieren mit der Kriegskunst. Das ist Ares' Metier."



Moderator: "Manche Götter verbitten sich Bilder."



Aphrodite: "Ich bin da offener. Sogar zu meinem römischen Pendant, Venus, habe ich ein herzliches Verhältnis. Großzügigkeit ist eine der Voraussetzungen für Liebenswürdigkeit. – Wir könnten die Statue zum Leben erwecken. Für eine Zeitlang. Würde Dir das gefallen?"



Moderator: "Es soll Bildhauer geben, die sich in ihre Statuen verknallen. Je mehr Plastik es gibt, umso mehr entschwindet der Zauber. Schön, wenn durch eine Plastik der Zauber plötzlich wieder hereinbricht in dieses prosaische Zeitalter. Brauchst Du irgendwelches Zubehör? Einen Zauberkessel?"



Aphrodite: "Ich binde ihr einfach meinen buntbestickten Gürtel um, den kestòs himàs poikílos. Ich verleihe ihn gelegentlich. Er verleiht Liebreiz. Du glaubst nicht, wie wichtig Requisiten in der Liebe sind. Im Grunde ist sie auch nur eine Show – wird viel Aufwand betrieben. Der Pfau würde sagen: 'Nicht beratschlagen, sondern ein Rad schlagen.'"



Moderator: "Weiser Pfau."



Aphrodite: "Mein größter Gegner ist der Nihilismus. Gegen ihn trete ich an. Die Verneinung ist allgegenwärtig. Sie lauert auf Dich in den Falten der Zeit, in den Furchen des Raumes. Tarnt sich als Furcht. Als Fruchtbarkeitsgöttin trete ich dagegen an. Was wiegt schwerer: meine Frucht oder die Furcht? Die Chariten sind meine Begleiterinnen, meine Assistentinnen: die Göttinnen der Anmut. Wir schätzen in unseren Kreisen Anmut wesentlich höher ein als bloßen Mut. Wir zeichnen denjenigen mit Charisma aus; das sei sein Erkennungszeichen."



Sie bindet der Knidischen Aphrodite ihren Gürtel um die Hüften. Die Statue erwacht zum Leben.



Knidische Aphrodite: "Wo bin ich?"



Moderator: "In einer Talkshow. Fühlst Du Dich mehr wie die Hetäre Phryne oder wie die Liebesgöttin Aphrodite?"



Knidische Aphrodite: "Darf ich mich bewegen? Das Standbein zum Spielbein machen?"



Aphrodite: "Warum nicht?"



Die Band spielt 'Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht'.



Moderator: "Eben noch aus weißem Marmor, jetzt aus Fleisch und Blut!"



Er klingt wie ein Zirkusdirektor, der seine Hauptattraktion ansagt.



Moderator: "Im Grunde ist es die Zerstörung einer kostbaren Statue ..."



Aphrodite: "Ist ja nur vorübergehend. Man nimmt seine alte Positur wieder ein. Alles ist beim Alten."



Knidische Aphrodite: "Ich mochte meinen Marmor. Das fühlt sich alles nicht richtig an. Ich war der Ewigkeit geweiht. Was bin ich jetzt? Eine Jahrmarktsgaudi? Stehe entblößt inmitten bekleideter Gaffer."



Moderator: "Wir haben sogar einen Whirlpool. Badespaß!"



Der Moderator ist ganz aus dem Häuschen.



Knidische Aphrodite: "Das ist Erregung privaten Ärgernisses."



Moderator: "Könntest Du für uns Dein Haar lösen? Ich könnte Dir dabei helfen."



Aphrodite: "Sie bekommt ja jede Menge Aufmerksamkeit. Was hat sie denn schon groß geleistet? Steht da neben ihrer Hydria, ihrem Wasserkrug. Unterbeschäftigt. Während unsereins sich der Liebe widmet, ihr Sachwalter ist. Werde ich nicht in den Whirlpool eingeladen? Ich bade außerordentlich gerne. Wenn es nur an meinen Kleidern liegt – die kann ich ablegen!"



Entschlossen zieht sie sich aus.



Aphrodite: "Ist ja gewissermaßen meine Uniform. Wie bei den Helden: Heroische Nacktheit als Ausweis und Nachweis der Göttlichkeit. Idol sein mit Idealmaßen. Wahrgewordene Utopie – ganz ohne Botox. Nicht korrektionsbedürftig."



Moderator: "Mir wird ganz warm ums Herz und anderwärts. Zwei Schönheiten ... Man wüsste wahrlich nicht, welcher von beiden man den Apfel der Eris geben sollte. Beim vorigen Mal hast Du Paris bestochen. Wie würdest Du mich bestechen? Mit was?"



Aphrodite: "Den Trojanischen Krieg lasten sie mir immer noch an. Was kann an der Liebe so verkehrt sein – wieso hat sie oft Krieg im Gefolge? Okay, da ist zum einen die Eifersucht; sie macht uns zu schaffen. Den Göttern wohl noch mehr als Euch Menschen. Bei uns ist alles eine Nummer größer, gewaltiger. Euch werfen wir Hybris vor – dabei müssen wir ständig über unser vertrautes Maß hinausgehen, maßlos sein von Berufs wegen. Eifer, Eifersucht, fanatische Eiferer ... Voraneilen, bevor man die Hohlheit seines Tuns erkennt, bevor man abbricht. Leidenschaft braucht die Unwissenheit, sie stürzt sich auf den Moment, sie trinkt den Moment – so schleppt man sich durch die Wüste Ewigkeit."



Knidische Aphrodite: "Das ist alles sehr verwirrend für mich. Ich war der Welt verloren. Es gab Kopien von mir? Seltsame Mischung aus Hetäre, Göttin und weißem Marmor. Die Fantasie in Wallung bringen, Grazie ausstrahlen ..."



Aphrodite: "Aber im Grunde nicht mehr als eine Schaufensterpuppe. Belebt wirst Du durch mich – die Liebe setzt alle Deine Kräfte frei, sie setzt Dich in Bewegung. Vielleicht ist so immer der Übergang vom Unbelebten zum Belebten: Die Liebe ist involviert, das Sein gefällt sich selbst. Äußerste Faszinationskraft vitalisiert das Tote, erweckt es zum Leben."



Knidische Aphrodite: "Ja, ungefragt. Was ist mit meiner Würde? Bearbeiteter Marmor – von Künstlerhand. Er stellte mich in die Welt – in einen Tempel. Ich war nützlich. Du rückst mich in die Nähe von Belustigung und Lächerlichkeit. – Und dennoch beginne ich, das Neue wertzuschätzen. Ich bin zerrissen. Ein Riss geht bei mir mitten durch meinen Korpus."



Moderator: "Ich habe gehört, dass Küsse ganz wunderbar geeignet sind, um seelischen Schmerz zum Verschwinden zu bringen."



Knidische Aphrodite: "Klingt interessant. Käme auf einen Versuch an."



Moderator: "Seltsam, eine steinerne Miene hattest Du nie."



Knidische Aphrodite: "Ein lebhaftes Mienenspiel war mir schon immer zu eigen. Man muss nicht ständig grimassieren, um eine ausdrucksstarke Statue zu sein."



Aphrodite: "Ich bin wohl nicht gut im Fratzen-Schneiden; in meinem Beruf kommt man kaum dazu. Ich kann enthusiasmiert aussehen, wie auf Droge. Als ob ich von einer Orgie zur nächsten taumeln würde. Dann wieder das reinigende Bad. Jungfrau-Reset. Was soll man machen, wenn man Besitzerin eines magischen Gürtels ist, der einen unwiderstehlich macht? Der Gelegenheiten sind viele. Als Schönheit will man nicht ungesellig sein, niemanden verprellen. Manche feiern Orgien des Hasses, ich hingegen lasse die Liebe gerne zu Wort kommen; kann auch ein Stöhnen sein."



Die Aphrodite von Knidos lässt sich in den Whirlpool gleiten.



Knidische Aphrodite: "Ich glaube, Praxiteles wäre sehr erstaunt, wenn er mich so vorfände. Ganz andere Pose als die, die er mir zugedacht hat. Liegen ist herrlich!"



Der Moderator bietet ihr an, sie zu massieren.



Knidische Aphrodite: "Plötzlich mache ich mir Gedanken, ob ich ein Stein des Anstoßes bin. Hat mich doch vorher nicht gekümmert, dass ich begafft wurde von aller Welt. Man pilgerte zu mir gerade wegen meiner Anstößigkeit. Bekleidet hätte ich nie so einen Ruhm erlangt. War ganz gut, dass ich mein Gewand all die Jahre auf der Hydria verwahrt habe, abseits. Immer kurz davor zu baden. Und jetzt bade ich tatsächlich! Herrlich."



Moderator: "Passend zu dieser prickelnden Atmosphäre: Champagner! Man sollte so oft wie möglich vor Begeisterung sprudeln."



Aphrodite: "Spaßeshalber sollten wir einen Dreier versuchen. Ich probiere gerne was Neues aus."



Knidische Aphrodite: "Nicht, dass das ein Trend wird: Sex mit Statuen. Ich will da keine falschen Impulse geben. Die meisten Statuen empfänden das wohl auch als extrem übergriffig. Das Aphroditische steckt in mir: Die Sehnsucht bahnt sich ihren Weg, sucht sich ihr Ziel."



Sie zieht den Moderator zu sich.



Moderator: "Dann wollen wir mal den Stein ins Rollen bringen."



Knidische Aphrodite: "Das Standbild macht mal Urlaub. Endlich kann es die Liebe erwidern, die ihm über die Jahrhunderte entgegengebracht wurde."



Aphrodite: "Mit Freuden sieht's die Liebesgöttin; aber will nun ihrerseits an den Freuden sich beteiligen. Wo kann man Gutes tun? Einen Liebesdienst erweis ich nun; vielleicht auch ein Dutzend. Meine Angebote werden im Allgemeinen mit Kusshand genommen. Wer mit mir baden geht, dem ist Erfolg beschieden!"



Der Moderator ist sehr beschäftigt. Findet keine Zeit für die Abmoderation.



ENDE



Das Mädchen mit dem Perlenohrring: Interview



Moderator: "Dank unseres Gemälde-Aktivators können wir auch direkt mit berühmten Gemälde-Figuren sprechen. Heute bei uns zu Gast im Studio: 'Das Mädchen mit dem Perlenohrring'. Oder soll ich sagen: 'mit dem Perlenohrgehänge'?"



Turban-Mädchen: "'Das Mädchen mit dem Turban' wäre auch okay. Was zeichnet einen aus? Sind es Accessoires, die mein Wesen bestimmen? Ich wage es nicht, meine Perlenohrringe abzunehmen. Sie bilden den Mittelpunkt meiner Existenz."



Moderator: "Du bist Dein Leben lang einen dunklen Hintergrund gewohnt. Wie ist es für Dich, ein anderes Framing zu erleben? Wie gefällt Dir das Real Life?"



Turban-Mädchen: "Ich bin ans Statische gewöhnt. Unbeweglichkeit. Sich betrachten lassen. So tun, als ob man sich ganz dem derzeitigen Bildbetrachter zuwendet; Interesse heucheln. Eingefrorene Bewegung: hinwenden, abwenden – dennoch keine Unentschlossenheit. Ein fragender Blick. Eine Aufforderung: Kommst Du mit? What's up? Als Gemäldefigur genügt das, es ist ausfüllend. Das Real Life ist fordernder. Da sitzt einem ein neugieriger Moderator gegenüber, der einen intensiver durchleuchten will als die Röntgen-Scanner. Mit Fragen den Kern des Ichs offenlegen. Was bleibt, wenn man allzu genau hinschaut? Wie bei meinem Perlenohrring: Er wirkt nur aus der Distanz echt. Dennoch ist man erpicht darauf, ganz nah ran ans Ich zu zoomen; es verflüchtigt sich alles; durch keine Illusion mehr zusammengehalten. Atomisierung, Sprengung Deines Sein-Konzeptes."



Moderator: "Erinnerst Du Dich an Jan Vermeer? Für Dich ist er ja so etwas wie ein Gott. Uns geht es auch so: Wir versuchen, uns daran zu erinnern, wer das Weltall gemalt hat mitsamt allerlei Beiwerk. Man ist letztlich Staffage ... Du aber hast einen eigenen Rahmen für Dich, Dein eigenes privates Universum. Du wirkst immer so, als ob Du allen die kalte Schulter zeigen würdest, trotz Deiner Aufforderung, Dir ins Bild zu folgen. Wie bei der Mona Lisa: gefangen im Widersprüchlichen, schwer deutbar. Man nennt Dich die 'Mona Lisa des Nordens'."



Turban-Mädchen: "Ein gutes Bild braucht Faszinationskraft. Jan Vermeer spendierte mir Ultramarin. Extrem teuer. Aus Lapislazuli. Er investierte viel Zeit in seine Gemälde. Auch ein Widerspruch: Es geht um einen winzigen Moment – um ihn aber korrekt wiederzugeben, braucht er ein halbes Jahr. 37 Gemälde – nicht viel für ein Lebenswerk. 15 echte Kinder. Man selbst ist so eine Art Geistes-Kind. Ich verweile in dem mir zugedachten Moment."



Moderator: "Wir haben hier auf dem Tisch einige Produkte mit deinem Konterfei. Es scheint, Du passt zu allem: zu Pillendosen, Lesezeichen. Notizbüchern, Brillenetuis, Briefbeschwerern ... Die ideale Merchandising-Figur. Wieso passt Du so gut in unsere Zeit? Jan Vermeer hat Dich so um 1665 gemalt."



Turban-Mädchen: "Ist das ein Kompliment, weil ich trotz meines Alters fit und unverbraucht aussehe? Ich bin eine Gefangene des Moments. Ich könnte sagen: 'Ich bin ein Star, holt mich hier raus!' Aber das Gemälde ist meine Heimat. Es existieren zwar jede Menge Kopien von mir, aber nichts wiegt das Gefühl auf, das Original zu sein. Inmitten von Abbildern bewahrt man sich seine Authentizität. Dennoch betrachte ich diese Merchandising-Produkte als meine Geschwister, als Verwandtschaft."



Moderator: "Würdest Du für uns Deinen Turban abnehmen?"



Turban-Mädchen: "Meine Haare sind in einem fürchterlichen Zustand. Seit über 350 Jahren nicht gewaschen. Früher hatte ich mal Wimpern. Die Zeit verfährt mit Gemäldefiguren zwar etwas sanfter, aber man freut sich doch über eine Restauration. Neuer Firnis, neuer Glanz. Der Glow-Effekt ist mir wichtig; es soll Euch umhauen. Eine schlichte Person – sobald sie in Kontakt kommt mit etwas Besonderem, verwandelt sie sich. Vielleicht ist der Perlenohrring ein Symbol für das Göttliche? Eine Leihgabe, ein Produkt der Imagination. Transformation durch den Anschein von etwas Wertvollem. Der Seele die Verwandlung gestatten."



Moderator: "Du wurdest viel rumgereicht. Wanderausstellungen. Überall der Publikumsliebling. Macht das mit der Zeit arrogant? Würdest Du Dich bei Tinder anmelden, jemanden daten? Ich wäre bereit, Dir das Küssen beizubringen. Und ich biete auch Kurse an für Fortgeschrittene."



Turban-Mädchen: "Das ist sehr nett. Vielleicht sollte ich mich mehr dem Hedonismus zuwenden? Der Lust mehr Rechte einräumen?"



Moderator: "Auf jeden Fall! Hier hast Du ein Gutscheinheft für 10 Küsse."



Sie küssen sich.



Turban-Mädchen: "Brauchen wir Jan Vermeer ja nicht zu sagen. Ich gelte als sein Meisterwerk, ich will ihn nicht enttäuschen. Das Real Life ist nicht ungefährlich. Neulich klebte sich einer bei mir fest mit Sekundenkleber. Dann gab es Tomatensuppe. Ich bin immer noch ganz geschockt! – Was hast Du noch für Gutscheinhefte?"



Moderator: "10 Dates in Restaurants Deiner Wahl."



Turban-Mädchen: "Klingt gut. Aber die servieren doch keine Tomatensuppe? – Im Grunde bin ich aus dem Atelier nie herausgekommen. Ich trage es in mir. Ich bin ein Atelier-Geschöpf. Schmücke mich mit Exotik; aufgerufen, den Betrachter gen Orient zu geleiten. Habe selber keine Orientierung. Rasend schnell drehe ich mich um die mir zugedachte Achse."



Moderator: "Wir sollten tanzen! Pirouetten des Geistes können da nicht mithalten!"



Er wirbelt sie herum.



Turban-Mädchen: "Nicht, dass wir Ärger kriegen mit der Gemälde-Behörde. Was erlauben einem die Grafen der Paragrafen-Welt? Bin ich es leid, eine brave Gemäldefigur zu sein? Hast Du ein Gutscheinheft für Abenteuer?"



Die Band spielt wilde Musik. Das Publikum feuert die beiden an. Sie tanzen eine Mischung aus Rock 'n' Roll und Breakdance.



Turban-Mädchen: "Mein Turban ist verrutscht. Außerdem habe ich meinen linken Perlenohrring verloren. Wie soll ich so wieder in mein Gemälde kommen? Ich darf mich nicht verändern! Wer bin ich dann? 'Das Mädchen ohne Perlenohrring'? Das ist absurd! 'Das Mädchen mit zerzausten Haaren'? 'Das Mädchen, das hyperventiliert'?"



Moderator: "Mona Lisa hat sich nicht so angestellt. Die nordischen Frauen sind wohl komplizierter."



Turban-Mädchen: "Du gibst Deine Gutscheinhefte wohl jeder?! – Sogar Schlafmasken mit meinem Bild! Allmählich finde ich das alles ziemlich pervers!"



Sie schmeißt den Tisch mit den Merchandising-Artikeln um.



Turban-Mädchen: "Eine Einkaufstasche!? – Du könntest mit mir shoppen gehen. Das würde mich versöhnlich stimmen."



Sie nimmt sich einen der silbernen Merch-Perlenohrringe.



Turban-Mädchen: "Muss so gehen. Billiger Ersatz. – Ich komme aus einer idealen Welt. Ewige Stagnation. Im Real Life stößt man sich an Tischen. Rüpelhaftes Benehmen ist an der Tagesordnung – und jeder findet das in Ordnung. Mein Wert ist gestiegen – 1881 waren es 2 Gulden, 1892 schon 40.000 Gulden. Astronomische Höhen. Ich bin ein Star. Aber nur, wenn ich mich ruhig verhalte. Abstand wahren vom jeweiligen Zeitgeist. Mich nicht hineinziehen lassen in das Business des Seins."



Moderator: "Vielleicht ist Walzer eher was für Dich?"



Turban-Mädchen: "Am besten, Du schaltest den Gemälde-Aktivator wieder aus. Ich vermisse meine Perfektion. Bei Euch bin ich ein Tölpel, ein Tollpatsch. In meinem Gemälde stimmt das Licht, ich werde zum Licht. Im Grunde liebe ich das Gemälde – ich verweile dort gerne. Im Real Life hätte ich es nie so weit gebracht. Der Turban wäre unpassend ... Im Gemälde kann ich meinen rot schimmernden Mund in immer derselben Stellung lassen. Es ist bequem. Man muss sich nicht entscheiden, welche Mimik angebracht wäre. Ich habe Millionen Bewunderer. Im Real Life muss man um jeden Kuss betteln."



Sie zieht den Moderator zu sich.



Moderator: "Wir wollen immer die Bedürfnisse unserer Gäste befriedigen. Dadurch kommt es zu wirklich fantastischen Erlebnissen."



Turban-Mädchen: "Ich erwarte ja gar keine Glanzleistungen. Ein wenig Fun nach 350 Jahren sollte genügen. – Wirke ich zu barock? Wirke ich seltsam? Ich trage meine Zeit mit mir, sie haftet an mir, ich kann sie nicht einfach ausziehen wie einen Rock."



Moderator: "Ich habe das Gefühl, ich entwickle gerade eine Schwäche fürs Barocke. – Damit ist unsere Sendezeit leider vorüber. Wir suchen jetzt noch gemeinsam den Perlenohrring und das Glück. Schönen Abend noch."



ENDE



Interview mit Caesar



Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio – einen waschechten Diktator: Gaius Iulius Caesar! Was ist am Alleinherrschen so toll? Warum zieht das die Männer an wie der Kuhfladen die Fliegen? Herr der Fliegen – kommt einem in den Sinn."



Caesar: "Das mit dem Triumvirat war nichts für mich. Bei drei Männern sind zwei zu viel. Man kommt sich in die Quere. War 'ne ganz schöne Mühe, Pompeius auszuschalten. Genialer Feldherr."



Moderator: "Was war Deine Absicht? Als Tyrann wertgeschätzt zu werden?"



Caesar: "Mir blieb nur der Weg nach vorn. Zurückstecken war nicht mehr möglich."



Moderator: "Und man will ja auch sein Steckenpferd reiten: Machtbesessenheit, dem Größenwahn frönen ... Alexander dem Großen nacheifern, noch größer sein als er. Die Gallier waren alles andere als begeistert. 1 Million von ihnen getötet und 1 Million versklavt. Was für eine Bilanz."



Caesar: "Feldherr ist ein anderer Beruf als Poet. Gebiete wollen erobert werden ... Man sieht sie da liegen und denkt sich: Würde sich gut im Römischen Reich machen. Außerdem braucht man regelmäßig Beute für seine Legionen. Treue kann man sich erkaufen. Die wertvollsten Freunde sind die, in die man am meisten investiert hat. Manche von denen verraten einen bei günstiger Gelegenheit. Aber ich predige Clementia – Milde. Ich bin groß im Verzeihen. Brutus hatte ich auch verziehen. Tückischer Bursche. Ist vermutlich mein Sohn. So genau weiß man das als Mann ja nie. Meine Tochter Iulia hab ich Pompeius überlassen – sollte unser Bündnis stärken. Man muss viel arrangieren, bestechen ... insgesamt sehr mühselig so ein Aufstieg zum Konsul oder Prokonsul."



Moderator: "Du bist ja gut untergekommen im Elysium, den Elysischen Gefilden. Hat es Dich erstaunt, dass man Dich da haben wollte? Die Nachwelt weiß nicht so recht, wie sie Dich einordnen soll. Held, Abenteurer, Feind der Republik?"



Caesar: "Dafür sind solche Interviews ganz hilfreich. Alle 2000 Jahre seine Taten durchdenken – ventilieren, ohne zu hyperventilieren. Leider trifft man im Elysium auch seine Gegner; das macht den Aufenthalt dort aber nicht weniger schön. Gute Gründe fürs Fighten, Zoffen ..."



Moderator: "Das hab ich mir friedlicher vorgestellt."



Caesar: "Frieden ist eine Illusion. Gar nicht vorgesehen im göttlichen Masterplan. Ständige Olympische Spiele – jeder gegen jeden. Holt Euch den Thron! Siegeskränze für alle? Lächerlich. So funktioniert Evolution nicht. Habe mich mal schlau gemacht. Die Evolution gibt mir Recht, sie bestätigt mein ganzes Leben! Ich bin der beste Beweis, dass Machtstreben was Gutes ist. Man endet allerdings – wenn man nicht aufpasst – mit 23 Messerstichen. Verpasst von engen und guten Freunden. Die man geliebt und gefördert hat. Rom hat mir so viel zu verdanken. – Es schmerzt immer noch, wenn ich daran zurückdenke. Um manche Momente macht man einen großen Bogen. All die Warnungen. In den Wind geschlagen. Tja, das macht der Größenwahn mit einem. Man ist ein Popanz. Seltsam, dass man nie genug bekommt von Macht. Sie wird zur unentbehrlichen Speise. Als ob es Nektar und Ambrosia sei. Warum sollte man noch andere neben sich dulden, die einem dreinreden, rumnörgeln? Ich habe es einmal versucht. Es bereut. Pompeius war meine Lektion."



Moderator: "Wie es wohl weitergegangen wäre, wenn das Attentat gescheitert wäre? Octavian hat Deinen Sohn Caesarion töten lassen. Als Kaiser riss er die Macht an sich. Tat es weh, das mitansehen zu müssen? Auch sein Triumvirat war eine Katastrophe. Danach folgte eine Unmenge verrückter Kaiser."



Caesar: "Ich bin das in Gedanken schon unzählige Male durchgegangen. Man hat ja Zeit im Elysium. Den Lethe-Trank wollte ich nicht. Ich wollte mich erinnern können. Ich bin kein glücklich grinsender Idiot."



Die Studio-Band spielt 'Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium'.



Moderator: "Kam die Freude in Deinem Leben zu kurz? Immer erobern, belagern, plündern ... Freunde werden zu Feinden, Feinde im Elysium wiedertreffen ... Ist das Leben ein Lehrgang? Was hast Du dabei gelernt, mitgenommen?"



Caesar: "Ich hätte mehr Zeit mit Frauen wie Kleopatra verbringen sollen. Geistreich, machthungrig, kalkulierend ... Mir fehlten ebenbürtige Frauen. Sie waren Spielsteine; nichts weiter. Man schenkt sie seinem Bündnispartner; Gastgeschenke."



Moderator: "Würdest Du erneut den Rubikon überschreiten?"



Große Spielwürfel trudeln ins Studio.



Caesar: "Wie witzig. Alea iacta est. Ja, für meine Sprüche bin ich noch immer bekannt. Ein Sprüchemacher. Wie erbärmlich. Veni, vidi, vici. – Aber war mein Leben eine einzige Niederlage? Ich hatte mir meinen Ehrgeiz nie genauer angeschaut; war es ein gesunder, ein krankhafter Ehrgeiz? Zweimal über den Rhein – zweimal nach Britannien. Großtaten, die jetzt jedem Rucksacktouristen gelingen."



Moderator: "Die KI ist dabei, jegliche Leistungen von uns Menschen zu übertrumpfen. Viel Würde wird sie uns wohl nicht lassen. – Hast Du mal in die Asterix-Hefte reingeschaut? Die KI macht uns alle zu Witzfiguren – willkommen im Comic-Band!"



Caesar: "Es hat mich in der Tat gereizt: Herauszufinden, wozu man in der Lage ist, wo ist der Gipfel, was lassen die Götter zu? Mit was kommt man durch, ist das Leben eine Einladung zum Exzess? Wenn man alle Vorbilder übertrifft – sich vorarbeitet zur Spitze ... Kein schlichter Geschichtsheld – eine Nummer größer. Mein Charisma nahm zu. Warum sich begnügen mit 'Consul sine collega'? Kollegen neigen dazu, wenig kollegial zu sein."



Moderator: "Fördert der Beruf des Feldherrn die Misanthropie? Als Sänger ist man fröhlicher."



Caesar: "Cicero war nur Rhetor. Er führt seine Worte ins Feld, er lässt seine Suaden auf seine Zuhörer los. Wortungetüme und Wortungeheuer – damit soll Rom wachsen? Ich habe meine Zweifel. Gerechte und gerechtfertigte Kriege wollten sie – also habe ich sie ihnen geliefert. Vorwände zum Angriff fabrizieren. Bündnisgenossen beschützen; dem Gegner irre Machtgelüste unterstellen; man muss ihm zuvorkommen. Dann das beliebte 'Divide et impera': Keile in den Gegner treiben; so fällt man ihn. Einigkeit macht stark, Uneinigkeit kommt dem Eroberer sehr gelegen. Man bietet Vergünstigungen; ein Bonus-Programm. Amicus populi Romani – Freunde, Bündnisgenossen, Ebenbürtige – seid unsere Klienten, wir ziehen Euch elegant über den Tisch."



Moderator: "Vielleicht solltest Du das nicht ganz so freimütig zugeben? Nicht, dass die Elysiums-Betreiber einen Rückzieher machen. – Ambiorix und Vercingetorix haben Dir ja ganz schön zu schaffen gemacht. List und Einigkeit – damit hätten sie Dich beinahe gehabt."



Caesar: "Mein Plan stand fest: Gallien wird romanisiert. Ich habe eifrig romantisiert. Brillante Schönfärberei. Meine 'Berichte' wurden eifrig gelesen – sogar im Schulunterricht! 'De Bello Gallico' war ein Hit. PR vom Feinsten. Euch meine Sichtweise aufnötigen. Warum nur wie Cicero sich vor wenigen Zuhörern äußern, wenn man die Welt als Publikum haben kann?"



Moderator: "Warum tut man sich das an: immer auf Achse, andere unterwerfen? Wäre ein kontemplatives Leben nicht erstrebenswerter? Immer im Dienst der Eitelkeit?"



Caesar: "Schlachten haben was Magisches. Viel Strategie dabei. Glücklicherweise haben wir im Elysium auch Videogames – richtig gute Ballerspiele. Da kommt unsereins auf seine Kosten."



Moderator: "Einfach nur süchtig nach Kriegsspielen? Macht man es sich damit zu einfach -oder erfasst das Dein Wesen?"



Caesar: "Ist zunächst mal ein Prestigegewinn – erfolgreicher Feldherr; es gibt Triumphzüge; Rom feiert einen. Tut der Seele ganz gut. Außerdem ist es sehr profitabel; wo lässt sich sonst so schnell Beute machen? Der Mensch ist ein Beute-Tier. Immer einsacken. Dann schlüpft man in die Rolle als Befreier. Man fühlt sich richtig edel in solchen Momenten. Fortes fortuna adiuvat – dem Tapferen hilft das Glück. Fortunas Legionen und Kohorten kämpften erstaunlich oft auf meiner Seite. Dabei hatte ich ihr nichts versprochen. Vielleicht ist sie ein Fan der Meritokratie? Sich durch Wagemut hervortun; es muss ihr auffallen, dass man alles gibt. Rom sollte gegründet sein auf Verdiensten. Vielleicht war das dem Senat zuwider? Die Optimaten waren nicht gut auf mich zu sprechen. Die 'Popularen' das klang bei ihnen wie ein Schimpfwort ... Das war vermutlich der wahre Rubikon, den ich überschritt: Ihr Geklüngel war in Gefahr, die politische Inzucht. Ich war beliebt beim Volk, es lag mir am Herzen. Ich nutzte die Macht der Volksversammlungen. – Ich hätte nicht auf meine Leibgarde verzichten sollen. Nur Toren vertrauen Senatoren! Ich war noch gar nicht fertig mit der Umgestaltung Roms; hatte gerade erst angefangen. Die schöne Ernte – alles vernichtet. Gepflügt, gesät, gejätet – und dann kommen ein paar Krähen und bringen einen um das Verdiente. Rom ging schlecht mit seinen Kriegshelden um. Auch Pompeius haben sie misstraut. Sie haben jedem misstraut, der ein wenig über sich hinauswuchs."



Er blättert in einem Asterix-Heft.



Caesar: "Wenigstens hierfür hat es gereicht: Karriere als Comicheld. Stets unterlegen, eine lächerliche Figur. Spottbild, Karikatur – die Rache der Besiegten. Sie hatten keinen Zaubertrank. Aber Zaudertrank. Dem Zank sei Dank."



Moderator: "Du hast jede Menge Geiseln genommen. Möglichst aus dem Adel. Sich die Völker und Stämme gefügig machen. Sind das nicht Gangster-Methoden? Was unterscheidet Dich von einem gewöhnlichen Schurken?"



Caesar: "Das Ausmaß meiner Vergehen – wenn es Größe hat, geht es als Politik durch. Man muss es aufwerten durch das Format. In Britannien habe ich leider keine Gold- und Silberschätze oder Perlen gefunden. Es dennoch als Erfolg verkaufen – das ist die Kunst."



Moderator: "Es taucht die Frage auf: Mit was beschäftigt uns die Evolution? Führt sie uns am Nasenring durch ihre Manege? Männer wie Du gelten als vorbildlich. Du wolltest Pompeius übertrumpfen ... Macht ist die Karotte, der wir als Esel folgen? Man endet als größerer oder kleinerer Diktator – man zwingt anderen seine Denkweise auf, man hat die Machtmittel dafür."



Caesar: "Sehe ich auch so. Diktator ist die höchste Existenzform des menschlichen Seins. Man hat alles niedergerungen. Man kann seine Weltanschauung unter die Leute bringen. Man diktiert ihnen, wie sie zu sprechen haben. Oberlehrer und Unterdrücker in einem. Gute Kombi."



Moderator: "Leider ist unsere Sendezeit um. Die Zeit ist wohl der größte Diktator."



Caesar: "Tolles Diktum."



ENDE



Interview mit dem Buchstaben L



Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: der schöne Buchstabe L."



L: "So schön finde ich mich gar nicht. Ich werde auch ständig verwechselt mit dem I oder mit der 1."



Moderator: "Was weißt Du über Deine Herkunft? Weißt Du, was Du darstellen sollst?"



L: "Mir wurde gesagt: einen Ochsenknittel. Ein Stock, mit dem man Ochsen antreibt. Wobei der Gedanke mich amüsiert: die anderen Buchstaben auf Vordermann bringen. Furchtbare Lethargie oft im Satz; die Buchstaben hängen da lustlos rum.



Moderator: "Bist Du mit dem Buchstabieralphabet zufrieden?"



L: "Noch uncooler geht es nicht! Ständig muss ich mir anhören: 'Ludwig, Leopold, Lima, Leipzig ...' Ich bin eine 50! Zumindest als römische Zahl. Da geht doch mein Selbstbewusstsein den Bach runter. Dann fangt doch gleich an mit 'Lametta, lauwarm, leidlich, lästig'! Bin ich wirklich so lahm? – Manchmal wäre ich gerne ein P. Das hat Power! Permanente Präzision! Prächtig! Ein stattlicher Explosivlaut. Ich lasse die Luft passieren."



Moderator: "Ein sehr artiger Buchstabe. Wird man da auf Dauer labil?"



L: "Ich gelte als umgänglich. Die anderen Konsonanten erscheinen mir mitunter sehr anlehnungsbedürftig; ich will sie ja auch nicht zurückweisen. 'Pl' klingt gut und auch 'Kl', "Bl', 'Gl', 'Fl' ... Na, Du merkst schon, auf was das hinausläuft. Ich kann fast mit jedem; der gesellige Typ. Aber was ist mit meiner Konsonanten-Würde? Man behandelt mich oft wie einen Vokal. Dann heißt es: 'Kannst Du das mal machen? Das E hat momentan keine Zeit.' Sie haben mich am Bandl."



Moderator: "Sind Dir einige Worte peinlich? Aus welchen Worten sollte man Dich entfernen bzw. bei welchen Worten würdest Du gerne mitmischen?"



L: "Vielleicht wären sie besser dran ohne mich? Sie könnten mich gut ersetzen. Hexikon klingt viel geheimnisvoller als Lexikon. Bei mir ist der Lack ab. Zack! Das hat Wumms. Immer so latent, nicht wirklich patent."



Moderator: "Was darf ich Dir anbieten? Lakritze, Lasagne?"



L: "Ich versuche Stimmung zu machen: verwandle die Champions in Lampions; die Rampensau wird durch mich zur Lampensau. Ein Küster, auch wenn er nicht der Hellste ist, wird zum Lüster."



Moderator: "Trotz aller Schwermut ist Leichtigkeit für Dich ein Klacks: Was würden wir bloß ohne das Luftschloss machen? Wohin lustwandelt der Luftikus in seinen Tagträumen?"



L: "Ich bin so peinlich! Altbacken, unzeitgemäß! Ich liebäugele mit einer Totalsanierung. Kein Leisetreter, kein Gesinnungsakrobat! Immer sage ich so Sachen wie: Larifari, Lapsus, Lorgnette. Nicht auszuhalten!"



Moderator: "Würdest Du Dich als launenhaft bezeichnen?"



L: "Trifft es wohl am ehesten. – Die Lasagne ist kein Labsal. Voll der fiese Geschmack! Geeignet als Leichenschmaus für Zombies."



Moderator: "Lukullischer wird es nicht. Sparmaßnahmen des Senders."



L: "Ich bin nur loyal. Das R hat es echt drauf: Es ist royal."



Moderator: "Ich weiß nicht, ob diese Vergleiche gut sind. Du leistest Unvergleichliches!"



L: "Statt Rappen biete ich Euch Lappen. Ein Ochsenknittel, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Old School. Langweilig. Ein lascher Typ."



Moderator: "Du lamentierst gerne. Könnte man das als Dein Hobby bezeichnen?"



L: "Hobby, Lobby, Bobby ... Mein Dasein macht doch gar keinen Sinn mehr! Ich bin austauschbar. Mit LSD fällt mir das immer besonders auf. Ein Rausch soll einen erfreuen – man will nicht mit der eigenen Bedürftigkeit konfrontiert werden! Man will seine Probleme liquidieren. Die ganze Welt erscheint mir wie eine Latrine! Und ich bin der Verkünder von Latrinenparolen!"



Moderator: "Ja, Du solltest weniger LSD nehmen."



L: "Ich bereite uns jetzt eine Legehenne am Lagerfeuer zu."



Es hantiert wild umher; erinnert an den Koch der Muppet Show.



L: "Das Leben ist ein Kochstudio, in dem einem immer die wichtigsten Zutaten fehlen. Kein Smörrebröd da? Vielleicht ist das Leben wie eine Leinwand? Man verbraucht seine Farben für Stümperkram. Was wurde schon alles auf die Seinwand gepinselt?! Kein Einwand?"



Moderator: "Fehlt es an malerischen Motiven? Für was sich begeistern? Die Zukunft soll faszinieren, man skizziert sie; man zeigt der Zeit den Entwurf, was man sich da so ausgemalt hat – und sie verwirft es, übermalt es mit ganz schrecklichen Szenen."



L: "Ja, ein Leidensgenosse! Man ist im Labyrinth unterwegs. Will man den Minotaurus treffen? Hat man an den roten Faden gedacht? Man will trotz allem zur Mitte vordringen. Man treibt sich selbst voran; vielleicht auch mit einem Ochsenknittel? Treue Buchstaben, die Euch begleiten, die um Euch sind. Buddys. Ich habe Leitmotive im Angebot, Lichtblicke ... Und manchmal verwandelt sich das L zur Lichtgestalt – bei genügend hohem LSD-Anteil."



Moderator: "Applaus für das L! Eine Legende!"



ENDE



Interview mit dem Frust



Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: jemand, der extrem unbeliebt ist; eine echte Enttäuschung. Man würde gegen ihn am liebsten ein Kontaktverbot erwirken. Willkommen, lieber Frust, wie kommst Du damit klar, dass sich jeder in Deiner Nähe unwohl fühlt?"



Frust: "Man gewöhnt sich dran. Ich habe auch meine Vorteile. Ich würde nicht gerade von Schokoladenseite reden, aber die Evolution hat mir gerade neulich wieder bescheinigt, dass ich einen erstklassigen Job mache."



Moderator: "Keiner hat Lust auf Frust."



Frust: "Dabei bin ich ein hervorragender Lehrer. Gewiss, man kann sich immer mit einem 'Befriedigend' zufriedengeben, aber wenn es an einem nagt, wenn echte Unzufriedenheit einem zu schaffen macht, wenn alles desaströs ist: dann setzt das Umdenken ein, dann wirke ich. Auch wenn es Euch so vorkommt: Ich bin nicht Euer Feind, Euer Endgegner. Ich führe Euch aus dem Tal."



Moderator: "Manche beschweren sich, dass Du sie lähmst. Wie rechtfertigst Du das? Du erschaffst völlig phlegmatische, desillusionierte Wesen. Seelen-Zombies. Frust-Paralyse."



Frust: "Mag sein. Hin und wieder. Jedem seine Frust-Ration. Hihi."



Moderator: "Aber es ist doch nicht schön, wenn dermaßen viele Flinten ins Korn geworfen werden. Es werden auch unglaublich viele Handtücher geschmissen."



Frust: "Aber wie wollt Ihr denn besser werden? Blauäugigkeit muss bestraft werden. Trotteligkeit ist doch keine Tugend."



Moderator: "Man gewinnt den Eindruck, Du hast Freude an Deiner Tätigkeit; die Freude eines Folterknechts."



Frust: "Immer heißt es: 'Wohin mit dem Frust?' Ständig ist man der Unerwünschte. Ich bin einer von den Guten! Ihr rühmt Euch Eurer Frustrationstoleranz. Das erschwert mir nur unnötig meinen Job. In meiner Jobbeschreibung steht: unangenehm sein ... Sogar fragwürdige Methoden sind mir ausdrücklich gestattet. Meist bin ich leider nur ennuyant. Ich sollte mich mehr anstrengen. Nehme ich zu viel Rücksicht?"



Moderator: "Du erscheinst ja oft bei den kleinsten Anlässen. Der Computer streikt, der Kühlschrank ist leer ... Findest Du nicht, dass Du zu oft erscheinst? Du siehst überarbeitet aus."



Frust: "Ja, ich müsste mal zur Kur. Aber wer soll dann meinen Job machen? Die Freude? Was da wohl los wäre? Entwickelt sich doch alles in die völlig falsche Richtung. Ich brauch Euch desillusioniert, mit Wut im Bauch, gefrustete Gestalten, von mir geformt. Ich bin Euer Bildhauer, wenn man so will. Mein Meißel ist nagende Unzufriedenheit, nagender Hunger nach Erfolg und Anerkennung. Ich forme Euch, jaja; bin nicht unzufrieden mit meinem Werk. Schau es mir hernach immer wieder gerne an. Nie vorschnell zufrieden sein. Das erzeugt nur Mittelmaß. Vielleicht bin ich zu streng? Bin ich ein Perfektionist? Ihr unterstellt der Evolution ja gerne, dass sie eine perfektionistische Ader habe. Mein Mitwirken ist unerlässlich."



Moderator: "Im Selbstoptimierungs-Paket bist Du wohl mit dabei. Was machst Du mit denen, die es sich abgewöhnt haben, irgendwas vom Leben zu erwarten? Keine Illusionen, die Du zerstören könntest."



Frust: "Ich liebe all diese Frustkäufe, die Frustesser. Darauf möchte ich nicht verzichten. Dieses Kompensations-Gewusel. Es nicht wahrhaben wollen, dass man vorerst gescheitert ist. Aber ich meine es gut mit Euch. Man könnte mich auch als Resilienz-Trainer bezeichnen. Ich tue es gerne. Es adelt mein Tun, es lässt mich gut dastehen. Eure Widerstandskraft stählen. Eine Psyche wie ein Stehaufmännchen – beziehungsweise Stehauffrauchen. … Wenn ich das schon hör: 'Frustration abbauen.' Wo sind wir? Im Tagebau? Aber darin besteht ja das Spiel: Ich gebe mich aus als Euer Kontrahent. Besieg mich, wenn Du es vermagst."



Moderator: "Übertreibst Du es nicht manchmal? Man fühlt sich von Dir überrollt. Groll-Lawinen lösen sich."



Frust: "Emotionen reinigen. Aber Ihr habt die Lizenz zum Totärgern. Steht Euch frei. Ich liefere eins a Verbitterung. Lasst es Euch Gift sein oder Arznei. Lernt aus Euren Fehltritten, Ausrutschern, Fehlgriffen ..."



Moderator: "Irrst Du Dich denn nie? Ist Dein Auftritt immer berechtigt? Ungünstige Umstände, Pech, Zufalls-Faktoren ... So

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Cover-Bild von https://pixabay.com/de/illustrations/panda-rennen-seifenkiste-wagen-7583428/
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4280-6

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