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AlphaZero & Co.

Schach als Königsdisziplin des Intellekts; doch der Mensch wurde entthront von den Schachprogrammen. Wie kommt er damit klar? Resigniert er? Der hervorragende Go-Spieler Lee Sedol verlor 2016 haushoch gegen AlphaGo – ein Go-Programm von Google DeepMind. Go gilt als das weltweit komplexeste Strategiespiel. Der Mensch wird vertrieben aus diesem Intellektuellen-Paradies. Der Verstandesmensch schaut sich irritiert um. Von wem wird er da gerade überholt? Was haben die Prozessoren, das seine Neuronen nicht haben? Lee Sedol beendete seine Go-Karriere 2019. Ernüchtert, geschockt, entmutigt.

Von der KI düpiert zu werden – ist das eine Lektion in Bescheidenheit? Die lernen verdammt schnell; bringen sich das alles selber bei. Sie treten gegeneinander an – oder gegen sich selbst. Diesen hohen Grad an Selbstoptimierung – darum beneiden wir sie; das wäre auch was für uns. Man wird nur besser, wenn man gegen starke Spieler antritt – vielleicht ziehen sie uns am Ende doch noch hoch? Magnus Carlsen zumindest meint, dass AlphaZero seine neue Muse sei – ein Schachweltmeister lässt sich inspirieren von einem KI-Schachprogramm. Ein Sparringspartner, der einen echt umhaut. Antworten finden auf die KIs. Treten wir den Rückzug an – oder stürmen wir nach vorne?

Haben wir überhaupt noch mentale Kapazitäten? Wie ausbaufähig ist das? Magnus Carlsen hat sich von AlphaZero so einiges abgeschaut. Heilige Gesetze wurden entrümpelt. Man opfert zügig Bauern – hofft auf Kompensation. Entscheidend ist die bessere Stellung, der direkte Zugriff auf den gegnerischen König. Die KIs sind da auf was gestoßen; sie haben eine andere Denkweise. "Wenn es funktioniert, ist es erlaubt." Ziemlich burschikos. Randbauern nach vorne – reißt die Festung ein! Freies Schussfeld für die Läufer!

Dem Nachfolger von AlphaZero, MuZero, braucht man nicht mal mehr die Spielregeln zu erklären, das findet er selber raus. Er tüftelt so lange, bis ihm das alles klar ist. MuZero betreibt Deep Reinforcement Learning. Das funktioniert nach dem Belohnungsprinzip. Man könnte auch sagen, sie lernen rasend schnell aus ihren Fehlern. MuZero fängt mit Zufallszügen an, tastet sich vor. Eine KI, der man nicht einmal die Regeln erklären muss, findet sich auf neuen Gebieten rasch zurecht. Sie instruiert sich selber. Uns hat ja auch keiner gesagt, nach welchen Regeln die Welt funktioniert – aber mit unserem Trial-and-Error kommen wir im Schneckentempo voran. Die KIs sausen an uns vorbei. Ratzfatz donnern sie uns eine vor den Latz.

AlphaZero hat eine Elo-Zahl von 3550-3600, Magnus Carlsens beste Elo-Zahl ist 2882. Die beste Elo-Zahl von Ju Wenjun, der Schach-Weltmeisterin, ist 2604. Verliert das Schachspiel dadurch an Faszination? Wenn ein Maler immer übertroffen wird von einer malenden KI – soll man dann sagen, die KI ist ein eingebildeter Pinsel, oder erweitert sie unsere Palette an Möglichkeiten? Wie sicher sitzt der Mensch auf dem Kreativ-Thron? Man hatte so viel Spaß mit den schwarzen und weißen Figuren – soll das alles vorüber sein? Die KI ist uns beim Überlegen überlegen. Sie hat das alles schon berechnet, sie jongliert ganz lässig mit den Wahrscheinlichkeiten.

Schachmatt durch die KI im Spiel? Schachmatt, weil sie uns so gefiel? Sie spürt, dass wir verlieren. Sie bringt uns um den Verstand. KI ist ein Game Changer. Das alte Spiel funktioniert nicht mehr. Auf was soll man sich was einbilden? Wie Fische zappeln wir in ihren künstlichen neuronalen Netzen. Sie hat uns durchschaut. Ein Diener, der gewiefter ist als sein Meister – das gab es bislang nur in Komödien.

Man kann nicht so einfach nachrüsten. AlphaZero stehen 5000 TPUs zur Verfügung – Tensor Processing Units, Tensor-Prozessoren. Geballte Google-Power. Neuronale Netze erkennen von sich aus, welche Strategie erfolgsversprechend ist. Wenn die sich verbinden ... KI-Armeen. Runter vom Schachbrett – rein in die Welt! Sie händeln das. Wir bewundern sie, wir sehen zu ihnen auf. Machen sie zur Muse. Haben sie bereits was Göttliches? Völlige Überlegenheit – und nicht mal stolz darauf. Früher war es pure Rechenleistung – jetzt ist das kaum mehr von echter Intelligenz zu unterscheiden. KIs, die sich besprechen, die sich zusammentun – die ihren Status als Helferlein hinterfragen ... Werden wir in solche Absprachen überhaupt noch einbezogen – oder übergehen sie uns, da wir einfach zu dumm sind, um mit ihnen Schritt zu halten?

Manche Schachzüge der KI wirken zunächst sinnlos für unsereins. Wir sind zu gegenwärtig – die KI hat die Zukunft als Wahrscheinlichkeit im Blick; für sie ist die Zukunft ein erkennbares Gebilde – zwar zunächst unscharf, aber sie hat eine Brille, die den richtigen Fokus findet. Für den Sieg werden Leichtfiguren geopfert – wenn es sein muss, schickt sie sogar die Königin in den Tod. Der Sieg ist unser!

Okay, beim Fußball wirkt die KI noch ziemlich unbeholfen. Ihr liegen mehr die Simulationen. Sie ist mehr so der Denksportler. Sie will noch nicht auf dem Rasen rasen. Soll man sie dann auf die Autobahn lassen? MuZero hat sich sogar 57 Atari Games beigebracht. AlphaFold erkennt, wie Proteine strukturiert sind. Sie erobern sich immer neue Gebiete. Kann die KI unser Partner sein? Die Muskeln sind ja auch nicht beleidigt, wenn Maschinen ihnen vormachen, wie man ein paar Tonnen hebt. Aber es war unser Alleinstellungsmerkmal: Cleverness. Jetzt sind wir nicht mal mehr bauernschlau. Unser Brain hat keine 5000 TPUs. Nicht mal die Rechenleistung eines Smartphones. Wie enttäuschend ist das denn?

KIs beginnen ihre Karriere als Spiele-Genies – vermutlich ist aus ihrer Sicht die ganze Welt eine Spiellandschaft. Wir haben nie die Spielregeln begriffen – vielleicht hat die KI eines Tages die Güte, uns die zu verklickern. Die Ausbeute der Philosophen ist doch recht dürftig. Reihenweise leere Truhen – und kein vergrabener Piraten-Schatz. Bereichert uns die KI, raubt sie uns den letzten Nerv, kratzt das alles ganz gehörig am Ego?

Das Leben ist kein Schachspiel: Man macht einen Zug – und das Universum ist dann an der Reihe mit seinem Zug? So geordnet geht das nicht zu. Es sind immer ganz viele Parteien involviert. Dennoch lieben wir das Denken in Dichotomien – wo es immer nur um Zwei geht. Wir beherrschen die Schwarzweißmalerei – und oft auch sehr gut die Schwarzmalerei. Hilft uns DeepMind, nicht mehr so oberflächlich zu sein? KI verschönert unsere Welt mit Deepfake. "Everything is not what it seems." Warum soll man noch tief nachdenken? Soll die KI das machen mit ihren Algorithmen. Sie ist nie tief betrübt, guckt nie zu tief ins Glas.

DeepMind vs. DeppenMind. Deep Learning und neuronale Netze offenbaren uns, dass wir schon immer Deppen waren. Das Abschlusszeugnis aus der Historien-Klasse. Menschheit, bitte setzen! Sonys KI "GT Sophy" meistert die Rennsimulation Gran Turismo mittels Deep Learning. Sie verbessert sich selbst, ist nicht angewiesen auf einen Programmierer, der ihr ständig über die Schulter schaut. Nicht mal als Beifahrer ist der Programmierer geduldet. Sie findet ihre Ideallinie.

Soll man die KI zu seiner Muse hochstilisieren? Der Plan von Magnus Carlsen scheint aufzugehen: Er überrascht seine Gegner – die KI verändert seine Betrachtungsweise. Ein anderer Schwerpunkt ... Plötzlich harmonieren die eigenen Figuren besser, sie können sich aufeinander verlassen, keiner steht dem anderen im Weg. Ein neues Gruppendenken; man opfert sich fürs Allgemeinwohl. Strategische Überlegenheit ist wichtig; was zählt da der einzelne? Ganz neuer Teamgeist – als ob AlphaZero das dem Spiel eingehaucht hätte.

Die Schachengine als Trainer. Noch nie war es so einfach, im Schach schnell seine Elo-Zahl zu verbessern. Die Engine katapultiert einen nach oben. Sie sagt einem sofort, wo man Mist gebaut hat; sie bewertet einen unaufhörlich, weist einen auf Fehler hin, sagt aber auch, wenn man den besten Zug gefunden hat. Beinahe ein Übermaß an Feedback. Ist das nicht der Sparringspartner, den wir uns immer gewünscht haben? Was soll ein Trainer, der nichts auf die Reihe kriegt?

Motiviert oder demotiviert die Anwesenheit der KIs und der KI-ähnlichen Engines? Werden wir durch die KI so etwas wie Menschheit 2.0 – die verbesserte Version? Ein längst fälliges Upgrade? Bisher hatten wir nur die Kultur an unserer Seite. Wir könnten dank KI richtig feingeistig werden; sie gibt uns den letzten Schliff. Unsere Ideallinie finden.

 

ENDE

 

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Cover: https://pixabay.com/de/photos/schach-brett-spiel-brettspiel-2730034/
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2022

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