Es war einmal ein Wellensittich, dessen bester Freund lebte in einem Spiegel; aber er konnte ihn nicht daraus befreien; so sehr er sich auch bemühte und ihm gut zuredete. Der saß da irgendwie fest. Oft beriet er sich mit seinem anderen Freund darüber; mit dem stimmte ebenfalls irgendwas nicht. Der rotierte immer wie wild um seine Stange, sobald man ihn mit dem Schnabel anstieß. Sah witzig aus, aber der war doch nicht ganz dicht? Okay, ein bisschen Spaß machte es schon, ihn so rotieren zu lassen. Was wohl der Spiegel-Kamerad davon hielt?
Gelegentlich schaute ein Mensch zu ihm in den Käfig, unterhielt sich recht anständig mit ihm. Von ihm erfuhr er, dass er 'Pitje' hieß. Aha. Ein schöner Name. Dann forderte man ihn auf, sich im Zimmer umzusehen, 'ne Runde zu fliegen; sogar an den Gardinen konnte man sich festhalten. Er hatte zwar keine Vergleichsmöglichkeiten, aber es wirkte nicht wie ein riesiges Flug-Testgelände. Aber es machte einen Riesenspaß; schön laut.
Allerdings wollten sie immer wieder dieselben Sätze von ihm hören. Er hatte die sich gut gemerkt. Begeisterung bei denen auszulösen, von denen man abhängig ist, kann nicht verkehrt sein. Körner gab es en masse. So viel er haben wollte. Weintrauben – lecker! Er hatte noch nicht herausgefunden, mit welchem Satz er Weintrauben bestellen konnte. Seinem Spiegel-Freund bot er höflicherweise oft was von dem Knabberzeug an, aber der lehnte immer ab, ließ alles einfach zu Boden fallen. Na ja. Aber es war tröstlich, nicht der seltsamste Vogel im Revier zu sein. Sein Rotations-Freund – dem musste doch schon ganz schwummerig in der Birne sein; aber da half nichts: Pitje gönnte ihm noch 'ne Runde.
Der Service war nicht schlecht. Aber seltsam, wie die Menschen 'Nacht' definierten. Nacht war, wenn die Decke über den Bauer gezogen wurde. Ab dem Moment hieß die Parole: Schnabel halten. Er wäre gerne auch redegewandt wie die Menschen; sein Repertoire war doch recht dürftig; aber es genügte, um sie bei Laune zu halten. Sehr anspruchsloses Publikum.
Er hätte gar nicht blau sein dürfen – grün war die offizielle Farbe der Wellensittiche; man verdankte es der Kultur, sie mischte sich ein in die Natur, färbte wild drauf los; sah im Grunde auch viel netter aus. Wie es wohl wäre, so im Schwarm – wenn man einer von Hunderten war, austauschbarerer? Ach, für ihn fände sich hier doch sicherlich auch schnell ein Ersatz. Ein anderer würde seinen Bauer bewohnen; sein Spiegel-Freund würde gut Freund sein mit dem neuen Bewohner; man würde sich an ihn nicht mehr erinnern. Was hatte er geleistet? An Gardinen gezupft, auf Schultern gehockt, immer dieselben Sätze wiederholt, weil es das Publikum so wollte.
Vielleicht waren die Menschen genauso wie er: Wellensittiche, die sich an einige bekannte Sätze klammerten, daran festhielten? Es gab ihnen einen bisschen Würde; im Natur-Plan war es ja gar nicht vorgesehen, dass man Sprache für mehr verwendete als für Balz und Warnrufe. Ein ganz neues Feld für die Sprache. Und er hatte Anteil daran, durfte gewissermaßen in den großen Ballsaal der Kultur hineinblicken – zwar nicht als geladener Gast, aber nicht ganz unerwünscht. Man war mit der Kultur vertraut, man war von ihr berührt.
Ein Schwarmgeist – wäre das besser? Er hatte nie die Wahl. Sein Ego unterlag hier keinen Einschränkungen; er galt als einzigartig. Inmitten eines Schwarms hingegen wäre seine Einzigartigkeit mit einem Schlag weg. Bestimmung des Lebens verfehlt? Ein Leben hinter Gittern – wobei es für die Freiheit mittlerweile zu spät war. Kein Naturbursche mehr. Die Natur ist da sehr streng; die nahm ihn nicht wieder auf. Katzen wären vermutlich auch nicht sehr beeindruckt von seinen Sprachfähigkeiten. Besser, man hielt sich an den Komfort, den so ein eigener Bauer bot.
Langeweile war ein großes Thema; Futtersuche entfiel; stand ja alles da; Wasser wurde nachgeschenkt; man konnte sogar darin baden; eigentlich unhygienisch; aber was soll's? Ein bisschen schade war es, dass die Menschen sich an seinen Rundflügen nie beteiligten – man hätte so schön gemeinsam die Gegend unsicher machen können ... Ein Zimmer erschien auf einmal richtig groß ... Erweiterung des Umfeldes ins Unermessliche, wenn es auch nur ein Dutzend Quadratmeter sind; aber wie oft würde sein Bauer da hineinpassen? Erweiterung, Daseinsfülle.
Er hatte ein domestiziertes Wesen; sollte ihn das bekümmern? Der verlorenen Natur hinterhertrauern? Er war sich nicht ganz sicher, welche Gedanken von ihm stammten – und welche er einfach von den Menschen übernommen hatte. Er dachte ihre Gedanken weiter, so wie er ihre Sätze übernahm; er stülpte sich ihr Wesen über. Hielt sich zuweilen für einen Menschen. Wunderte sich dann allerdings, dass er so gut fliegen konnte. Sein anderer Spiegel-Freund war besonders witzig: Immer, wenn man ihn von sich stieß, kam er treu zurück. Er stand auf einer Kugel – wie ein Stehaufvogel; beinahe unheimlich. Aber es beschäftigte einen, die Gedanken umkreisten dieses seltsame Phänomen.
Er wiederholte zuweilen seinen Namen – fast wie eine Beschwörungsformel – in einem rasenden Tempo, als ob in "PitjePitjePitjePitje..." irgendeine verborgene Weisheit steckte – sein persönliches Mantra. Musste doch eine Bedeutung haben, dass die Menschen es immer in so einem seltsamen Ton zu ihm sagten. Fast beschwörend.
Er hörte hin, wenn im Gespräch die Rede von ihm, Pitje, war. Da konnte er noch so beschäftigt sein – das war etwas Außergewöhnliches, das galt ihm. Das galt es, herauszufiltern. So etwas hatten die Wildtiere nicht vorzuweisen: einen eigenen Namen. Das unterschied ihn von ihnen. Beschwörungs-Zauber ...
Vielleicht offenbarte sich die Welt in bestimmten Wörtern? Er merkte sich Sätze, sie füllten seine Langeweile, sie gaben ihm was. Bereicherung durch sinnlose Kultur. Die Menschen hatten einen Vogel. Aber es war ein sehr sympathischer.
ENDE
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Tag der Veröffentlichung: 17.04.2021
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Widmung:
Für Pitje :-)