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Fisch

Auf dem Reinkarnations-Menü ist diesmal keine große Auswahl: Nur Fisch ist für mich vorgesehen. Na toll. Barrakuda wäre witzig. Aber dafür fehlen mir so einige Karma-Punkte. Hätte mich mehr anstrengen müssen. Schon witzig, wenn ich an meine hilflosen Angel-Versuche zurückdenke. Eigentlich müssen die Fische mich in guter Erinnerung haben – selbst der blödeste Fisch konnte mit Leichtigkeit und ganz geruhsam abhauen. Sie schauten zwar interessiert auf den Blinker – aber warum um alles in der Welt sollten sie da reinbeißen? Hätte ich auch nicht gemacht. Oder steht mir genau das jetzt bevor? Schluckt man jeden Köder? Vielleicht will das Schicksal mir damit etwas sagen, dass ich nun den Fisch-Kurs einschlagen soll? Aber wie bitte soll man als Fisch philosophieren – und dabei auch noch gute Taten vollbringen? Ist mir ja nicht mal als Mensch gut gelungen. Verdammte Fischstäbchen! Wieso waren die auch so lecker? Ob Veganer hier Vorteile genießen? Die steigen bestimmt gleich auf in dieser seltsamen Liga – Karma-Nerds. Aber es gibt ja noch eine Karma-Schulung – inklusive Retrospektive ...

Wo hatte man die größten Schnitzer, aus welchem Holz ist die Seele gemacht, warum war man so ein Holzkopf? Leitet vermutlich irgend so ein Tischler. Jesus Vater soll ja Zimmermann gewesen sein – hat alles seinen Grund. Was hat man so alles auf dem Kerbholz? Mag gar nicht hinschauen. Im Grunde sind sie gnädig: Die Fisch-Abteilung sieht recht ansprechend aus. Könnte witzig werden. Ein toller Hecht. Hier muss man ankreuzen, ob man eine Aversion gegen Silvester hat. Betrifft wohl all die, die mit der Idee spielen, es mal als Karpfen versuchen zu wollen. Komisch, Fische sind als Stofftier ziemlich unbeliebt. Haben wohl schlechte PR. Quastenflosser wäre witzig – 400 Millionen Jahre auf dem Buckel ... Verdammte Karma-Punkte! Ich hab nicht mal ein Achtel der benötigten Punktzahl. Wie erbärmlich das alles hier. Da steht man auch noch Schlange ... Das Schicksal hat einen echt am Haken. Revolte anzetteln? Gibt bestimmt noch mehr Minus-Punkte. Karma-Karambolage? Ein wenig Unordnung in das System bringen? Warum nicht? Ich war ein recht erfolgreicher Hacker; austricksen liegt mir. Wo ist der Hauptrechner? Wenn sie mich erwischen, mische ich wohl in der Plankton-Liga mit. Sich von da hochzuarbeiten, dürfte mehrere Milliarden Wochen in Anspruch nehmen.

Ich treffe einige Bekannte. "Du hier und nicht in Hollywood?" Aurora sieht auch als Seele hervorragend aus. Sie meint: "Ist das alles hier nicht aufregend? Ich werde vermutlich ein Otter!" Da haben wir ein Problem. Fisch und Otter harmoniert irgendwie nicht. Mehr denn je ein Grund, das alles hier zu stoppen und zu hacken. Ich bin gar nicht so für Verwandlungen. Magie hat auch ihre Nachteile – besonders, wenn man an sein Karma gekettet ist. Wie löst man die Karma-Ketten? Ich brauche einen Dietrich. Wenn man entschlossen genug ist, dann öffnet sich einem jedes Schloss! Meine Entschlossenheit verwirrt die anderen – meine Karma-Farben flackern.

"Was hältst Du vom Tricksen?" Aurora war Beamtin. Hypergenau. Aber überraschenderweise geht sie auf meinen Vorschlag ein. "Wenn einer das hacken kann, dann Du!" Sie vertraut mir.

Die übrigen Seelen schwärmen ins Auditorium für den großen Karma-Vortrag – Beginn der Vorlesungsreihe, wie man das Beste aus seiner Reinkarnation herausholt. Selbstoptimierung als Kaulquappe? Na, da überspring ich doch ein paar Phasen und bin zumindest ein Froschkönig. Geduld war noch nie meine Stärke. Manche mögen es Stümpern nennen, ich nenne es Trial-and-Error-Verfahren. Passt dem Karma-System natürlich nicht in den Kram, dass man dabei auch jede Menge Error einsammelt. Mein Error-Eimer ist vermutlich übervoll.

"Als zukünftige Fischkonserve habe ich eigentlich nicht viel zu verlieren", versuche ich mir Mut zu machen.

"Ich wäre gerne ein Otter. Aber im Grunde ist das eine Unverschämtheit für ein völlig korrekt gelebtes Leben! Ich hätte anderes verdient! Halber Heiligenstatus oder so was in der Art. Aber nicht mal ansatzweise Flügel oder Erwähnung, dass man Aussicht hätte, bei den Engeln aufgenommen zu werden. Stattdessen Fisch den ganzen Tag!" Aurora ist ein wenig aufgebacht. Ihre gelbe Aura wandelt sich ins Schmutzig-Kadmiumgelbe.

"Kein gutes Zeichen!" Ja, es ist schon ärgerlich, dass die Aura jetzt Bände spricht. Uns steht quasi unser böses Vorhaben auf die Stirn geschrieben, die aber mehr so als Hologramm-Version existiert. Alles nur so angedeutet, in der Schwebe. Eigentlich eine ideale Voraussetzung fürs Hacken und Cheaten.

"Wie berechnen die das? Ich müsste die Karma-Algorithmen kennen." Überraschenderweise landen wir beim Umherstöbern vor einer großen Tür mit der Aufschrift "Karma-Code". Dummerweise stehen da Wächter vor. Wir brauchen eine Ablenkung.

Aurora deutet auf den Höllenfahrstuhl. "Wir sollten uns den Höllenhund Kerberos ausleihen. Der soll sich hier mal umsehen."

Unsere Auren werden dunkler. "Wir sollten uns mit unseren Plänen beeilen. Wir wirken vermutlich äußerst verdächtig."

Überraschenderweise liegt vor dem Höllentor kein Hund, sondern ein riesiger Fisch. Der Karma-Meister hat wohl Humor.

"Unsere Gedanken beeinflussen das Setting. Wir sollten unseren Gedanken voraus sein", lautet Auroras nicht sehr hilfreicher Ratschlag.

"Ja, wir verändern die Hindernisse, die sich uns entgegenstellen – wie ein Objekt, das beschleunigt wird: Es arbeitet mit daran, dass der Widerstand, den es erfährt, immer größer wird. Man erreicht keine Lichtgeschwindigkeit. Man hackt sich aus dem Gesamt-System nicht raus."

Der Fisch stimmt mir im Großen und Ganzen zu. "Im Grunde sind alles nur Gedanken, Gedanken-Welten; ineinander verwoben. Schuld ist darein geflochten und jede Menge anderer Ballast. Man hängt in den Netzen des Seins; verfängt sich darin – oder aber man wird Fischer. Und nutzt die Netze für seine Zwecke." Mysteriös aber eventuell ganz hilfreich. Gut, auch zu wissen, dass Fische nicht gänzlich stumm sind. "Surreales Setting."

Wir schleppen den Fisch nach oben – landen wieder vor der großen "Karma-Code"-Tür. Die Wächter beeindruckt das nicht – allerdings verwandeln sie sich: Sie werden größer und noch bedrohlicher. Ich würde das als Rückschritt bezeichnen – auch im Hinblick darauf, dass wir einige Schritte zurückweichen. Vielleicht sollte ich doch zu der Karma-Schulung gehen? Oder aber, ich nutze meine Gedanken, um die Wächter zu verwandeln! Ein Hack auf mentaler Ebene. Wie schön, dass man jetzt seinen Geist so direkt spürt, man kann ihn viel besser steuern; alle Systeme abschussbereit. Dem Fisch ist das zu suspekt, er schwimmt in dem Fluidum des Seins davon. Vielleicht sollte ich mich ihm anschließen? Von der Mentalität her passe ich besser ins Höllenprogramm; man könnte da Neuerungen einführen ... Meine mentale Beeinflussung hat Erfolg – die Wächter geben den Weg zur Datenbank frei. Man kann ganz einfach durch die Tür hindurchgehen – schon praktisch dieses Seelenformat. Man muss sich erst daran gewöhnen, dass es hier ganz andere Begrenzungen sind, die einem sehr zu schaffen machen.

"Wir brauchen eine Freigabe von jemandem mit Gewissens-Level 10. Wir sind nur bei 3." Aurora macht mich auf diese Tatsache aufmerksam. Wir haben keinen Zugriff auf den Karma-Rechner. Nicht mal für einen Augenblick kann man so tun, als hätte man Gewissheit über den tadellosen Zustand seines Gewissens? Verräter! Hier triumphieren nicht die Gewissenlosen, das Gewissen müsste hier Seite an Seite mit einem kämpfen – als Verbündeter und nicht als Verräter, der einem in den Rücken fällt.

Osiris betritt den Raum. "Ich will Euch prüfen", verkündet er. Immer diese Überprüfungen. Ist ja nicht damit getan, dass einem im Leben die Gewissensbisse zusetzen wie ein Haufen Flöhe ...

"Aurora! Halt Du ihn fest, ich hacke das System!", lautet meine Anweisung. Aurora sieht ihre Otter-Karriere den Bach runterschwimmen. Tätlicher Angriff auf Osiris, Verschleppung des Höllenhund-Fisches in die oberen Stockwerke, Schwänzen des Karma-Unterrichts ... Da kommt schon einiges zusammen. Beachtliches Tempo. Mein Gewissen dürfte mittlerweile aussehen wie ein Grabbeltisch beim Sommerschlussverkauf. Ich habe die Unordnung perfektioniert.

"Wollen wir nicht alle nach dem Glück angeln?", frage ich Osiris. Aurora sitzt ihm im Nacken. "Ich kann Judo!", verkündet sie; aber sie macht dabei nicht so rechte Fortschritte; da müsste man nachhelfen.

Das System will das Passwort von mir wissen. Könnte so etwas sein wie "Gerechtigkeit" oder "Balance".  … Ich ändere das Passwort – wenn hier alles mit Gedanken gesteuert wird, dann dürfte das nicht allzu schwer sein. Im Einklang sein mit dem Universum – aber was will es? Will es wirklich Gerechtigkeit, oder will es vorankommen, hat es diese ewige Karussellfahrt satt? Ein Autoscooter auf Abwegen, einer, der sich selbstständig macht; zuweilen eine Geisterbahn; Riesenrad der Planeten ... Ich ändere das Passwort auf "Jahrmarkt". Es erscheint mir passend, zutreffend. Man soll das tippen, auf das tippen, was einem adäquat erscheint.

"Jahrmarkt" ist natürlich falsch – und die Wächter nehmen uns gefangen. "Man müsste das System hinterfragen ... So fischt man doch nur im Trüben!", lautet mein Einwand.

Poseidon kommt rein – sein Dreizack sieht mir doch sehr nach Fischbesteck aus. Man sollte sie nicht alle gegen sich aufbringen.

"Ihr widersetzt Euch? Das ist ein gut durchdachtes System. … Du könntest für die Trickster-Schulung in Frage kommen. Das Universum ist angewiesen auf exzellente Trickster. Meinst Du, Du könntest das schaffen? Hast Du das Zeug dazu?"

Ein tolles und unerwartetes Angebot. "Ich habe schon Fisch-Pläne – ein Meer von Möglichkeiten." Das stärkt bestimmt meine Verhandlungsposition. Desinteressiert tun.

"Gedanken sind hier die Währung, wie Du ganz richtig herausgefunden hast. Nur blöd, dass sie so eng mit dem Gewissen zusammenarbeiten? Was soll man da machen? – Wir würden uns auch gerne davon befreien! Siehst Du da eine Möglichkeit?" Echt jetzt? Poseidon fragt mich, ob ich den Göttern helfen kann? Will er meine Hybris-Bereitschaft testen? Mein Ego aufblasen wie einen Luftballon? Aber sie alle scheinen im System zu hängen – alle wirken nicht so ganz zufrieden. Immer an sein Gewissen gekettet zu sein, alles landet in der Karma-Datenbank – keinerlei Fehlurteile – das ist alles schon recht heftig.

"Im Grunde sind wir Götter nur Vollzugsbeamte. Alles ein Riesen-Gefängnis. Man müsste sich da raushacken. Wir benötigen mehr Trickster!", schreit ein verzweifelter Osiris mich an.

Das Karma-System hatte ich mir anders vorgestellt. Kein Wunder, dass "Jahrmarkt" das völlig falsche Passwort ist.  Ich versuche es mit "Gefängnis". Es funktioniert. Man kann die Datenbank bearbeiten.

Erkennen, dass man ein Gefangener ist – vielleicht ist das der erste Schritt, um sich hier herauszuboxen? Das Universum lässt einen immer gegen sich selbst antreten – Runde um Runde – egal in welcher Reinkarnation – immer verschmilzt es den Protagonisten und den Antagonisten miteinander. Und nur ein Trickster vermag die beiden zu trennen? Ich unterschreib den Vertrag – bestehe aber darauf, dass mir Aurora als Assistentin zugeteilt wird. "Willst Du meine Sonne sein?"

"Klingt besser als das Otter-Programm. Okay! Vielleicht treffe ich ja die echte Aurora – die Göttin der Morgensonne – und kann mir ein paar Tipps von ihr geben lassen?"

Unsere Auren werden heller. Einige Engel begleiten uns. "Angel und Angel – klingt schon sehr ähnlich. Irgendwie beunruhigt mich das", sage ich zu Aurora. Habe ich eine Angel-Phobie entwickelt?

Aurora meint aufmunternd zu mir: "Petri Heil!"

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.02.2021

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