Das Setting könnte dem Menschen schon Angst und Kopfschmerzen bereiten: ein unbegreifbares Universum; ein Rätsel, an dem sich die vorigen Generationen schon die Zähne ausgebissen haben; Zahn der Zeit war auch nicht viel erfolgreicher. Mutvoll sein inmitten von etwas Unbegreifbarem. Vielleicht hilft es wirklich, wenn man nicht allzu viel nachdenkt? Bedenkenträger – alles mehrfach bedenken: gibt dem Zweifel Nahrung, füttert die Sorgen.
Aber ohne Angst gäbe es auch keine Kicks, keinen Thrill. Die Angstlust wäre uns fremd. Die Spannung braucht als Ingredienz Angst. Vielleicht kann man auch seine Kompetenz steigern, was Gefahrensituationen anbelangt? Wie beim Schachspiel lernen, sich unter Zeitdruck richtig zu entscheiden. Typisch für Gefahrensituationen: Zeitmangel. Je besser man vorbereitet ist, umso versierter agiert man. Aber gilt das auch für jemanden mit Lampenfieber? Da wischt die Angst alles beiseite, sie beherrscht die Bühne, die Kompetenz kann sehen, wo sie bleibt. Vorbereitung ist also nicht alles. Sänger, die ganz hervorragend singen – aber kommt Publikum hinzu, steht neben ihnen der Zweifel auf der Bühne. Wird man den Erwartungen gerecht?
Angst soll einen an sich fit machen für solche Stresssituationen: Es gibt auch dementsprechende Hormone – alles vorbereitet. Dennoch ist das alles nicht sehr hilfreich. Was hat sich die Evolution dabei gedacht, einen ausgerechnet dann mit Adrenalin und Cortisol vollzupumpen, wenn man Coolness ausstrahlen will? Herr der Lage. Stattdessen Angststarre. Und Fluchtgedanken. "Der Schrei" von Edvard Munch illustriert das ganz gut. Schwer zu beherrschende Panik.
Vielleicht kann man von Angsthürde sprechen: Man wird vor etwas gewarnt – aber wenn man es erfolgreich überwindet, gibt es 'ne Belohnung? Das Angstgefühl als Hinweis, dass es bei diesem Game was zu gewinnen gibt – aber man kann auch alles verlieren. Manchmal werden einem Heldentaten aufgezwungen: Im Krieg ist Fahnenflucht nicht gern gesehen; ein Held, weil die Nation es so will. Die Version als Videogame ist da etwas risikoloser – aber man wird auch belohnt mit Thrill.
Die Evolution honoriert das: Sie will uns zuweilen in Extremsituationen sehen. Wie bewähren wir uns da? Ist das genetische Material fit dafür? Wo besteht Verbesserungsbedarf? Alles Material-Belastungsproben. Man wird durchgecheckt. Am Ende eines Abenteuer-Films wird gelacht. Gefahr überwunden, Auftritt des Lachens. Wobei Superhelden es fertigbringen, auch während ihrer Heldenmission unablässig Witze zu reißen. Immer ganz locker.
Horrorfilme sind sehr beliebt – irgendwie will man sich dem Unangenehmen stellen; es gibt einen Markt für gut erhaltene Antagonisten. Wieso gleitet das so schnell in den Bereich des Langweiligen, wenn man das Gefährliche ausklammert, wenn man die Antagonisten bittet, sich mal rauszuhalten? Ist man auf den pünktlich gelieferten Schrecken angewiesen? Ein Thrill-Urbedürfnis? Inwieweit macht Angst Sinn? Ist sie der tolle Ratgeber oder macht sie die Gefahr nur um einiges interessanter? Wertet sie die Gefahr auf, ist sie ihr Propagandaminister? Die Gefahr wird dadurch wertiger.
Ärger, Wut, Zorn sind die emotionalen Kontrahenten der Angst: Mit Wut im Bauch vergisst man seine Angst, sie setzt sich auf die Reservebank, wird später eventuell eingesetzt. Man kann nicht immer wie ein Berserker kämpfen – aber es ist tatsächlich vorgesehen – manchmal macht es eben keinen Sinn, Angst zu haben; dann befreit einen die Evolution davon. Nützliche Affekte. Man kämpft wie besessen – der Feind muss besiegt werden. Jenseits der Angst. Hier ist vorsichtiges Taktieren unangebracht. Der Diplomat hat zu schweigen. Wenn man zu viel bedenkt, läuft einem die Zeit davon – ähnlich wie beim Blitzschach; das Leben will Antworten.
Zieht das Denken Depressionen an? Wenn man sich den Kopf zerbricht, hat man bestenfalls Kopfschmerzen. Je mehr man sinniert, umso weniger Sinn ergibt das alles. Man vertreibt den Sinn geradezu. Als ob man ein Wort zu oft wiederholen würde – es wirkt seltsam fremd. Die Welt liebt den oberflächlichen Blick – so ist sie eins mit sich selbst. Wenn man sich erst ausmalt, was alles schiefgehen könnte, ist man zwar hervorragend gewarnt, aber der innere Angsthase hat jetzt das Kommando. Dann lieber völlig unbedacht ein fideles Haus sein. Superhelden richten jede Menge Kollateralschäden an – sie sind eben keine Bedenkenträger. Es scheint, als würde allzu langes Nachdenken nur den Angst-Generator aufladen. Insofern gar nicht vorteilhaft, dass die Menschen immer intelligenter werden. Man sieht plötzlich überall Probleme, man bekommt einen Blick dafür. Wie war es schön, als man unbedarft war. Zu Arkadien gehört die schlichte Denkungsart. Ein paar Schäfchen zählen; ein Schäferstündchen oder zwei. Das Denken macht einen empfänglich für die Kompliziertheit der Welt; man hat sich im Nu verfangen in den Theorien-Netzen. Denken wird zum Risiko-Sport. Den Tieren bleibt das Nachdenken über die Zukunft erspart. Auch ein Baum ist kein Baumeister von Gedankengebäuden. Wir asten, tragen schwer an unseren Gedanken, die mit Sorgen vollgesogen sind. Ein Baum macht keine Mutproben. Eine Biene ist guten Mutes – toll, was sie an diesem Tag schon alles geschafft hat. Viel getanzt ... sie ist gesammelt, voll bei der Sache. Ihr fällt das Konzept leicht "Sorge Dich nicht, lebe!".
Der Mensch ist von Haus aus ein vorzüglicher Bedenkenträger. Zweifel, Einwände, Skrupel machen ihm das Leben schwer. Das Denken gibt insofern auch einen Kick: Risikomanagement vorab, man wägt ab, erlebt die tollsten Horror-Szenarien in der Fantasie ... und entscheidet sich dann fürs Nichtstun. Zu viele Unwägbarkeiten; der Wagemut soll sich gedulden, auch wenn er an der Leine zerrt.
Welches Zebra sucht schon den besonderen Kick, hat Bock auf Angstlust, provoziert den Löwen? Die Strategie könnte tatsächlich erfolgreich sein – der Löwe wäre zunächst mal baff. Aber wie lange hält seine Baffheit an? Bis dahin hat das Zebra sicherlich schon etliche Follower – man winkt ihm zu, es gibt auch Likes – aber die Herde würde ihm im Ernstfall nicht den Rücken decken. Kicksucher gibt es nicht allzu viele in der Tier- und Pflanzenwelt; man verzichtet auf den Kick. Auch ein mutiger Löwe ist von den Vorteilen des Bungee-Springens nicht restlos zu überzeugen. Schon gar nicht, wenn das mit seiner Siesta-Zeit kollidiert.
Vielleicht hat die Leidenschaft für Angst auch was mit der Perfektionssuche des Menschen zu tun? Möwe Jonathan ist so ein Perfektionist: Er sieht sich als Kunstflieger, will das alles optimieren. Der olympische Gedanke steckt in ihm, er will das Beste aus sich herausholen. Das Läppische hinter sich lassen – Lapsus in Kauf nehmen ... Aber gerade da scheitert man meist: Man hat Angst vor dem Lapsus; dabei ist es normal, dass man sich auf ungewohntem Terrain verläuft. Nahezu fehlerfrei agiert man im Bereich des Vertrauten. Die Komfortzone ist allerdings nicht ganz so spektakulär. Möwe Jonathan wird kein Astronaut; aber dem Menschen sind in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt: Das alles geht weit übers rein Notwendige hinaus. Ab wann wird es Perfektions-Wahn? Es ist, als würde die Evolution uns ständig zurufen: "Noch besser, noch raffinierter!" Wohingegen die Angst die Hände überm Kopf zusammenschlägt und murmelt: "Das darf doch nicht wahr sein! Was macht der Idiot da?!" In bester Angeber-Laune packt man den Stier bei den Hörnern – aber nicht so wie ein Torero, sondern wie ein Tor. Warum soll man das vorher büffeln?
Zum Jahrmarkt des Lebens gehört auch: Geisterbahn der Gefühle; man sehnt sich direkt nach dem Unangenehmen. Ist es so, weil man ansonsten das Angenehme gar nicht bemerken würde? Es sänke auf den Status des Normalen. Erst das Unangenehme adelt es, macht es zu etwas wirklich Außergewöhnlichem. Vor diesem Background kommt es so richtig zur Geltung. Man weiß es zu würdigen. Jedes Gefühl hat seinen Gegenpart. Trotzdem fällt es einem schwer, die Angst als seinen Freund zu betrachten, anzusehen; man verleugnet sie lieber, man will mit ihr nichts zu tun haben, man stößt sie von sich. Die Angst ist hochbeleidigt. Sie sieht sich als guten und kompetenten Ratgeber.
In der griechischen Tragödie ist die Rede von "Reinigung durch Furcht": Man verspricht sich viel von der Furcht, dem Schaudern ... Es soll einen gruseln, wenn man in den Abgrund der menschlichen Psyche blickt – selbst die Helden sind davor nicht gefeit; man stürzt regelmäßig in den Hades wegen der üblichen Verfehlungen. Man irrt sich, man kommt mit seinen Affekten nicht klar, man ist sich über die Art des Stückes gar nicht im Klaren, was man da aufführt: Man hält es lange Zeit für eine Komödie, bis die Götter letztlich damit herausrücken, dass es als Tragödie angelegt ist. Sehr witzig. Erlebt der Zuschauer die versprochene Katharsis, die Reinigung? Ist Angst so etwas wie eine höllisch gute Seelen-Waschmaschine? Was läutert einen? Will man geläutert werden? Herrscht da Bedarf? In der Tierwelt stellt sich keiner für die Läuterung an. Man geht ungeläutert durch den Tag, durch die Wiesen, durch den Wald.
Die Pinguine haben selten Fracksausen; vielleicht sind sie einfach zu beschäftigt dafür? Hat der moderne Mensch einfach zu viel Zeit, sich Sorgen zu machen? Das Meiste ist harmlos, dennoch härmt man sich. Vielleicht ist Fortuna uns gram, weil wir uns in einer Tour grämen? Sind die Sorgen auf Welt-Tournee? Die Zeitungen geben den Takt an bei diesem Konzert der Sorgen. Die Angst darf die erste Geige spielen. Die Hoffnung fällt mit Pauken und Trompeten durch. Angst und Sorgen lassen sich recht gut verkaufen. Guten Nachrichten haftet etwas Langweiliges an. Only bad news are good news. Selbst die Zeitungsenten werden immer aggressiver. Mit was werden die eigentlich gefüttert?
Man kann die Angst auch instrumentalisieren. Wenn man Angst hat, zu widersprechen, dann kann sich die Gegenseite als Sieger fühlen – ganz ohne Kontroverse und ohne sich dem Diskurs ausgesetzt zu haben. Man weiß die Moral auf seiner Seite. Widerstand ist zwecklos. Sogenannte Zeitgeist-Piraten – die haben den jetzt unter ihrer Fittiche. Wer opponiert, geht über die Planke. Sich fortbilden vom Gelegenheits-Phobiker und der Teilzeit-Memme zum Profi-Schisser: eine echte Bangbüx, die allen Qualitätsanforderungen der Verzagtheit genügt. Oder sollte man gegenüber seinem Kleinmut großmütig sein? Es gibt Gelegenheiten, da ist man mit Mut nicht so gut beraten. Kriegsbegeisterung in Maßen ist ja ganz gut – aber nur weil ein anderer befiehlt, dass es an der Zeit wäre, aggressiv zu sein, muss man dem ja nicht unbedingt beipflichten. Mut auf Abruf hat was Verdächtiges. Man ist ja kein gut dressierter Hund. Man würde sich gerne aussuchen, wen man da beißt und wann.
Man verbeißt sich gerne in Theorien, hat zuweilen auch Angst, dass all die Lieblings-Theorien unrichtig sind, dass man dann dastünde ohne sie. Man käme sich schon sehr verloren vor. Sie sind so etwas wie eine geistige, mentale Heimat. Vielleicht fühlen Menschen sich deshalb sofort herausgefordert, angegriffen, wenn man ihre Religion in Frage stellt? Man steht gerne auf sicherem Terrain. Kein Burgherr erfährt gerne, dass er da in einem Luftschloss haust. Ganz im Gegenteil – man verstärkt sodann die Wände, macht alles noch solider – Wolken als Baumaterial, alles kein Problem. An was glaubt man: an den Mut, an die Angst? Auf welches Feld setzt man seinen Glauben? Es wäre so einfach, wenn der Glauben stets die Angst besiegen könnte; warum macht man es sich so schwer? Stattdessen müssen die eigenen Überzeugungen dran glauben; man hält nicht zu ihnen; man lässt sie im Stich. Wie gerne würde man stets an sich glauben, aber die Zweifel türmen sich auf, umschlingen einen wie die Schlange Kaa Mowgli – haben was Hypnotisches, säuseln einem ins Ohr, dass sie es ja nur gut mit einem meinen. Zweifel als treue Begleiter; sehr entscheidungsfreudig wird man dadurch nicht.
Man kann sich Feigheit auch schönreden, es als kluge Strategie ausgeben ... Aber es bleibt dabei: "Nur wer wagt, gewinnt!" Vielleicht ist die Evolution in unserem Falle ganz besonders dahinter her, dass wir uns unseren Ängsten stellen, sie überwinden, in Topform sind? Weil sie auf uns gesetzt hat? Sie hat einiges investiert. Intelligenz ist ein Luxus, den sie nicht jeden Tag spendiert; man mache etwas daraus. Auch wenn gerade die Intelligenz einem die Sicht auf all das Unangenehme, Verhängnisvolle, Widerwärtige besonders ermöglicht. Die Intelligenz arbeitet der Angst zu – andererseits gibt sie uns die Mittel in die Hand, um mit all dem fertigwerden zu können; auch wenn die Intelligenz dem Optimismus regelmäßig die Flügel stutzen muss: Sie braucht Realisten. Schade. Dabei wäre der Optimismus ein sehr guter Gegner gegen die Angst, er hätte echte Chancen.
ENDE
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Tag der Veröffentlichung: 10.02.2021
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