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Der tropfende Wasserhahn

Offenbar ist dem Wasserhahn langweilig –

er experimentiert mit Tropfen.

Oder will er lediglich provozieren?

Der Mensch wird zum armen Tropf,

wenn es so ins Becken tropft –

so ganz ohne Sinn und Verstand

und ohne jegliches Rhythmusgefühl.

Den Vorwurf "Bist Du nicht mehr ganz dicht?!"

könnte er bejahen –

aber er ist wohl mittlerweile

in so einer Art Trance –

nicht mehr ansprechbar.

 

Es ist nichts Weltbewegendes –

dennoch zelebriert er diese Wasser-Folter genial perfide.

Beim nächsten Tropfen ist es

zwei Sekunden später – oder aber auch vier –

das ist eben das Spannende,

dass er sich da gar nicht so genau festlegt.

Man könnte Wetten darauf abschließen –

man könnte aber auch das Werkzeug holen –

allen voran die Stichsäge, Räumaxt und Schaufel –

aber man kommt auf den verwegenen Gedanken,

dass man das allein durch mentale Kraft

beeinflussen, abstellen könnte.

 

Selbst Superhelden würden so einem Wasserhahn

erbarmungslos unterliegen.

Die Nerven liegen blank –

er hat leichtes Spiel.

Die Ruhe sieht angerostet aus –

man macht sich da nichts vor.

Keiner hat die Ruhe weg,

wenn in der näheren Umgebung

ein zutiefst boshafter Wasserhahn

stoßweise nassforsche Bemerkungen ausspeit;

keine große Ausbeute –

nur gerade so viel, dass seine unnachgiebige Kontinuität

einen geradewegs in die Weißglut-Hölle befördert.

Ja, er hat's drauf –

er hat sogar schon Angebote aus der Hölle,

sie hätten da exzellente Verwendung für ihn.

Tolles Jobangebot –

könnte er auch demnächst annehmen,

sobald ich ihn aus dem Waschbecken gerissen habe.

Aber noch zögert man; man ist ja kein Unmensch.

Oder doch? Wie sähe Gegen-Folter aus?

Was könnte man ihm antun?

Fiese Pläne brütet man aus.

 

Einem kommt in den Sinn,

dass die ganz Welt

eine einzige Gedanken-Folter-Fabrik ist.

Überall hämmert, rumpelt, wuselt, knistert es –

der tropfende Wasserhahn hat einen Auftrag –

 er ist ein Herold der Apokalypse.

Er erledigt das

ohne den bombastischen Auftritt eines Wasserfalls –

er macht das ganz diskret –

fast wie ein Profi-Killer, sehr subtil,

ein Folterknecht von Format.

Es nötigt einem sogar Bewunderung ab;

wenn man seine besten Feinde auch so piesacken könnte?

Man gleitet ins Diabolische hinüber.

Rachsucht ist geweckt; an wem es auslassen?

Man wollte doch schon immer mit der ganz Welt hadern.

Beste Gelegenheit, Wahnsinn zum Schnäppchenpreis!

Kein Erbarmen –

das hat er mit dem Ticken der Uhr gemeinsam –

sie machen einfach so weiter, nichts hält sie auf –

die Garde des Grauens.

 

Okay, man könnte auch den Klempner anrufen –

aber man bevorzugt DIY – Do it yourself –

aber man tut ja nichts,

man starrt nur diesen Wasserhahn an.

Ein Gedanken-Duell. Wer gibt eher nach?

Leider hat einen da

der Wahnsinn bereits mehrfach eingeholt;

der Wasserhahn ist gegen solche Widrigkeiten gefeit,

ihm macht das alles nichts aus.

Tropfen, lecken – stört ihn alles nicht, dass er defekt ist.

Ihn juckt es nicht. Bewundernswert solche Gelassenheit;

man könnte von ihm lernen.

Man selbst hat auch so einige Defekte,

die man nicht einfach so abstellen kann; 

man darf nur nicht darauf achten,

sonst spielen sie

in der Tropfenden-Wasserhahn-Liga mit.

Vielleicht will er einem was beibringen,

offeriert Trainingseinheiten?

Man sollte mit ihm sprechen,

sich von ihm unterweisen lassen.

Was ist stoische Ruhe schon wert,

wenn sie nie einem ernsthaften Test unterworfen wurde?

Der tropfende Wasserhahn ist so ein Testgelände –

man muss es mit ihm aufnehmen,

man muss ihn seelisch niederringen!

Irgendwo war doch die Gleichgültigkeit.

Hat die jemand gesehen?

Nie da, wenn man sie braucht.

 

Ja, man könnte weggehen, das Feld räumen,

ihm alles überlassen!

Oder man übt sich in der Kunst des Ignorierens.

Aber man blickt immer wieder vom Buch auf;

er reißt einen zurück in die Welt des Übels,

der Beharrlichkeit, der unnachgiebigen Automatismen,

man verkommt in ihrem Räderwerk,

sie zermalmen, zerdrücken einen!

Okay, das wird jetzt kafkaesk.

Ob es helfen würde, wenn man ihm einen Namen gäbe?

Persönliche Ansprache des Wasserhahns?

Flehen und Anschreien hat wahrscheinlich mehr Erfolg,

wenn das eine persönliche Note hat.

Ich könnte ihn Wassili nennen.

Gute Idee. Damit bin ich schon einen Schritt weiter.

Makes my day.

 

Überall undichte Stellen – das Weltall porös.

Wahrscheinlich will mir Wassili nur sagen:

"Ich bin nicht ganz dicht."

Ja, und damit steckt er alle

in seiner unmittelbaren Umgebung an.

Hochinfektiöser Gegenstand!

Ich frage mich,

ob es wirklich ein gutes Training für die Psyche ist.

Dieses Widrigkeits-Training wirft sie völlig aus der Bahn,

sie ist dem Tropf-Tropf nicht gewachsen,

sie würde die weiße Fahne freudigst schwenken,

wenn es denn was nützen würde.

 

Es wird weitergeschossen – mit kleinen fiesen Tropfen,

die sich gar nichts dabei denken,

die ganz unschuldig durchs Becken laufen.

Sie wundern sich auch gar nicht,

dass sie so vereinzelt sind;

wo bleibt der Rest der Truppe?

Ist doch ungewöhnlich,

dass nur ein einziger Tropfen herausquillt,

sich auf die Reise macht zum PLOPP-Geräusch!

Da! Schon wieder. Klang es diesmal anders?

Nuancen des Plopps. Man kann es merken,

mitkriegen, wenn man wachsam genug ist.

Ein Konzert in e-Moll wäre denkbar –

Vorzeichen fis aka fies.

Wassermusik, Tanz der wahnsinnigen Tropfen,

die Tropfen-Gang und ihre Opfer.

Ein Thriller. Ja, ein Thriller wär durchaus drin.

Überlegenswert. Gibt man klein bei?

Ruft man den Klempner-Notruf?

Welcher Schaden wäre anzugeben?

Die Wohnung ist trocken. Das Ärgernis ist winzig.

Ein Eingeständnis

der eigenen Unfähigkeit auf mehreren Ebenen.

Voller, glatter Sieg für den tropfenden Wasserhahn.

Nein! Eine Runde stehe ich noch durch.

 

Vielleicht kann man sich Gleichgültigkeit kaufen?

Muss Alexa fragen. Kann doch nicht so viel kosten?

Oder aber man lässt sich

die Ohren mit Wachs versiegeln –

heißes Wachs kann nicht so schmerzhaft sein,

wie das Eingeständnis,

dass man es nicht mit ein paar Tropfen aufnehmen kann.

Oder ein edler Tropfen?

Möglichst gleich ein ganzes Dutzend davon.

Könnte helfen.

Tropfen mit Tropfen besiegen. Ich bin genial.

Mit gleichen Waffen zurückschlagen!

Oder wäre das Betrug? Gedanken-Doping?

Wie sind die Regeln bei diesem Wettkampf?

 

Ich reiße das Waschbecken heraus.

Wenn schon, denn schon.

Man muss auf Nummer sicher gehen.

Dieses perfide Waschbecken

soll niemandem mehr etwas zuleide tun!

Hah! Das hat gesessen. Noch so ein Hammerschlag.

Oder den Baseballschläger?

Das wird es sich gut merken,

mit wem es sich hier anlegt,

mit wem es das hier zu tun hat!

 

Mein Badezimmer sieht schlimm aus.

Und ich habe das Gefühl,

dass ich die Tropfen dennoch weiterhöre –

in meinen Gedanken, sie haben sich da reingeschlichen,

haben sich unabhängig gemacht vom Waschbecken,

vom Wasserhahn, von allem!

Auf zum Seelenklempner.

Steter Tropfen höhlt den Stein der Weisen.

 

ENDE

 

Impressum

Cover: https://pixabay.com/de/photos/tippen-wasser-wasserhahn-frisch-1937219/ https://pixabay.com/de/vectors/tropfen-gesicht-fl%C3%BCssigkeit-regen-148199/
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2021

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