"Also, Einsamkeit,
was hast Du zu bieten,
was sind Deine Qualifikationen?"
"Soll ich mich hier äußern?
Mit meinen Vorzügen prahlen?
Ich bin ein Gewinn für jede Persönlichkeit.
Das Gruppen-Ich ist auf Dauer
doch nicht das Wahre.
Stille bietet Dir so viel mehr!
Es ist ein Privileg, sich mit mir zu umgeben.
Wie teure Mode: Sie bringt Dein wahres Ich
viel schöner zur Geltung.
Nichts gegen Gesellschaft, Gemeinschaft,
Gemeinsamkeit ... aber Einsamkeit ist der Hit.
Du bringst nur Dich als Gesellschaft mit.
Eine Party für die Seele.
Ich bin ein guter Gesellschafter.
Alles Unerledigte einsammeln,
sich besinnen, sich selbst wieder einholen.
Man war sich selbst schon wieder weit voraus,
gedrängt vom Gruppen-Ich,
das sich zu so vielem genötigt sah.
Man sagt, dass Gott die Einsamkeit bevorzugt;
man muss schon sehr ruhig sein,
um über das Diesseits hinaus zu hören;
das Diesseits überdeckt, verdeckt das,
was hindurchschimmert;
fällt nur einem aufmerksamen Beobachter auf.
Ihr denkt, Euch fehlt nur etwas Ruhe,
aber es ist weitaus mehr,
ich habe mehr anzubieten
als die Abgeschiedenheit,
ich bin mehr als eine einsame Gegend.
Ich bin die Stille in Deinen Gedanken,
das Abwarten – und dabei keinen Tee trinken.
Spürst Du schon das Verlangen nach mir?
Ich weiß, Einsamkeitsbedürfnisse
sind momentan nicht so en vogue.
Das kommt wieder."
"Aber es macht einen Unterschied,
ob man sich freiwillig für Dich entscheidet
oder ob Du einem aufgenötigt wirst."
"Ja, das ist das bessere Arrangement:
Dass man sich für mich entscheidet –
mich allen anderen Gefühlen vorzieht ..."
"Du erwähnst nicht Deine Schattenseite:
Depression, Langeweile, Leere."
"Das ist wie bei einer Zugfahrt:
Man kommt nicht nur an den schönen Orten vorbei.
Ich bin eine Traumreise
mit leichten Anklängen einer Alptraumreise.
Aber wann besucht man schon
die nicht so gut besuchten Orte seiner Seele?
Du kannst Dich nur finden,
wenn Du Dich vorher verloren gefühlt hast.
Du muss verloren gehen in der Weite Deiner Seele.
Sorry, das klingt jetzt wie eine Belehrung,
aber das ist mein Hauptanliegen:
Die zu mir kommen, die belehre ich.
Ich bin ein ganz vorzüglicher Lehrer."
"Man trifft ja oft einsame Entscheidungen
ohne die Einsamkeit um Rat gefragt zu haben."
"Ja, Frechheit, ich werde einfach übergangen!
Ich habe mittlerweile ein ganz schlechtes Image,
nur weil sich die Gemeinsamkeit
so fürchterlich aufspielt:
Gemeinschaftserlebnisse ..."
"Aber es ist eine anerkannte Tatsache,
dass man beispielsweise auf einer Wippe
nicht so gut alleine klarkommt."
"Mitmenschen als Gegengewicht?
Na, Du hast ja seltsame Ansichten."
"Die Evolution hat da eine ganz klare Meinung zu:
Wir sind nicht als Einzelgänger konzipiert."
"Trotzdem würde ich gerne weiterhin die anpreisen,
die in meinem Gefolge sind: Ruhe, Stille, Frieden.
Tüchtige Begleiter, die was bei Dir bewirken können.
Du musst sie nur machen lassen,
sie kennen ihren Job.
Ja, ich bin ambivalent:
Ich vereine und verneine das Ich.
Ich verändere die Menschen.
Aber ich steigere auch
die Wertschätzung des Zusammenseins –
sie alle steigen im Wert:
die Nachbarn, die Kollegen, die Freunde,
sogar die Verwandten, man hat sie alle wieder –
als ob man von einer weiten Reise zurückkehrt –
aus einer Gegend,
in der es einen Mangel an Geselligkeit gab.
Wie ein hungriger Wanderer,
der ein Wirtshaus betritt.
Andererseits sollte man auch
Appetit auf die Einsamkeit haben.
Lass die Seele bestellen!"
ENDE
Cover: Eigenes Foto - und Bildmaterial von Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2020
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