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Avantgardismus-Kurs

Ich hab mich dem Avantgardismus ergeben; ob mir durch Zeitgeists Kraft und Mund nicht manch Geheimnis würde kund? Ihn abklopfen auf zuverlässiges prognostisches Material. Als Nostalgiker ist man ja doch sehr rückwärtsgewandt. Man ist so unzeitgemäß. Spüren, wohin es den Zeitgeist drängt. Was will er? Ihn vielleicht sogar ein bisschen manipulieren?

Ich nehme an einem Avantgardismus-Online-Kurs teil. Das ist wie Töpfern – aber Ausgangsmaterial ist die Jetztzeit: Variationen des Jetzt – sich Parallelwelten ausdenken, auch wenn der innere Nostalgiker rebelliert und rumort. Das betrifft womöglich den gesamten Charakter, totale Umwandlung. Zukunft nicht als unbestimmtes Ereignis – sondern als eine Hausaufgabe. Was macht man damit? Hat man Design-Pläne?

Andererseits sind die bisherigen avantgardistischen Bemühungen nicht wirklich vorzeigbar – es hat oft etwas Verkrampftes – originell sein müssen, Innovations-Verpflichtungen. Als Rückwärtsgewandter pflegt man die alten Bräuche, man hört Lieder, die vor 30 Jahren mal populär waren.

Der Avantgardismus verlangt vermutlich nach einer handfesten Sinnkrise – hat man die zu bieten, dann fällt es leicht, die Gegenwart und  ihre Konzepte zu verteufeln und sich auf das unsichere Terrain des Neuartigen zu wagen: das Unerprobte und Ungeprobte ... Kommt ja einer Seelen-Rundum-Erneuerung gleich. Vielleicht ist man ja tatsächlich sein eigener Seelen-Designer, mehr Künstler, als man denkt? Umdeutung des an sich Destruktiven: Chaos begreifen als Baumaterial – als ob man wie ein Kind auf einem Schrottplatz allerhand Interessantes zutage fördert.

Man ist es ja gewohnt, dass einen die Moderne mit avantgardistischen Rezepten und Ideen versorgt. Aber das sind Fertiggerichte, man will sein eigenes Süppchen kochen, auch wenn man es vermutlich völlig verhaut. Wer sagt einem, dass man als Avantgardist vorwärts gewandt ist? Vielleicht ist das ja auch nur eine Seitwärts-Bewegung? Als Avantgardist muss ich die Jetztzeit entrümpeln – genau anschauen, was wegkann. Aber ich schaffe es ja nicht einmal, meine Bücherregale auszumisten; die Bücher klammern sich aneinander, sind vom Konzept des Aussortierens überhaupt nicht zu überzeugen. Der Nostalgiker revoltiert, kriegt die Krise; die Vergangenheit bäumt sich auf. Was ist so toll an avantgardistischen Ideen? Die Welt braucht keine neuen Propheten. Man spürt die innere Blockade. Der innere Avantgardist hat einen schwierigen Stand. Er handelt mit vagen Versprechungen und heißer Luft. Nebel hat mehr Substanz.

Romain Gary meint: "Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hinwollen, aber als erste da sind." Pioniere wollen z. B. westwärts. Aber welchen Kompass nutzt so ein Avantgardist? Immer im Kreis – das scheint für den Nostalgiker gar kein Problem zu sein. Warum muss man den Zeitgeist herausfordern? Man packt den Stier ja auch nicht bei den Hörnern – man malt ihn aus der Ferne, man winkt ihm zu.

Ist ja auch anstrengend, sein Tun mit den entsprechenden Theorien zu untermauern. Von einem rechtschaffenen Avantgardisten kann man das erwarten: Er liefert gleich das passende Handbuch dazu – Dokumentation seiner Selbstreflexion. Oder ist er einfach nur verflucht – so wie die gesamte Mode-Industrie: keine Erlaubnis, stehen zu bleiben. Denn sonst holt einen unbarmherzig das Gestern ein. Deckungsgleichheit der Zukunft mit der Vergangenheit – ein Graus für jeden anständigen Avantgardisten. Dann muss man das Geisteskind benennen – aber keine Ahnung, ob es überhaupt lebensfähig ist. Meist ist es ohnehin Eklektizismus, man trennt das gar nicht ordentlich von dem Bisherigen oder den Nachbar-Erscheinungen. Mischmasch als Aufwärm-Übung. Chaos durch Kuddelmuddel ersetzen. Das ist das Schöne am Avantgardisten-Dasein: Man muss kein Experte sein, es geht auch ganz ohne Sachkenntnis. Ein Happening ist schnell inszeniert – dann pappt man einen coolen Namen drauf – und das Geisteskind kann sich sehen lassen. Ungebändigte Innovationskraft.

Cicero meint: "Kein Volk gibt es, wie ich sehe, mag es noch so fein und gebildet, noch so roh und unwissend sein, das nicht der Ansicht wäre, die Zukunft könne gedeutet und von gewissen Leuten erkannt und vorhergesagt werden." Man muss beides können: Prognose und Gestaltung der Zukunft. Also, nicht nur wissen, was einem da so entgegenkommt – es aktiv mitgestalten. Gedanken-Raumschiffe ins Morgen schicken.

Ich bin durch den Online-Kurs extrem motiviert. Was treibt einen an? Erfordert Avantgardismus Mut oder ist es einfach nur Abenteuerlust in Verbindung mit Überdruss und Langeweile? Man kann ja nichts kaputtmachen; oder doch? Was stellen die Geisteskinder an? Ist man als Erbsenzähler gleich aus dem Rennen? Schafft man als Bürohengst diesen Parcours? Der Avantgardist geht ein Bündnis ein mit der Kreativität. Was aber, wenn er sie nicht wieder loswird? Reflexionen ohne Ende. Man verirrt sich im Spiegelkabinett des Denkens. Kontemplations-Overkill. Im Bereich der Musik hat der Avantgardismus ja furchtbar gewütet: Die Harmonien wurden hinausgeprügelt, die Disharmonien sind ganz groß im Geschäft. Ist Schönheit ein Maßstab? Der Avantgardist ist da sehr rigoros, es schert ihn nicht besonders, was da alles auf der Strecke bleibt – wie ein wild gewordener Friseur stutzt er seine Kunden zurecht, einige haben wilde Mähnen – haarsträubende Sache.  Wenn sich alles in Auflösung befindet, fühlt er sich am wohlsten. Er hantiert mit lauter losen Fäden; denkt aber gar nicht daran, die wieder zu verweben. Auflösung als Happening-Show, er kann sich dafür begeistern.

Es ist ja zunächst immer ein "Gegen" – gegenangehen, das Bisherige ist der Feind – einfach, weil es da ist und die Gegenwart repräsentiert. Ein rotes Tuch für jeden anständigen Avantgardisten. Das Eingängige, Simple hat für ihn was Provokatives – es sind für ihn allenfalls Grundbestandteile – so etwas wie Essens-Reste für einen Meisterkoch. Er macht was draus – und wehe, dem Publikum schmeckt das nicht – aber das schmeckt denen fast nie ... Der Avantgardist will ja die Ablehnung, ist wütend, wenn ihm der Protest verweigert wird. Sonst hat er sein Ziel verfehlt. Das ist ihm Versicherung, dass er erfolgreich war: der Grad der Empörung. Man will ja Rücksicht nehmen – man liebt die Harmonie ... Aber ein Avantgardist muss den inneren Bürokraten bis zur Weißglut reizen, ist ihm ein Herzensbedürfnis.

Eigentümlicher Widerspruch: Einerseits heißt man die Avantgarde willkommen, begrüßt sie – andererseits findet man fast all ihre Erscheinungsformen seltsam bis absonderlich – ja, meist sind sie einem zuwider. Aber da ist dieses Versprechen, dieses Verheißungsvolle, was da mitschwingt. Soll heißen: Neuerung, Erneuerung, Erbauung, Talentschmiede des Zeitgeistes. Was schmiedet der Zeitgeist denn da so? Hat die Evolution das in uns eingepflanzt: diesen Wunsch nach Erneuerung – völlig planloses Handeln, einfach aus dem Bedürfnis nach was anderem? Verlangt der Charakter danach – ist das eine nötige Zutat?

Immerhin bewirkt dieser Online-Kurs, dass ich ins Grübeln komme. Die Zukunft nimmt breiten Raum in meinem Denken ein, macht es sich bequem, schaut sich in der Gegenwart 'ne Weile um. Sie ist neugierig, was man mit ihr vorhat. Sie schaut sich die vorläufigen Pläne und Skizzen an. Einiges sagt ihr zu, aber meist ist sie entsetzt. "Geht gar nicht! Kommt gar nicht in die Tüte", sind ihre häufigsten Sätze. Ist sie kooperationswillig? Man will ihr ja nichts aufzwingen. Wie ein Pferd, das man ja auch höflich fragt, ob man mal 'ne Runde reiten darf. So plaudert man mit der Zukunft, derweil die Vergangenheit schmollt. Sie fühlt sich vernachlässigt; der innere Nostalgiker ist eingeschlafen. Warum hat man diese Pionier-Bestrebungen? Eine Welt ohne Avantgardisten? Wäre die besser dran? Ist ein bisschen auch wie Meinungsdiktat – der Menge vorschreiben, wo es ab jetzt nun langgeht. Meinungsführerschaft – wer setzt sich an die Spitze, wer leitet den Treck? Früher verlangte man, dass diejenigen göttlichen Auftrag hatten, jetzt ernennt sich jeder selbst zum Selfmade-Pionier und -Wegweiser. Offenbar geht es auch ohne Offenbarungen. Wobei Visionäre mit tollen Visionen ungemein populär sind. Wie hoch ist der Überzeugungs-Gehalt? Szenarien entwerfen ... Als Hobby-Avantgardist ist man ungebunden, in den Ideen nicht beschränkt. Zugang zur Options-Kammer – aufzuschließen mit dem Schlüssel der Imagination.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2020

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