Im Supermarkt sprach mich eine Ananas an; okay, sie hatte etwas Ansprechendes; aber für gewöhnlich haben Ananasse doch Sprechverbot in Bezug auf Menschen. Was also sollte das?
"Ich kämpf mit meiner Bedeutungslosigkeit", klagte sie. "Hast Du schon von der Goldenen Ananas gehört? Wenn es um gar nichts geht, wenn nichts auf dem Spiel steht: Das wird in Verbindung gebracht mit meiner Familie. Wir Ananasse hätten auch gerne Klasse."
Sie sah in der Tat recht betrübt aus. Was sollte man da machen? Sie ignorieren, weitergehen? "Willst Du in meinen Einkaufswagen? Geht es darum?"
"Ach, Ihr Kunden wollt doch immer nur das eine. Übrigens, ich heiße Anna."
Ich wollte ihr die Hand reichen, stellte aber rechtzeitig fest, dass sie sowas nicht hat – und schüttelte stattdessen ihren Schopf.
"Immerhin beachtet mich jemand."
"Ich könnte mir eine Piña Colada zubereiten. Mit Strohhalm aus einer Ananas trinken."
"Hört sich lecker an – aber aus Obst-Sicht auch etwas barbarisch."
"Du bist es doch, die mich angesprochen hat."
"Früher waren Ananas in Europa was ganz Besonderes. Jetzt sind wir genötigt, die Kunden auf uns aufmerksam zu machen. Früher wäre ich so viel wert gewesen wie eine Kutsche."
"Von Kürbissen ist mir bekannt, dass sie sich zuweilen in Kutschen verwandeln. Willst Du Dich in eine Kutsche verwandeln? Hier vor allen Leuten?"
"Käme mir nicht in den Sinn. Aber jetzt, da Du es ansprichst ..." Sie gab sich alle erdenkliche Mühe, sich in eine Kutsche zu verwandeln. "Und ...? Echt krass die Veränderung, oder?" Ihre Blätterkrone zitterte ein wenig – ansonsten konnte ich keine Veränderung feststellen. Im Knigge fehlt ein Abschnitt für den richtigen Small Talk mit Obst. Man gilt schnell als unsensibel ... Wie gelingen einem fruchtbare Gespräche mit einer Frucht?
"Also, Anna", hub ich an, "Wert bemisst sich ja nicht immer nach der Veränderungsfähigkeit."
"Da ist die Evolution aber anderer Ansicht! Sich immer schön anpassen, mitgehen. Der Zeitgeist ist keine Modeerscheinung oder ein Modezar ... Gerade für Pflanzen gilt: beweglich bleiben – absolute Agilität!"
Ich blickte sie erstaunt an. Völlige Verkennung der Sachlage und ihrer Möglichkeiten. Aber galt das nicht auch für mich? Man spannt den Rahmen immer sehr weit, hortet ein Übermaß an Optionen – kann sich kaum entscheiden – und stellt dann ernüchtert fest, dass man nie echte Alternativen hatte.
Andere Kunden wollten mich zur Seite drängen, man behauptete, dass ich den Obststand nicht gepachtet hätte. "Sorry! Wir sind hier mitten im Gespräch", klärte ich sie auf. Die Ananas pflichtete mir bei. Schön, wenn man argumentative Schützenhilfe erhält. "Sie ist etwas depressiv", fügte ich hinzu, da man mich weiterhin mürrisch ansah. "Hier geht es um die Goldene Ananas und die Bedeutsamkeit von alltäglichen Gegenständen."
"So alltäglich bin ich nun auch wieder nicht", korrigierte mich Anna, "immerhin bin ich eine Abgesandte Deines Unterbewusstseins. Hab hier eine Menge Messages vorliegen, das müssen wir alles noch abarbeiten. Es gibt die Goldene Himbeere und den Goldenen Windbeutel – Negativpreise. Hinweis darauf, dass man etwas exzellent vermasselt hat."
"Ich spüre negative Schwingungen." Ich ging einige Schritte von ihr zurück – und krachte in ein empörtes Regal. Rückwärtsgehen ist bei mir immer mit solchen Konsequenzen verbunden.
Ich kaufte die übrigen Zutaten für Piña Colada: weißen Rum, Sahne, und Kokosnusssirup.
Anna wartete auf mich. "Etwa auch noch ein Cocktailschirmchen? Höhepunkt des Schmachvollen." Sie war in ihre ursprüngliche Melancholie zurückgefallen. "Bloße Zutat für einen Cocktail. Echt jetzt? Mehr ist nicht drin? Das soll's gewesen sein? Das ist ja kein sehr fruchtbringendes Gespräch mit Dir. Ich will einen anderen Kunden! Hallo, hört mich denn keiner?" Sie winkte wie verrückt – kullerte allerdings nur auf den Boden. Ich war es nicht gewohnt, dermaßen von meinem Obst runtergemacht zu werden.
"Vielleicht geht es bei allen Kämpfen im Leben nur um die Goldene Ananas? Alles im Grunde unwichtig, unerheblich? Oder sollte man sich seine Energie für die wirklich wichtigen Dinge im Leben aufheben?"
"Apropos, könntest Du mich aufheben? Man liegt hier doch sehr unappetitlich neben all dem Unrat."
Ich fragte, ob ich die Ananas günstiger erhalten könnte, da es sich ja um ein beschmutztes Exemplar handle; vollbesudelt mit Dreck. Ich bat die Ananas, sich noch ein wenig auf dem Boden zu wälzen, was sie auch tat, nachdem ich ihr etwas Hilfe meines Fußes zuteilwerden ließ. Man gab mir einen satten Rabatt – und die Ananas wanderte in meinen Einkaufswagen.
"Unverschämtheit! Wie man hier behandelt wird; dermaßen respektlos; mit den Füßen getreten. Zum Cocktail bestimmt. Ich fühl mich beschmutzt ..."
Sie hörte gar nicht mehr auf mit dem Klagen. Was erwartete sie sich vom Leben? Sie versuchte, sich mit den übrigen Waren im Einkaufswagen anzufreunden, Kontakte zu knüpfen, Verbündete zu finden. Aber der Käse und die Milch waren zu keiner Revolte bereit. Sie lagen recht lustlos im Wagen, träumten so vor sich hin. Eine Ananas als Anstachler, Aufwiegler. Sie sieht ja etwas stoppelig, struppig aus.
"Was betrachtest Du mich so nachdenklich? Welche kranken Pläne brütet Dein krankes Hirn jetzt wieder aus?", wollte sie von mir wissen.
Die Kassiererin wollte sich in unser Gespräch nicht einmischen; sie sah besorgt zu ihren Kolleginnen hinüber. Ein wenig ratlos.
"Die Ananas heißt Anna; sie ist heut nicht so gut drauf", trug ich zur Klärung der Sachlage bei. Die Kassiererin nickte wissend. Sie meinte: "Ja, die fühlen sich bei uns alle sehr wohl, wollen gar nicht raus aus dem Geschäft. Andererseits, wer will schon gerne sein Leben als Ladenhüter fristen?"
Das gab Anna zu denken; sie schien nun entschlossener, ihrem bisherigen Leben den Rücken zuzukehren – und sprang auf das Band an der Kasse – sprang aber mit ein wenig zu viel Schwung und ... enteilte aus dem Laden. Unglaublich. Sie türmte tatsächlich. Ein Verkehrschaos – man versuchte ihr auszuweichen. Kinderwagen stießen ineinander; Hunde wichen erschreckt zurück. "Jagdsaison für entflohene Ananas", sah ich schon in Gedanken als Headline in der Zeitung. Aber sie schien es sich überlegt zu haben. War es Reue, der Entschluss, es doch mal als Piña Colada zu versuchen? Anna drängte geradezu in meinen Jutebeutel, als sei sie ein müdes kleines Känguru, das zurück in den Beutel wollte.
"Ausflug beendet?"
"Die Ananas war meines Wissens nie in Abenteuergeschichten involviert. Der Apfel ist omnipräsent. Gleich zu Anfang sein grandioser Auftritt als 'Verbotene Frucht'. Das hat was. Unsereins liegt im Regal herum, kann sich zufriedengeben mit einer Rest-Existenz als Cocktail-Zutat."
"Willst Du mir etwa ein schlechtes Gewissen einreden?"
"Könnte ich das? Wäre das zu schaffen? Warum muss ich so köstlich sein? Ich würde beinahe selbst gerne etwas von der Piña Colada trinken. Oder hätte das was Kannibalisches?"
"Das sind doch extrem philosophische Fragen; sowas besprichst Du am besten mit dem Rum, der ist für Hochgeistiges hier zuständig." Sie sprach tatsächlich den Rum an; sie vertraute, glaubte mir. Eigentlich etwas naiv. Aber der Rum antwortete ihr tatsächlich. Nun war es an mir, ein wenig erstaunt zu sein; welche möglichen Erklärungen boten sich hier an? Am besten befragt man die Betroffen selbst.
"Hast Du auch irgendwie Angst vor einem Negativpreis?", wollte ich vom Rum wissen.
"Nein, wieso? Sollte ich das? Hab mich in letzter Zeit nicht so damit beschäftigt." Er schämte sich, so unwissend zu sein.
"Wollen wir rummachen?", wollte Anna von ihm wissen. "Die ist ja doch ein ganz schönes Luder", kam es mir in den Sinn.
"Als Rum liebe ich das Rumhängen; meist irgendwo im Regal chillen, rumsitzen, zuweilen rumbrüllen, schauen, wen man rumkriegen kann ... " Er hörte gar nicht wieder auf. Das ging immer so weiter. Als ob da jemand ein Rumfass verdammt schlecht angestochen hätte. Mit was ich mich alles rumschlagen musste. Verdammt! Er hatte mich damit angesteckt!
Rumms! Ich knallte gegen eine Ampel. Das Ampelmännchen sah mich verwundert an. Dann wechselte es plötzlich seine Farbe; das war unheimlich. Man ist viel zu selten in der Grünphase. Man befindet sich viel zu oft in seiner Rotphase. Ich sollte ebenfalls schön grün sein. Ich müsste dazu nur das Ampelmännchen befragen. Jetzt aber wollte der Rum, dass ich mich ihm wieder zuwende. Nichtbeachtung scheint für Gegenstände ein größeres Problem zu sein, als allgemein vermutet.
"Ich bin zu Ausbildung bei einem Guru", klärte ich ihn auf, "wir machen da so Sachen wie Aufmerksamkeits-Training. Kann sein, dass ich das etwas übertrieben habe – und den Dingen ein klein wenig zu viel Aufmerksamkeit zukommen lasse. Ich muss die Empathie besser dosieren; die Empathie-Menge ist wohl entscheidend. Allumfassendes Interesse führt nur zu sprechenden Ananassen, die zudem auch noch behaupten, dass sie in der Lage seien, auch Deine tieferen Gefühlsebenen perfekt spiegeln zu können. Als ob sie ernstlich Botschaften meines Unterbewusstseins hätte."
"Hab ich wohl!", trumpfte Anna sogleich auf. Ihren Botschafter-Status wollte sie wohl nicht so schnell aufgeben. Das Ampelmännchen forderte mich auf, ihr Kontra zu geben.
"Wie lange wollen wir hier noch rumstehen?", erkundigte sich der Rum. "Ich sollte für Rumor sorgen. Das ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen."
Ich versuchte, den Rum aus dem Jutebeutel zu zerren. Als wenn das irgend so ein Sprengsatz wäre. Die Passanten beäugten mich misstrauisch, wichen auch zurück. Da ich mitten auf der Straße stehen geblieben war, hupten ein paar Ungeduldige. Huperei konnte ich noch nie leiden und dementsprechend fiel meine Antwort aus: gestreckter Mittelfinger. Anna fands witzig. Fand bei den Autofahrern aber keinen Zuspruch. Man kann's nicht allen recht machen.
Ich fragte das Ampelmännchen, ob es mitkommen wolle; an sich hatte es Lust, war aber irgendwie an sein Aufgabengebiet gebunden. Geht es uns nicht allen so? Man kann sich immer schwer loseisen. Die Pflichten halten einen zurück.
Die Ananas versuchte, wieder zu entkommen – aber es war ein ungünstiger Moment – sie wurde von einem BMW erwischt – plattgemacht. Als Piña Colada wäre es ein würdigeres Ende gewesen. Der Rum war todtraurig.
Und die Sahne meinte nur: "Es ist nicht alles erste Sahne im Leben. Der Moment ist das Sahnehäubchen Deines Lebens – jeder Moment", philosophierte sie.
Es war dringend Zeit, mein Aufmerksamkeits-Training zu überdenken bzw. meinen mentalen Fokus neu zu kalibrieren. Der Geist ist dieses Ausmaß an Geistesgegenwart nicht gewohnt; er kommt ins Schleudern, versucht, mit den Dingen Kontakt aufzunehmen, die allerdings wohl lieber vor sich hinschlummern, gar nicht mit solchem Ausmaß an Bewusstsein in Berührung kommen wollen. Das endet nicht gut. Ich sah auf Anna – und fühlte mich mitschuldig. Der BMW-Fahrer wusste nicht so genau, was ich von ihm eigentlich wollte, und was ich ihm da genau vorwarf.
"Wer ist Anna?", wollte er von mir wissen, dabei klebten noch die Reste von ihr an seinem Reifen. Ich legte den Kassenbon zu ihr; fand ich irgendwie passend. Der Rum wollte noch einige Abschiedsworte sagen – aber da waren wieder diese unverschämten Hupen. Ich setzte mich in den BMW und fuhr eine Runde Autoscooter wie auf dem Rummelplatz.
Man erlebt mit Achtsamkeit weitaus mehr, als wenn man gedankenlos den Tag verbringt. Aber nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen. Es sei denn, man trinkt die Piña Colada eher. Das mag über vieles hinweghelfen.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2020
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