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Vom Bergsteigen

An sich ist es ja immer gut, wenn man viele Optionen hat. Das Leben zwingt einem oft Entscheidungen auf. Oder sich einfach gar nicht lange bedenken und ein Mann der Tat sein? Fehler korrigiert man en passant – oder wahlweise auch im Nachhinein. Was soll's? Heißt ja ohnehin: "Der Mensch denkt, Gott lenkt." Dann doch gleich per Gottvertrauen sich durchs Leben wuseln. Ist man entscheidungsfreudig? Müssen die Entscheidungen lange warten, bis sie dran sind? Was gibt den Ausschlag? Auf wen hört man? Auf den Bauch? Das Bauchgefühl soll ja eine phänomenale Trefferquote haben; wobei das Gehirn da den einen oder anderen Einwand hat. Logik vs. vages Gefühl. In Notsituationen ist es ratsam, sich schneller als gewöhnlich zu entscheiden. Da baut man oft den größten Blödsinn. Unüberlegtes Handeln – Hunderttausende Jahre Evolution wie weggewischt, das hat nicht mal Reptil-Niveau; man kann solche Entscheidungen nicht allein dem Reptiliengehirn überlassen. Aber Helden zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie ultraschnell – und unter extremsten Stress – agieren. Das nötige geistige und körperliche Equipment … quasi auf die Situation vorbereitet sein – weil sie nur eine Spielart des Gelernten und Eingeübten ist. Man kennt sich aus. Es heißt: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Aber gilt das auch für Gottvertrauen? Wie viel Vorarbeit sollte man leisten? Alles Menschenmögliche tun – und dann schlichtweg auf ein Wunder hoffen? Oder das Wunder eher hinzubitten? Eine Wunder-Ungeduld. Wie bei diesem Witz:

 

Ein Bergsteiger rutscht plötzlich aus und kann sich gerade noch an einem winzigen Felsvorsprung festhalten. Als seine Kräfte nachlassen, blickt er verzweifelt zum Himmel und fragt: "Ist da jemand?"

"Ja."

"Was soll ich tun?"

"Sprich ein Gebet und lass los."

Der Bergsteiger nach kurzem Überlegen: "Ist da noch jemand?"

 

"Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um." Aber nicht alle Akrobaten und Draufgänger gehen drauf. Man kann sich als Free-Solo-Kletterer durchs Leben hangeln – oder man benutzt zig Sicherungshaken. Situationen möglichst vermeiden, in denen man alleine nicht klarkäme; man setzt also gewissermaßen immer auf sich. Es erweitert natürlich die Möglichkeiten, wenn man als Team unterwegs ist. Im Grunde der Beginn der Zivilisation – jeder ist für andere Aufgaben und Bereiche zuständig, man ergänzt sich, man ist ein funktionsfähiges Team. Wie ein neuer Organismus: Auch die Zellen haben auf ihre Eigenständigkeit verzichtet – im Verbund sind sie fast unschlagbar. Man schlägt sich besser durchs Leben. Und das ausweiten in den Jenseits-Bereich – sich Experten ins Team holen, die Kenner der Materie sind. Denn vom Standpunkt des Diesseitigen macht Vieles ja einfach keinen Sinn. Erläuterungen, Anmerkungen sind dringend erwünscht. Man versucht natürlich, sich immer im eigenen Kompetenz-Bereich aufzuhalten – aber wenn man Teil eines Teams ist, ist der Horizont auf einmal wesentlich größer. Ein Bergsteiger, der als Free-Solo-Künstler unterwegs ist, ist auf Planung angewiesen. Wenn man sich gegenseitig sichert, können einem die Kapriolen des Wetters nicht so viel anhaben. Man kann dem Zufall besser Paroli bieten; man ist einfach besser aufgestellt. Andererseits bietet die Gefahr einen gewissen Reiz, man will es sich nicht mit ihr verscherzen, man verdankt ihr Nervenkitzel, Thrill; sich bewähren. In Momenten der Gefahr hat man die Chance zu ungewöhnlich rascher Entfaltung, Weiterentwicklung des Selbst. Man wächst mit der Gefahr. Eine Menschheit im Paradies wäre vermutlich keinen müden Schritt vorangekommen. Der Wunsch nach Erkenntnis – das Essen der verbotenen Frucht – brachte die Gefahr ins Spiel: Sie erschien auf der Bühne, um – aus ihrer Sicht – dem Menschen ein bisschen unter die Arme greifen zu können. Gottvertrauen lernt man nicht im Paradies. Man ist als Team unterwegs.

Menschheit besteigt einen Berg – kann sein, dass es der Olymp ist. Immer schön, wenn auf die Frage "Ist da noch jemand?" jemand einem zuruft: "Aber sicher doch." Leute, auf die man sich verlassen kann. Müssen keine Freunde sein – ein Team ist etwas anderes; man hat einen Aufgabenbereich – man nutzt die Synergieeffekte. "Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um." Man könnte auch sagen: Das alte Ich stirbt in Krisensituationen; man geht verändert aus so einer Krise hervor. Nietzsche meint: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker." Resilienz entwickeln, das Immunsystem der Psyche stärken. Verbale Fights wie ein Mental-Wrestler bewältigen. Loslassen können – aber ausgerechnet dann, wenn man am Felsvorsprung hängt? Man soll ja nicht so klammern ... Aber jeder braucht etwas, woran er sich festhalten kann. Bei Linus, von den Peanuts, ist es die Schmusedecke. Man hat Lieblings-Vorstellungen, Lieblings-Thesen, mit denen man die Welt meistert. Man würde die ungern entlassen. Sie färben den Charakter in charakteristischer Weise. Kann man auch süchtig sein nach bestimmten Ansichten? Dann prallen Weltsichten aufeinander, wie zwei Ziegenböcke, die doch ziemlich verbockt sind.

Wie bekommt man inneren Halt? Wie haltbar sind Vorsätze, gute Absichten? Kann man Gefühlen Einhalt gebieten – oder braut sich da ein wütender Dämon-Sturm zusammen? Wie ist die innerseelische Wetterlage? Man könnte es mit einem Bergaufstieg vergleichen: Man turnt im Seelen-Bergmassiv herum, immer in der Hoffnung, eines Tages doch noch den Gipfel erreichen zu können – die vage Vorstellung von einem Ideal-Ich leitet einen; aber zeitweise hat man das Gefühl, man stiefelt geradewegs bergab. Wer ist da in der Seilschaft? Hat man fähige Team-Mitglieder? Güte, Ausdauer, Jähzorn ... eine bunt gemischte Truppe. Selbst im Traum nimmt man die Dinge sehr ernst; man könnte sich zumindest dort einfach fallenlassen. Gott sagt in dem Witz: "Sprich ein Gebet und lass los." Er scheint über eine fähige Schutzengel-Truppe zu verfügen. Und auch als Sendboten sollen Engel sehr zuverlässig sein – berichtet zumindest die Bibel. Als Kind hatte man das Gefühl, dass einen die Eltern – egal, was passieren würde – auffangen würden. Ein Akrobat, der den Salto mortale wagt. Wäre schön, wenn dieses Gefühl der Sicherheit wieder vorhanden wäre – aber man misstraut der Welt. Wie ein Bär, der festgestellt hat, dass in seinem Wald unverhältnismäßig viele Fallen aufgestellt sind. War bei Adam und Eva das Gottvertrauen dahin? Menschheit wird erwachsen – und empfindet das Universum als immer unwirtlicher. Auch wenn die Science-Fiction-Filme einem weismachen wollen, dass da haufenweise bewohnbare Planeten seien. Eines Tages muss die Menschheit den Planeten Erde loslassen, sich quasi in den Weltraum fallen lassen. Ist zu hoffen, dass wir bis dahin ein Team sind. Bisher läuft das ja doch sehr unkoordiniert.

 

ENDE

 

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Cover: Der Bergsteiger-Witz ist von dieser Seite: https://www.programmwechsel.de/lustig/logik-philosophie.html
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2020

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