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Rätsel

Allzu viel Mysteriöses hat die Weltgeschichte bisher nicht vorzuweisen; oder ist unser Vorgehen zu rational? Kaum seltsame Ereignisse dabei; wenn man sich da durchklickt als Zeitreisender; es trieft nur so von Banalem. Das freut die Wissenschaftler, aber den inneren Mystiker entsetzt das geradezu. Es trieft vor Blut, man watet durch Grausamkeiten; aber Rätsel, die es an Rätselhaftigkeit mit dem Universums-Rätsel aufnehmen könnten, sind rätselhafterweise kaum dabei. Als ob es auf dieser Ebene, den unteren Etagen, nichts Seltsames im Angebot gäbe. Nur im Obergeschoss wird heftig über die Ontologie gestritten, es geht um Deutungshoheit; was will das Universum? Will es enträtselt werden? Ziert es sich? Ein Kaufhaus der Merkwürdigkeiten – aber die Regale sind kaum gefüllt. Und wenn man dann doch was einpacken will, kommt ein Wissenschaftler daher und packt das schnell in die Abteilung für gelöste Fälle. "Ist nicht absonderlich. Nur das Übliche in etwas anderer Aufmachung." Es ist zum Verzweifeln. Man ist auf der Pirsch, man stellt den Rätseln nach – man kommt sich vor sie ein übereifriger Ghostbuster – aber alle Gespenster wurden von der Wissenschaft umerzogen; es gibt keinen Spuk, nichts, was in andere Dimensionen hinüberreichen würde, auch wenn einige Theoretiker von 10 oder 11 Dimensionen sprechen, die sie unbedingt für ihre Theorien benötigen. Verzweifelt und ausgehungert stürzt man sich auf Verschwörungstheorien, bevor die einem auch noch geklaut werden, bevor sich der nüchterne Verstand sich ihrer annimmt – und das war's dann mit dem Rausch des Mystikers – kein Stoff für ihn. Verbannt in ein kaltes, durch und durch logisches Diesseits, dem nicht mal der Hauch von Mystik und Rätselhaftigkeit anhaftet. So wird man verwiesen aufs Welt-Rätsel, kann daran herumdoktern, sich seine Gedanken machen.

Unser Universum liebt die Logik, ist ganz vernarrt in sie. Magie wird kaum geduldet – es scheint so, als ob die Magie jedes halbwegs gute Rätsel nutzen würde, um dort in Erscheinung treten zu können, etwas hervorzulugen. Sie scheint uns heftig zuzuwinken, aber der Wissenschaftler in uns übersieht das geflissentlich. Sie ist ganz enttäuscht; sucht Anlässe. Muss ja kein Ouija-Board sein, keine Séance, aber etwas Aufmerksamkeit wäre nett; statt ihr ständig von vorneherein 'Unmöglichkeit' zu attestieren. "Du bist unmöglich!" Eines Tages glaubt sie das noch – das war's dann mit der Magie und den Rätseln – wenn sie keiner braucht, kein Bedarf da ist, dann verschwindet so etwas vom Seins-Markt. Dann soll doch die Ratio siegen – sie, mit ihrer Verbündeten, der Logik.

Warum vermisst der Mensch das Mysteriöse? Als wenn es eine Zutat seiner Seele wäre. So wie eine Pflanze nicht nur Wasser benötigt; sie freut sich auch über etwas Dünger. Das Wasser des Lebens scheint nicht genug zu sein; Magie ist wohl mehr als ein Gewürz, sie ist eine essentielle Zutat. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – er will sich seine Gedanken machen können, will nicht, dass sämtliche Geheimnisse schon offenbart sind, das ist so, als ob beim Adventskalender jeweils schon alle 24 Türen geöffnet sind. Logik hat was Entweihendes; sie wischt gnadenlos alles beiseite, was nicht konform geht mit methodisch sauberem Denken. Die Logik will es schlüssig, sonst knallt sie die Tür zu. Da ist sie konsequent. Aber Magie hat etwas Ungenaues; sie ist da eher wie ein Nebel; sie will sich zunächst auch gar nicht genauer festlegen. Vielleicht hat sie was gemeinsam mit Fuzzy-Logik? Das Ungefähre, das Angedeutete, noch nicht Sichtbare, noch nicht ganz erschienen im Diesseits, zwischen den Welten stehend; ein Fuß noch in der Tür – im Haus der Möglichkeiten; unentschlossen, ob der Betrachter sie zu sich einlädt. Sie hat es nicht so mit dem Entweder-Oder.

'Erkenne Dich selbst' – eigentlich will man ja, dass diese Aufgabe nicht zu bewältigen ist; man will es der Ratio so schwer wie möglich machen; man will unergründlich sein, rätselhaft, fähig, sich selbst zu überraschen – ein Zauberer sein, dem weitaus mehr zu Gebote steht, als die bloße Logik zu bieten hat. Man will aus mehr schöpfen als aus dem Gefäß der Logik. Im Grunde wäre man enttäuscht, wenn die Welt durch und durch und ganz solide aus purer, reiner Logik aufgebaut wäre. Sie wäre schrecklich profan. Sehnsucht nach Charisma – man wünscht es dem Universum.

Vielleicht ist das auch eine Sache der beiden Gehirnhälften – die linke, rationale Seite soll nicht triumphieren über die rechte, Fantasie-begabte. Und Geheimnisse, Rätsel eignen sich wunderbar, um die Fantasie-Maschinerie in Gang zu bringen; sie hat ja sonst gar keinen Anlass. Man will spekulieren – nicht unbedingt an der Börse; Gedanken-Börse – welche Ideen erleben eine Hausse, welche schickt man auf Talfahrt? Die Welt der Optionen, nicht der Options-Scheine.

Zum Beispiel das Voynich-Buch – es gibt keine schlüssige Erklärung, man schickt die Fantasie auf Reisen, ins Land der Optionen. Welche Souvenirs bringt sie mit? Sie hätte ja sonst keinen Anlass für diese Reise, das Rätsel ist ihr Ticket. Eine von Rätseln befreite Welt – das ist der heimliche Alptraum der Fantasie; gänzlich allein mit der Logik – wie ein besserwisserischer Kollege, der sie nun gar nicht mehr zum Zug kommen lässt. Magie braucht das Rätselhafte. Sie ist geradezu dankbar für hingeworfene Rätsel-Brocken – aber Sudoku und Co. sind wie Fleischersatz-Produkte oder wie ein Kauknochen. Echte Rätsel, Unerklärliches ... Vielleicht lesen die Menschen deshalb gerne Krimis? Es geht nicht nur um Spannung, es geht um unbefriedigte Rätsel-Sucht. Der Mensch ist ein Rätsel-Süchtiger. Alles in ihm ist angelegt auf den Beruf als Mysterien-Detektiv. Wie ein Schlittenhund unbedingt laufen will. Wenn erst Cyborgs und Alexa-vernetzte Gehirne ihrer Logik-Lust frönen – ein Eldorado für jede Logik – und die Magie wurde ausgeknipst, abgeschafft, entsorgt, beiseitegeschafft. Sie ist kein Genauigkeits-Fanatiker – mag sein, sie passt nicht mehr in diese Welt; sie ist unexakt, sie hält sich immer mehrere Möglichkeiten offen, kann sich super schwer entscheiden, sie ist ein Options-Jongleur. Das Denken ist für sie keine Einbahnstraße – und meist auch kein Highway oder Datenhighway. Sie stromert so durch die Gegend, ihre Suche ist gänzlich anders; sie ist ein Suchender, weil sie die Suche an sich mag.

Vielleicht sind die Mythen vor allem ein Denk-Gebäude? Sie dienen als Gedanken-Gerüst; es wird anschaulicher; es denkt sich schwer im rein Abstrakten – man will etwas auf der mentalen Leinwand sehen, man braucht mentale Bauklötze; vorgefertigte Elemente – Versatzstücke … Das alles liefern die Mythen – man kann sich in sie hineindenken, man kann sie nutzen, es ist Arbeitsmaterial. Und der Bau-Auftraggeber, das sind die Rätsel – man will ein entsprechendes Gebäude errichten, eine Antwort finden ... Mittels Analogien, Vergleichen – anpassen, umbauen, angleichen – aber man hat Material, man ist Bauherr.

So ähnlich wie bei der Mnemotechnik: Man macht Gegenstände fest an entsprechenden Orten – sei es, dass man geistig durch einen Park geht oder durch eine Tempel-Anlage. Vielleicht sind wir die Suchhunde des Universums? Auf Rätsel angesetzt, wir schlagen an, sobald wir ein Rätsel entdeckt haben. Jeder Jagdhund wäre todunglücklich, wenn es nichts mehr zu jagen gäbe; kein Hoch- oder Niederwild. Mag sein, die künftigen Cyborgs kommen mit der Situation prima zurecht – Logik-Enthusiasten, die auch noch das letzte bisschen Magie verscharren, verbuddeln. Ein unergründliches Lächeln – z. B. wie das von Mona Lisa – unerforschlich, unergründbar, geheimnisvoll – das alles passt der Logik nicht; man könnte ihr eine gewisse Oberflächlichkeit vorwerfen; sie mag es nicht, wenn etwas in der Schwebe gehalten wird, sie will ihm einen Stups in Richtung Eindeutigkeit geben. Das Sibyllinische soll abdanken. Das Rätselvolle ist aber der Urgrund jeder Fantasie. Logik ist kein guter Erfinder. Als Team leisten sie bessere Arbeit: Die Fantasie bringt jede Menge Erfindungsreichtum mit; man sollte ihr ihre Arbeitsbedingungen lassen. Sie ist ein super Kollege.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.01.2020

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