Ab wann sind Fremdwörter nicht mehr fremd? Ab wann sind sie einem vertraut, vollwertige Mitglieder des Wortschatzes? Ein Hauch von Exklusivität. Noch nicht ganz so abgegriffen wie die üblichen 2000 Wörter, auf die man ständig zurückgreift, auf die man sich aber verlassen kann, sie sind sofort zur Stelle, einsatzbereit; unterstützen einen bei jeder Rede; aber sie genügen eben nicht. Manchmal muss es mondäner ein, gewaltiger. Warum der Minimalismus? Aus dem Vollen schöpfen. Aber die Fremdwörter verramschen? Auch sie neigen irgendwann zum Phrasentum, als ob sie sich bei den Allerwelts-Wörtern angesteckt hätten; ihr Nimbus geht flöten. Prekäre Lage – eben noch ein Novum, jetzt schon Ware von vorgestern. Modewörtern graut es davor, in Omas Klamottenkiste zu landen. Sie geben sich cool, sie sind hip ... Aber sie können ihren Status quo nicht beibehalten.
Die 2000-Wörter-Bande kann sich sicher sein, dass sie im Einsatz bleibt. Fremdwörter benehmen sich zuweilen voll daneben, richtige Enfants terribles, schreien "I bims" und tragen sich dreimal täglich neues Charisma auf. Sie tun so, als mache es ihnen nichts aus, wenn man sie mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie gänzlich unanschaulich seien, nichts Bodenständiges. Dann heißt es, man sei xenophob, greife auf das Urtümliche zurück – diese ausgelutschten Wörter. Dann trifft einen als Sprecher auch noch der Vorwurf des Dilettantismus, dabei sind sie es doch, die zuweilen völlig dysfunktional in den Zeilen verweilen. Fremdwörter tun so, als seien sie ein Stoßtrupp, eine Schickimicki-Avantgarde; aber haben sie die Courage, sich den Allerwelts-Wörtern zu stellen? Sie weichen aus, verweisen auf das große Ganze, sie antizipieren die Zukunft, tragen sie in sich ... und man glaubt ihnen; man hat den Eindruck, sie tragen einen mit sich, der Denk-Horizont ist plötzlich unermesslich weit ... Man braucht Worte, die einen tragen, wie ein Transportmittel; ein Fahrrad ersetzt keinen Hundeschlitten; man braucht das passende Werkzeug. Prekär wird es nur, wenn die Fremdwörter Party feiern, sich mit Pseudo-Freunden abgeben, ins Angeber-Milieu abrutschen. Wie soll man da reüssieren? Und auf die Frage "Quo vadis?" geben sie dummdreiste Antworten. Man sollte sie besser erziehen.
Aber es ist wahr, sie transzendieren das Hergebrachte, sind voller Versprechungen, suggerieren einem, dass das Kontemplativ-Vermögen einen ins Reich der Magie bringt. Fremdwörter als Ticket in die Unermesslichkeit. Dabei sind sie sehr oft kontraproduktiv, man erntet nur fragende Blicke, sie haben es nicht so mit dem Gemeinverständlichen. Zuweilen sind sie auch maliziös – sie lassen einen Gedankenreiche bauen, sie locken einen immer weiter in das Reich des Abstrakten, immer tiefer in den Wald des Unkonkreten. Sie benötigen nicht den Kontext des Realen, da stehen sie drüber. Bei ihnen ist alles Meta-: Metadaten, Metaebenen ... Sie wollen die Metamorphose. Aber will man metamorph sein?
Zuflucht zu den Allerwelts-Wörtern, sich erden, das Reich des Unterbewusstseins: Es liebt das Anschauliche, die Simplizität des Hochkomplexen. Es hat es gerne bildhaft, lebensnah. Das Bewusstsein spaziert gerne in den Fremdwörter-Park, es findet es dort arkadisch, es kommt dort auf andere Gedanken, als ob eine Basketball-Mannschaft plötzlich neue Team-Mitglieder hätte, Verstärkung. Vielleicht gelingt ihnen der große Wurf. Faible für komplizierte Spielzüge. Okay, manchmal wird es kafkaesk, man verrennt sich ... Aber neue Worte sind so etwas wie neue Inseln, wie bewohnbare Planeten im Universum – man kann sich auf die Reise machen und immer findet man Unterstützung, geistige Nahrung. Die Wissenschaft kann mit einer 2000-Wörter-Mannschaft nicht weit segeln – 500.000 hört sich schon besser an. Kolonisation von Terra incognita. Den Dialog mit dem Universum suchen, Fremdwörter als Dolmetscher.
Manche Fremdwörter desertieren, sie sind für die Show gemacht, aber im Zweifelsfall ist man doch besser bedient mit einfachen Worten: "Haltet den Dieb!" – klingt griffiger als "Der Kleptomane ist eine Persona ingrata – bringt seine Machenschaften zum Scheitern!" Aber wollen die Fremdwörter überhaupt oft verwendet werden – vielleicht sind sie ja so etwas wie eine Spezial-Truppe, die für ihren großen Auftritt Erholungs-Phasen nötig hat? Oder – provokanter formuliert – wie eine Diva, die sich gerne rarmacht, da sie sonst um den Effekt fürchtet. Fremdwörter als Effekthascher? Ein schwerer Vorwurf. Sie geben sich gerne disruptiv – Erneuerungs- und Heilsbringer – sie erfinden das Morgen neu, erklären dem Schicksal, dass es unterbelichtet sei ... Mit seiner Simplizität erschrecke es nur die Wahrheit. Sie seien auf dem Weg, auf der Pilgerfahrt zur Erleuchtung – und nicht so eine Spar-Beleuchtung wie das Bisherige. Dünkel in Perfektion.
Was kann man mit Fremdwörtern alles anvisieren: Kein Ziel scheint zu weit entfernt, alles scheint nur eine Sache der Feinjustierung zu sein – hier und da die Wörter in die richtige Stellung bringen, zurechtrücken – voilà, der Brückenkopf in neue Dimensionen ist fertiggestellt. Fremdwörter als Ingenieure, die den Turmbau zu Babel endlich ermöglichen. Sie lassen sich nicht verwirren, sie wissen, was sie an sich haben. Sie lassen sich nicht ins Bockshorn jagen – für sie ist die Welt ein Gerichtsprozess, bei dem es nur darum geht, durch die Wahl der richtigen Worte den Fall zu gewinnen. Es geht hier nicht um Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Unwahrheit – es geht um Rhetorik, der Welt erklären, wie sie funktioniert, dem Universum als Berater zur Verfügung stehen und das Chaos deuten. Deutungshoheit erlangen – darauf kommt es an.
Neologismen sind kein Prêt-à-porter – maßgefertigt für den Moment, sie tragen ihre Wahrheit in sich – Wahrheit-to-go. Sich selber die Worte münzen – man ist immer zahlungskräftig, solvent. Schweigen ist Insolvenz. Die Rhetorik rät zur Akquise von Fremdwörtern – sie dürfen sich ab sofort bewerben. Guter Leumund ist nicht Voraussetzung. Es gibt auch Aufbau-Programme, Trainingslager für angehende Fremdwörter. Willkommen in der Neologismen-Truppe!
Der Rhetorik wird oft vorgeworfen, dass sie eine Waffe sei, die man auf alles abfeuern könne; andererseits ist sie auch ein Schild. Retourkutschen sind ihr Ding. Wörter sind zwar keine Elementarteilchen – aber wir könnten keine sehr hohen Gedankengebäude bauen ohne ihre Mithilfe. Der Turm zu Babel – den muss wohl jeder selbst errichten – oder man türmt eine Pyramide aus Erfahrungen, bekommt so einigermaßen den Überblick. Vor dieser Verantwortung nicht türmen.
Aber es wäre schon großartig, wenn man eine Koryphäe auf dem Gebiet der Selbsterkenntnis werden könnte. Im zweiten Lehrjahr lernt man dann die Selbstbeherrschung und Selbstbeeinflussung. Hätte was. Aber vermutlich ist man sich selbst wohl so etwas wie ein Fremdwort. Im Anfang war das Wort – hoffentlich kein Fremdwort.
ENDE
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Tag der Veröffentlichung: 21.08.2019
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